Längere Laufzeiten Atomkompromiss entzündet heißen Herbst

Die Regierung feiert ihre Einigung auf längere AKW-Laufzeiten beim Energiegipfel als Revolution, doch der Widerstand rollt mit Macht an: Die Opposition droht mit einer Verfassungklage, Atomgegner mit Riesen-Demos.

Während die schwarz-gelbe Regierungskoalition ihr in der Nacht zu Montag vorgelegtes Energiekonzept als epochal und weltweit einmalig feiert, bahnt sich im Kampf um längere Laufzeiten der Atomkraftwerke ein heißer Herbst an. Am Montag drohte mit Nordrhein-Westfalen ein weiteres Land mit einer Verfassungsklage, falls die Regierung den Bundesrat bei der geplanten Verlängerung um bis zu 14 Jahre zu umgehen versucht. Atomgegner kündigten massive Proteste an.

In der Nacht zum Montag hatten sich die Spitzen von Union und FDP auf eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke von durchschnittlich 12 Jahren geeinigt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bewertete das neue Energiekonzept mit Milliarden-Finanzspritzen für mehr Ökostrom als Revolution: "Unsere Energieversorgung wird damit die effizienteste und auch die umweltverträglichste weltweit." Auch aus Sicht von FDP-Chef Guido Westerwelle wurde eine Entscheidung von "geradezu epochaler Bedeutung" getroffen. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) erklärten, das Zeitalter der erneuerbaren Energien werde eingeläutet. Zu den ersten Gewinnern gehörten die Atomkonzerne Eon, RWE & Co.: Ihre Aktienkurse legten kräftig zu.

Atomkompromiss: Die Ergebnisse

Nach monatelangen Verhandlungen hat sich die Bundesregierung auf ein Energiekonzept bis 2050 geeinigt. Darin werden nicht nur die längeren Atomlaufzeiten festgelegt, sondern auch der Weg hin zu einer Versorgung mit erneuerbaren Energien.

Atom:

Die Laufzeiten werden um durchschnittlich 12 Jahre verlängert. Die sieben bis 1980 ans Netz gegangenen Anlagen bekommen acht Jahre mehr, die zehn jüngeren AKW 14 Jahre. Dadurch erhöht sich die von Rot-Grün beim Ausstieg festgelegte Regellaufzeit von 32 auf 40 bis 46 Jahre. Das könnte - je nach Produktion der Anlagen und Strommengenübertrag von stillgelegten Meilern - Atomkraft in Deutschland bis 2040 oder sogar 2050 bedeuten.

Zahlungen

: Die Konzerne müssen eine neue Atomsteuer zahlen, die dem Bund von 2011 bis 2016 fast 14 Milliarden Euro für die Haushaltssanierung bringen soll. Für den Ausbau der Öko-Energie sollen sie zusätzlich eine Sonderabgabe von insgesamt 1,4 Milliarden in einen neuen Ökostrom-Fonds zahlen. Von 2017 an, wenn Steuer und Abgabe ausgelaufen sind, sollen sie langfristig bis zu 15 Milliarden Euro aus ihren Laufzeit-Gewinnen für den Fonds abgeben.

Windkraft:

Über die Staatsbank KfW wird vom nächsten Jahr an der Ausbau von Windparks in der Nordsee gefördert. Die Genehmigungsverfahren werden vereinfacht. Um den Windstrom von der Küste in die Ballungszentren zu bringen, will die Regierung den Ausbau der Leitungsnetze beschleunigen. Dafür will sie nächstes Jahr ein Konzept "Zielnetz 2050" vorlegen.

Kohle:

Bei der Stromgewinnung aus Kohlekraftwerken soll die Technik zur Abscheidung und unterirdischen Speicherung des Klimakillers Kohlendioxid (CO2)vorangetrieben werden. Bis 2020 soll es zwei Modell-Kraftwerke geben. So sollen Klimaziele besser erreicht werden.

Energieeffizienz:

Hier will die Regierung mit intelligenten Stromnetzen und mehr Anreizen für Verbesserungen sorgen. Um Verbraucher und Wirtschaft beim Energiesparen zu unterstützen, wird beim Wirtschaftsministerium ein "Effizienzfonds" eingerichtet. Laut Umweltministerium lässt sich durch mehr Effizienz bis zu 50 Prozent Energie sparen.

Kontrolle:

Die Regierung will die Fortschritte beim Umbau der Energieerzeugung fortlaufend von Wissenschaftlern prüfen lassen. Alle drei Jahre soll es ein "Monitoring-Verfahren" geben.
(DPA)

"Ein Geschenk für die Konzerne"

SPD-Chef Sigmar Gabriel warf Union und FDP Käuflichkeit vor. "So dreist ist in Deutschland noch nie der Eindruck erweckt worden, Politik sei käuflich. Die haben Geld geboten - und die anderen haben danach Gesetze gemacht." Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin erwartet, dass die Energiekonzerne bis zu 100 Milliarden Euro an Zusatzgewinnen machen. "Die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ist kein Kompromiss, sie ist ein Geschenk für die Konzerne RWE, Eon und Co."

Während der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Entscheidung zu den Laufzeiten als wichtigen Baustein des Energiekonzepts wertete, sprach die Branche der Ökostrom-Anbieter von einer Farce. Der Bundesverband Erneuerbare Energien warf der Bundesregierung vor, die marktbeherrschende Macht der Stromkonzerne zu zementieren. Damit werde ein fairer Wettbewerb auf dem Strommarkt auf Jahrzehnte hinaus verhindert. Der Windenergie-Verband hielt Schwarz-Gelb vor, das Potenzial der gesamten Windenergie als Klimaschützer Nummer 1 zu "verschleudern".

"Schwarzer Tag für Deutschland"

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace sprach von einem "schwarzen Tag für Deutschland". Durch 12 Jahre längere Laufzeiten würden rund 6000 Tonnen mehr Atommüll anfallen.

Bereits am übernächsten Samstag (18. September) werden in Berlin Zehntausende zu einer Anti-Atomkraft-Demonstration erwartet. Dann soll auch das Regierungsviertel symbolisch umzingelt werden. Darüber hinaus sind auch in vielen anderen Städten Kundgebungen geplant. Ende April hatten schon 100.000 Atomkraftgegner mit einer 120 Kilometer langen Menschenkette zwischen den Meilern Brunsbüttel und Krümmel gegen die Atompolitik von Schwarz-Gelb demonstriert.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Bundesrat-Frage beschäftigt Juristen

Die Koalition will die Laufzeitverlängerung ohne den Bundesrat durchsetzen. Sie sei guten Mutes, dass die Atomentscheidung bei einer möglichen Klage Bestand haben werde, sagte Merkel: "Wir glauben, dass dieses Gesetz zustimmungsfrei gemacht werden kann." Seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen verfügt Schwarz-Gelb im Bundesrat über keine Mehrheit mehr. Nun könnte der Streit um die Verlängerung der Laufzeiten zu einer juristischen Auseinandersetzung werden: Bereits seit Monaten tobt ein Papierkrieg über die Frage, ob für längere Laufzeiten die Zustimmung der Länder notwendig ist oder nicht.

DPA · Reuters
fw/DPA/Reuters