Martin Hohmann kommt im schwarzen Kurzmantel, seine Frau in Grün, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Sie grüßen und lachen, als sie den Weg hinaufgehen zur Kirche St. Michael in Neuhof. Gleich, in der Messe, wird der Kaplan Schmitt von Vergebung sprechen und ein kleines Mädchen bei den Fürbitten den Herrn, unseren Gott, anrufen, er möge dafür sorgen: "Dass die Mächtigen und Starken sich immer ihrer Verantwortung bewusst sind." Da sitzt Martin Hohmann, der verstoßene Abgeordnete der CDU, mitten unter den Neuhofern. Als Opfer der Starken und Mächtigen, die an ihm ein Exempel statuiert haben, das die Menschen hier schäbig finden und unchristlich vor allem. Denn hatte er nicht um Vergebung gebeten? Hat er keine zweite Chance verdient, wie etwa der Jude Michel Friedman? Und der, so sagt ein Veteran der osthessischen CDU, hat mit Taten gesündigt und nicht nur mit Worten.
Sie werden ihn nicht verstoßen
In Neuhof werden sie den Abgeordneten Hohmann nicht verstoßen. Er ist einer von ihnen. Zwischen Kirche und Aussegnungshalle, wo sie nach der Messe das neue Ehrenmal für die Toten der Kriege einweihen, rücken sie ganz dicht um ihn zusammen, damit ihn der Fotograf ("einer von den Geiern") nicht erwischen kann. Die Neuhofer tragen die Fahnen der Vereine, die Uniformen von Freiwilliger Feuerwehr und Bundeswehr. Das Blasorchester spielt die Nationalhymne, der Chor singt. Fackeln leuchten im Nebel. Die Bürgermeisterin, Maria Schultheis, gedenkt der Toten - so, wie sie es hier immer getan haben: erst der Soldaten, dann der zivilen Opfer von Kriegshandlungen, womit wohl die Bombentoten gemeint sind, dann der Vertriebenen, dann erst der Opfer von Gewalt und Verfolgung und ganz zuletzt der Widerstandskämpfer. Auf der neuen Gedenktafel steht: "Sie starben ihre Heimat beschützend und liegen zerstreut in den Ländern und Meeren der Erde." Niemand fragt, wo und warum überall die Heimat geschützt werden musste. Für Duckmäusertum und deutschen Geschichtsmasochismus - aus Neuhofer Sicht Obsessionen der Linken - ist dies nicht der Ort.
Der Frühnebel ist ins Tal zwischen Kirche und Kalibergwerk gezogen, von wo nachts ein großes Kreuz leuchtet. Neuhof hat Martin Hohmann wieder; die katholische Gemeinde sowieso, und dass die CDU ihn nun auch noch aus der Partei ausschließen will - "damit tut sie sich keinen Gefallen", wie die alte Bäuerin Anna sagt, die sich gut daran erinnert, dass man in ihrer Jugend den "einen richtigen Judd" nannte, der den anderen übers Ohr gehauen hat. Es geht längst nicht mehr darum, wie antisemitisch Hohmanns Äußerungen zum 3. Oktober waren. "Ob bei der Oktoberrevolution ein Jude mehr oder weniger dabei war", interessiert selbst CDU-Nachwuchsleute wie Christoph Bornkessel von der Jungen Union wenig. Bornkessel will wieder über Politik reden, über die Rente, die Steuer und das Unheil, das Rot-Grün über unser Land bringt. Aber bis es so weit ist, müssen noch viele Wunden vernarben. In Neuhof geht es an diesem Sonntag - dem Heldengedenktag, pardon: Volkstrauertag - um Nächstenliebe; also um das, wozu anderswo Solidarität gesagt wird. Um Solidarität mit Martin Hohmann.
Hohmann fühlte sich als Freiwild
Um 15.45 Uhr an seinem schwarzen Freitag, dem Tag des Rausschmisses, rollt er mit ICE 277 aus Berlin auf Gleis 4 in Fulda ein. Noch auf dem Bahnsteig erntet er von einem Passanten den ersten Zuspruch. Seine Frau ist mit dem Familien-Astra gekommen, er übernimmt das Steuer und fährt nach Hause. Durchschnaufen, Ruhe finden. Es waren schlimme Tage für ihn in Berlin, der Jäger Hohmann fühlte sich als Freiwild.
Neuhof ist da der beste Schutz. Auf die Neuhofer kann er zählen. Beim Faschingsauftakt, wenige Stunden nach Hohmanns Heimkehr, tanzen junge Leute in derben Kleidern zu Klängen aus "Bonanza" und der Shiloh-Ranch. Die Wagenburg wird geschlossen. "Alle klatschen in die Hände, keiner ist allein", singen die "Cassandras" auf der Bühne. Als der Abend schon ein wenig fortgeschritten ist, übernimmt Prinzessin Heidrun V., eine Dame im lila Kostüm, ihr neues Amt und damit die Herrschaft über den Ort. Was die Bürgermeisterin freut, denn nun, sagt sie und hält es für einen Scherz, "bin ich die Presse los, und du hast sie am Hals". Dann sagt sie noch etwas, worüber auch keiner wirklich lachen kann: "Wir sind jetzt nicht mehr braun, wir sind jetzt lila."

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Nicht alle haben Hohmanns Rede beklatscht
Braun waren die Neuhofer auch vorher nicht. Als 1933 die Deutschen den Nazis zujubelten, wählte die Mehrheit der Osthessen das katholische Zentrum. Auch Namen jüdischer Opfer stehen auf den waagerechten Tafeln des neuen Denkmals. Längst nicht alle haben Hohmanns Rede beklatscht; der ganze Mann ist vielen suspekt. Auch früher schon, so erinnern sich manche, hat er Sachen gesagt - na ja. Nur bleibt die Kritik indifferent und undurchsichtig wie der Nebel.
Ein klares Wort zur deutschen Verantwortung für den Holocaust; zu dessen historischer Einmaligkeit? Von Bürgermeisterin Schultheis ist es am Mahnmal nicht zu hören. Von "grässlichen Dingen" spricht sie, die geschehen seien. Mehr nicht. Geht es nicht etwas deutlicher? Am Samstag, als Hohmann daheim in Neuhof bleibt, hat die osthessische CDU beim Bezirksparteitag in Fulda Gelegenheit, klar Stellung zu beziehen. Im Kolpinghaus stehen fünf Tischreihen; je zwölf Stühle an jeder Seite. Vorn auf der Bühne hocken die Beschwichtiger, der mächtige Fraktionsvorsitzende Franz-Josef Jung aus dem Landtag, der örtliche Parteipatriarch Fritz Kramer, der heute Ehrenvorsitzender werden soll, und sein Nachfolger Doktor Walter Arnold, verheiratet, katholisch, drei Kinder, Oberst der Reserve.
Tag-der-Einheit-Unsinn
Sie haben sich abgesprochen. Auch von ihnen hält keiner den Rausschmiss Hohmanns für richtig, aber da müssen sie jetzt durch. Arnold, der ebenso klug wie schneidig ist und wahrlich kein Antisemit, spricht die ernsten Dinge aus: "Es gibt keinen Platz für radikale und extreme Positionen in der CDU." Und: "Es darf keine falsche Solidarisierung mit dieser Rede geben." Kramer, weise und weißhaarig, soll an die Gefühle appellieren - dosierte Kritik an den Oberen, menschliches Mitgefühl für Hohmann. Jung gibt den bösen Buben; den, der Hohmann am deutlichsten attackiert. Er sagt, der Abgeordnete habe sich selbst ins Abseits gestellt, weil er sich nicht eindeutig von seinem Tag-der-Einheit-Unsinn distanziert habe. Am Ende strahlt Jung. Gut gelaufen. Gerade mal drei kritische Wortmeldungen und ein paar verdruckste Zwischenrufe. Alles friedlicher als gedacht. Revolutionäre sind die osthessischen Parteichristen nicht gerade.
Auf dem Flur des Kolpinghauses erlaubt sich der 75-jährige Lothar Wyrtki den Luxus der freien Rede; auch drinnen schon hat er sich tapfer zu Wort gemeldet. Die Jungen, sagt er, die, die noch etwas werden wollten, die hätten alle Angst. Er nicht. Er war 30 Jahre lang CDU-Bürgermeister. Ihm kann keiner. Also: "Ich verstehe nicht, welcher Teufel die Merkel geritten hat." Sie, die Protestantin, hat Hohmann die Vergebung verweigert. So sehen sie es hier. Mindestens. Einer, Emil Schwalbach, ist da noch ein wenig deutlicher - und er war es auch, der sich im Saal traute loszuschimpfen, was dann die Beschwichtiger mit eingezogenem Kopf über sich ergehen ließen. "Es ist, als stünden alle im Kreis", keift der Mann von der Seniorenunion. "Und alle zielen auf einen." Ist das christlich? Der alte Herr lässt seine Wut auf die Berliner heraus: "Vergib ihnen nicht, denn sie wissen genau, was sie tun."
“War das Führungsschwäche?“
Da ist der Beifall dann doch etwas dünner als bei den übrigen Sympathieadressen an Hohmann. Aber ein wenig reicht die Wut auf Merkel bis in die Reihe der Beschwichtiger. Fritz Kramer, reich beschenkt mit Wein und Blumen, gefeiert mit dem Ehrenvorsitz, sagt nach dem Parteitag: "Das Thema Martin Hohmann hat jeden so erdrückt, dass die Lust an anderen Themen erstorben ist." Schön wäre es gewesen, wenn die Bundesvorsitzende vor ihrer "Meinungswende" wenigstens mit den Osthessen gesprochen hätte - "aber das hat sie nicht". Frage an den alten Profi: War das Führungsschwäche, Herr Kramer? "Das hören Sie von mir nicht."
Arnold, der neue Hoffnungsträger, weiß, dass Hohmann und die Folgen ihn noch lange beschäftigen werden. "Wenn Sie in die Kneipe gehen", sagt er, "da hören Sie schreckliche Sachen: Juden raus und so etwas." Als neuer Bezirksparteichef will er keinen Zweifel an seiner Haltung lassen: "Wer den Holocaust relativiert, verlässt die Grundlagen der CDU." Nicht nur Arnold wird viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Bald ist Bundesparteitag, und da könnte es kämpferischer und weniger obrigkeitstreu zugehen als im Kolpinghaus.
Nichts ist geklärt
Nichts ist geklärt. In der CDU nicht und in Neuhof nicht. Wie geht es da weiter 2006? Was passiert, wenn Hohmann als parteiloser Kandidat zur Bundestagswahl antritt? Alles Spekulation, Kaffeesatzleserei, nicht aktuell, beschwichtigt Arnold. Aber wenn es dazu kommen sollte, will er dagegenhalten: "Wir werden alles daran setzen, dass ein CDU-Abgeordneter diesen Wahlkreis einnimmt."
Hinter der Kirche St. Michael besichtigt Martin Hohmann scheinbar gelassen nach der Feierstunde am Ehrenmal die neuen Gedenktafeln. Er duckt sich nicht weg, auch als die Kamera surrt. Er ist wieder in der Stadt. Das hier ist Hohmann-Country.