Die FDP hat hoch gepokert und gewonnen. Der kleine Koalitionspartner der Union schlug sich im Ringen um einen neuen Bundespräsidenten auf die Seite der Oppositionsparteien SPD und Grüne und unterstützte deren Kandidaten Joachim Gauck. Ein Schachzug gegen die Königin, der das ganze Brett hätte umwerfen können. Zunächst sperrte sich die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel dagegen - dann gab sie zur allgemeinen Überraschung nach.
Eine späte Genugtuung für SPD und Grüne, die den DDR-Bürgerrechtler Gauck schon 2010 als Gegenkandidaten zu dem am Freitag zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff aufgestellt hatten. Wulff brauchte damals drei Anläufe, um ins Amt gewählt zu werden.
Der sichtlich bewegte Gauck kündigte an, er wolle den Deutschen vermitteln, dass sie "in einem guten Land leben, das sie lieben können". Er sagte auf der Pressekonferenz nach der Kandidatenfindung im Kanzleramt am Sonntagabend, er sei kein "Supermann" und müsse sich die Vorschusslorbeeren erst verdienen. Er sei überwältig und verwirrt. Der Anruf der Kanzlerin habe ihn im Taxi erreicht, sagte der aus Rostock stammende und jetzt in Berlin lebende Pastor. Bei der Annahme der Kandidatur für das Staatsoberhaupt habe ihm unglaublich geholfen, dass die Koalition, SPD und Grüne sich zusammengefunden hätten. An Merkel persönlich gerichtet sagte Gauck, das Wichtigste für ihn sei immer gewesen, dass sie ihm Vertrauen und Hochachtung gezollt habe.
Mit ihrem Einlenken, das in der Union nicht erwartet worden war, sprang Angela Merkel dem Vernehmen nach über einen sehr großen Schatten. Denn immerhin kann dies als Eingeständnis gelten, dass die Kanzlerin im Sommer vor zwei Jahren mit Wulff eine falsche Entscheidung traf. Andere sprechen von Größe, die Merkel nun bewiesen habe.
Die Koalition stand auf der Kippe
Bei den Verhandlungen über einen parteiübergreifenden Kandidaten am Sonntag im Kanzleramt hatte die Koalition kurzzeitig auf der Kippe gestanden, berichteten Mitstreiter von Union und FDP. Die FDP-Spitze schickte in einer Verhandlungspause der Kanzlerin das unmissverständliche Signal, Gauck zu unterstützen. Die Union funkte zurück: Mit uns nicht. Und mit Merkel nicht. Seit ihrem Bestehen war die schwarz-gelbe Koalition noch nicht so nah am Scheitern.
Kaum einer hätte geglaubt, dass Merkel am Abend dann eine 180-Grad-Drehung macht. Möglicherweise hatte die Kanzlerin mehr als Deutschland im Blick. Inmitten der schweren Euro-Krise, wo viele EU-Staats- und Regierungschefs auf die Kanzlerin schauen, hätte eine Regierungskrise auch noch im stärksten Land der Europäischen Union zusätzliche tiefe Verunsicherung auslösen können.
Hätte sich die FDP ohne die Union mit SPD und Grünen auf Gauck geeinigt, hätte Merkel die Freien Demokraten im Grunde aus der Regierung werfen müssen. Hätte die Union sich mit SPD und Grünen auf auf einen anderen Kandidaten - ohne Zustimmung der FDP - verständigt, hätten die Liberalen wohl das Feld räumen müssen.
Die FDP spricht den Bürgern aus der Seele
Am Samstag, dem Tag eins nach dem Auszug der Wulffs aus dem Schloss Bellevue, hatte alles noch ganz rosig ausgesehen. CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne hatten als gemeinsamen Wunschkandidaten den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, gefragt, ob er Staatsoberhaupt werden möchte. Der 48-Jährigen oberste deutsche Richter erbat Bedenkzeit - und lehnte ab.

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Nach enttäuschter Aufbruchstimmung sei die schwarz-gelbe Koalition dann in ihr inzwischen typisches Verhaltensmuster zurückgefallen, hieß es in Unionskreisen. Und zwar in ein nerviges Gezerre, das Taktik über Inhalt stelle.
In der FDP hatte es am Sonntagabend geheißen, es gebe bei Gauck kein Zurück mehr. Die Zeit der Demütigung durch die Union müsse ein Ende haben. Parteichef Philipp Rösler, drohende Wahlpleiten im Saarland und Schleswig-Holstein vor Augen, kämpft auch um sein eigenes Überleben. In einer Präsidiumsschalte sagte er laut Teilnehmern: "Man kann ein Amt oder eine Wahl verlieren, aber nie seine Überzeugung. Huber ist Schwarz-Rot, Töpfer Schwarz-Grün und Gauck bürgerlich-liberal." Röslers offensichtliches Kalkül: Mit Gauck spricht die FDP den Bürgern aus der Seele. Das die Partei sich am Ende durchsetzen konnte, bezeichneten Liberale hinterher als "Meilenstein" für die Partei.
Dennoch dürfte das Hickhack vom Sonntag das Vertrauen in der Koalition weiter beschädigt haben. Im Bundestag stehen wichtigste Beschlüsse über die Milliardenhilfe für Griechenland an, die insbesondere in CSU und FDP kritisch gesehen werden. Merkels Freude über ihre einstige Wunschkoalition mit der FDP dürfte am Sonntag weiter geschwunden sein.
Für den Kandidaten fand sie nach dem Machtkampf lobende Worte. Merkel sagte, sie verbinde mit Gauck vor allem die gemeinsame Vergangenheit in der DDR. Für Gauck habe sich der Weg von der Kirche in die Politik von fast alleine ergeben. Ihn zeichne aus, ein "wahrer Demokratielehrer" geworden zu sein. Merkel betonte, Gaucks Lebensthema sei die "Idee der Freiheit in Verantwortung". Dies verbinde sie als Ostdeutsche - "bei aller Verschiedenheit" - mit Gauck. "Unsere Sehnsucht nach Freiheit hat sich 1989/90 erfüllt." Der 73-jährige frühere DDR-Bürgerrechtler sei ein "wahrer Demokratielehrer", der wichtige Impulse für Globalisierung, die Lösung der Schuldenkrise und mehr Demokratie geben könne.