Seit dem 25. Januar sind jetzt, Moment, eben mal nachzählen, 53 Tage vergangen. Mehr nicht. Es ist immer noch Winter. Aber es ist anders. Diese 53 Tage haben nicht die Welt verändert, das nicht, aber die deutsche Sozialdemokratie. Und zwar grundlegend, jedenfalls stimmungsmäßig. Von - Pardon, aber wir befinden uns schließlich im Lutherjahr - verkniffenärschig zu fröhlich und lautstark trompetend. ER hat es gerade wieder gesagt, ganz am Ende seiner offiziellen Nominierungsrede auf dem SPD-Parteitag in Berlin: "Ich will Bundeskanzler werden."
Als Martin Schulz diesen Satz vor wenigen Wochen zum ersten Mal hinausposaunt hatte, da haben noch alle den Atem angehalten und gedacht, na ja, muss er ja sagen, aber ne Nummer kleiner täte es auch. Inzwischen ist der große Anspruch des eher schmächtigen Mannes aus Würselen in den Bereich des sehr gut Möglichen gerückt. ER wirkt, um nur mal ein paar Attribute zu nennen: "neu", "quirlig", "kraftvoll", "unverbraucht" und "dynamisch". Und ER ist: ein "leidenschaftlicher Redner" mit einem "ausgeprägten Gespür dafür, was bei den einfachen Leuten ankommt". Liest sich wie aus einer Werbebroschüre des SPD-Ortsvereins 04575 Lobstädt. Stammt aber aus einer Analyse der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Und was soll man sagen? Stimmt. Kein Schulzomat, niemals. (Kleiner Scherz für die Hamburger Bürgermeister unter unseren Lesern.) Und mit 100 Prozent ist er jetzt auch noch zum SPD-Vorsitzenden gewählt worden. Das hat nicht einmal Brandt geschafft. Und Honecker auch nicht, aber der war ja auch in einer anderen Partei.
Die SPD kann mit jedem
Die Zeit seit dem 25. Januar lässt sich einteilen in die Zeit vor Schulz. Und die Zeit nach Schulz. Es ist nun eine gute Gelegenheit, kurz an eine Karikatur zu erinnern, die am Tag 1 n.S. erschien, auf der Titelseite der "Frankfurter Rundschau". Sie zeigt die Kanzlerin. Merkel lehnt sich zurück im Stuhl, die Arme verschränkt, und guckt, Mundwinkel gelangweilt nach unten gezogen, auf ein Porträt von Martin Schulz. In der Gedankenblase über ihrem Kopf steht: "Komm schon, Schulzi! Mach mir Angst!" Es war ein Witz. Sie haben ziemlich gelacht darüber in der Union. Und nicht nur da. Heute lacht niemand mehr. Schulzi macht ihnen Angst. (Heute läuft man übrigens zur "Arena", dem Ort des SPD-Parteitags, und passiert dabei ein Gebäude, auf dem steht: "Union Hilfswerk". Auch nicht schlecht. Aber das nur nebenbei.)
Die Genossen dagegen stolzieren derzeit so prallbrüstig und selbstbewusst durch die Gegend, dass man sie am liebsten kollektiv zur Dopingkontrolle schicken würde. Man kann es aber auch verstehen. Mal ein paar Zahlen: Schleswig-Holstein: 33:27, Nordrhein-Westfalen: 40:26, Saarland: 34:35. Die jeweils erste Zahl steht mittlerweile für die SPD, die zweite für die CDU. Vor ein paar Wochen war es noch ziemlich genau umgekehrt. Zwischen sieben und acht Prozentpunkte plus in der Zeit n.S. Um es mit Marx zu sagen: eine Umwälzung der (Umfrage-)Verhältnisse. Oder biblisch gesprochen: Martin, der Messias kann politisch totgeweiht Geglaubte wieder zum Leben erwecken.
Hannelore Kraft und Torsten Albig wissen wahrscheinlich gar nicht, wie ihnen geschieht. Die Aussichten, über den Mai hinaus im Ministerpräsidentenamt zu bleiben, waren ungefähr so gut wie die Chance von Dieter Bohlen auf einen Grammy. Und Anke Rehlinger? Kann plötzlich davon träumen, das Saarland an der Seite von Oskar Lafontaine zu regieren. Anke Rehlinger! Mehr muss man gar nicht sagen, um zu verdeutlichen, wie sehr sich die SPD in den 53 Tagen n.S. aufgehübscht hat in den Augen der Wähler.
Wenn es optimal läuft für den neuen Vorsitzenden Schulz und seine Partei, dann sieht es im Sommer so aus: drei Länder, drei Regierungen, drei unterschiedliche Koalitionspartner. Im Saarland die Linke. In Nordrhein-Westfalen die FDP. Und in Schleswig-Holstein weiter die Grünen. Die SPD kann mit jedem. Es würde Schulz die nötige Freiheit und Glaubwürdigkeit geben, im Bundestagswahlkampf für das zu kämpfen, was früher "eigene Mehrheit" genannt wurde - und sich alle Optionen für Koalitionen offen halten.
Die Depression der SPD einfach weggeschulzt
In seiner Rede vor dem Parteitag hat ER übrigens genau das getan: sich alles offengehalten. Merkel? Kam nicht vor, so wenig wie Linke, Grüne, FDP. Nur bei der Union hielt Schulz sich ein paar eher unfreundliche Sätze lang auf. Auch ansonsten hielt er sich an die Devise: im Wesentlichen nichts Neues. Es war alles drin, was der jetzt offizielle ernannte Kandidat seit 53 Tagen immer wieder und überall erzählt. Gerechtigkeit, Respekt und Würde. Für kostenfreie Bildung und gegen Rechts. Für Europa und gegen die Feinde der Demokratie. In den 77 Minuten seiner Rede hat Schulz sich kein einziges Mal über Sätze wie "Kunst und Kultur gehören in die Mitte der Gesellschaft" hinaus inhaltlich festgelegt. Schon gar nicht hat ER zu erkennen gegeben, wie eine von ihm geführte Regierung mehr Gerechtigkeit finanzieren will. Aber das Programm kommt ja noch. Bis dahin, und hoffentlich nur bis dahin, gilt: Konkretion ist was für Detailhuber. Und eins muss man Schulz lassen: Er ist ein begnadeter rhetorischer Feuerwerker des Allgemeinen. Es zischt und kracht und funkelt - man freut sich. Und dann ist wieder duster.
Wie lange die SPD das so treiben kann? Wenn es nach ihm gehe, gern noch ein paar Wochen, sagt der Kieler Ministerpräsident Torsten Albig. Sein Wahltag ist der 7. Mai. Bis dahin kann er gut damit leben, dass die Wähler in der Zeit n.S. der SPD wieder abnehmen, dass sie es ernst meint mit Respekt, Würde und Gerechtigkeit. Ohne Genaueres wissen zu wollen. Einfach so. Einfach Schulz. Das muss man erst einmal hinkriegen. Man muss es aber auch durchhalten.
Vielleicht bleibt dem neuen Vorsitzenden und Möchtegernkanzler vorerst auch gar nichts anderes übrig, als zunächst ein wenig nebulös zu bleiben, um die anfängliche Euphoriewelle nicht zu brechen. Die SPD ist schließlich immer noch dieselbe Partei wie vor 53 Tagen, sie ist nur besser gelaunt und demoskopisch einigermaßen fair bewertet. Ihre inneren Widersprüche aber haben die Genossen nicht so einfach wegschulzen können wie ihre Depression. Womit die Genossen sich und ihrem neuen Heilsbringer das Leben bis zur Wahl noch schwer machen können, hat der Kollege Lorenz Wolf-Doettinchem gerade aufgelistet. Sofortismus, Alles-oder-nichts-Attitüde, Rauflust und Rechthaberei sind nur einige Gefahren unter vielen.
Was bleibt von Martin Schulz?
Am Freitag hat Joschka Fischer, der alte, grüne Straßenknöter, ein Buch von SPD-Vize Olaf Scholz vorgestellt. Das Werk heißt "Hoffnungsland" – und handelt trotz des Titels nicht von der SPD, beziehungsweise nur am Rande. Ziemlich am Ende sagte Olaf Scholz den schönen Scholz-Satz: "Die Annahme der Union, dass Frau Merkel unvermeidlich sei, ist falsch." Da wackelte Fischer mit seiner Rechten. Es wirkte sehr, sehr skeptisch. Fischer ist übrigens ein Mann von einigermaßen verlässlicher prophetischer Gabe. Ende Juni 2005 hat er Angela Merkel gewarnt: "Gegenwärtig kommen Sie mir mit den Umfragen vor wie ein wunderbar anzuschauendes Soufflé im Ofen. Wir werden mal sehen ... wenn da der Souverän reinpiekst, was von der Größe noch übrig bleibt." Merkel kam damals aus der Opposition. Das Land schien durch mit Schröder. Keine Aussicht, nirgends. Im Juni 2005 lag die Union in Umfragen stabil bei 44 Prozent, die SPD bei 27.
Es gibt diese berühmten Bilder vom Wahlabend drei Monate später. Merkel starrt auf den Monitor in ihrem Zimmer. Die Hochrechnungen sieht weit entfernt von 44 Prozent. Sie guckt zwischen ungläubig, entsetzt und enttäuscht. Wenn es ihm zu gut geht, sollte Schulz sich einfach diese Bilder angucken. Als Mahnung. Und mit dem entscheidenden Quantum Trost. Das Soufflé Merkel hat dann doch gewonnen, wenn auch nur sehr, sehr knapp. Und sie regiert bis heute.