Karlsruhe kippt Haushalts-Trickserei Wo ist denn nun der "Plan B"? Diese Optionen hat die Ampel

Finanzminister Christian Lindner (FDP), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, v. l.)
Finanzminister Christian Lindner (FDP), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, v. l.)
© Kay Nietfeld / DPA
Das Urteil der Verfassungsrichter hat die Ampel-Koalition überrumpelt, trotz früher Warnsignale. Und jetzt? Wird’s richtig ungemütlich. Das Milliarden-Loch dürfte sich nur unter schweren Schmerzen schließen lassen. 

Dienstagmittag in Berlin. Christian Lindner ist entspannt. Er habe einen Plan B in der Tasche, sagt der FDP-Finanzminister, nur einen Tag vor dem großen Knall. "Aber da spekuliere ich jetzt nicht drauf, ob ich ihn bräuchte." Alle mal abregen – das ist das Signal. In 24 Stunden wisse man es ja, sagt Lindner.

Mittlerweile ist klar: Der Worst Case ist eingetroffen. Das Bundesverfassungsgericht hat den zweiten Nachtragshaushalt 2021 für nichtig erklärt. Das Geld, das für die Bekämpfung der Coronakrise bestimmt war, darf nicht für den Klimaschutz verwendet werden. Das Urteil reißt ein 60-Milliarden-Euro-Loch in die Staatskasse. Der Versuch, das Geld einfach zu verschieben, ist gescheitert. Die Ampel? Düpiert.

Und wo ist nun der Plan B?

Ist auch am Donnerstag nicht ersichtlich. Es gilt erstmal eine Art Ausgabensperre für den sogenannten Klima- und Transformationsfonds (KTF). Zeit gewinnen, bis eine Lösung gefunden ist: Das scheint nun die Devise der Ampel-Führung zu sein.

Im Nachhinein ist man immer schlauer, klar. Nur: Dass es einen Notfallplan brauchen könnte, war lange abzusehen. 

Schon die öffentliche Experten-Anhörung im Haushaushaltsausschuss hätte der Bundesregierung eine Mahnung sein können. Im Januar 2022 zweifelten mehrere Sachverständige die Verfassungsmäßigkeit des Vorhabens an. Der Bundesrechnungshof etwa hielt die Haushaltstrickserei gleich "unter mehreren" Aspekten für "verfassungsrechtlich zweifelhaft". Juristen warnten konkret davor, dass die Pläne in Karlsruhe scheitern könnten. Die Befürworter des heiklen Haushaltsstunts setzten sich schließlich durch. Allerdings mit dünner Mehrheit.

Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck war bewusst, was für eine Katastrophe auf die Koalition zurollen könnte. Erst vor wenigen Monaten, am 21. Juni, breitete er die möglichen Folgen einer erfolgreichen Verfassungsklage im Bundestag aus. Sollte Karlsruhe den Klimafonds kippen, würde "uns der Fußboden weggezogen", sagte Habeck. "Wenn diese Klage erfolgreich ist, würde das Deutschland wirtschaftspolitisch wirklich hart treffen, wahrscheinlich so hart, dass wir das nicht bestehen werden." 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Trotz der frühen Warnsignale hat die Bundesregierung nun 60 Milliarden Probleme und offenbar keine Idee, wie es weitergehen soll. An möglichen Optionen mangelt es zwar nicht. Doch birgt jede einzelne davon reichlich Konfliktpotenzial für die Koalition, die nun regelrecht die Wahl der Qual hat. Eine Übersicht.

Option 1: Die Schuldenbremse abschaffen

Eine erste Variante für "Plan B" liegt als Idee nahe, ist politisch aber weit entfernt: die Abschaffung der Schuldenbremse. Damit würde man eine Regelung schon wieder streichen, die erst vor zwölf Jahren als Ergebnis einer überparteilichen Föderalismuskommission ins Grundgesetz und die Verfassungen der Länder geschrieben wurde. Sie sollte die immer weiter steigende Staatsverschuldung auf Kosten künftiger Generationen stoppen. Im Bund erlaubt die Schuldenbremse im Regelfall noch eine minimale Neuverschuldung, in den Ländern ist die Kreditaufnahme untersagt. 

Eine Abschaffung der Schuldenbremse könnten sich am ehesten Grüne und SPD vorstellen, die FDP aber ist strikt dagegen. Und selbst für den Fall, dass alle Ampel-Parteien mitmachten – die Koalition bräuchte in Bundestag und Bundesrat eine Zwei Drittel-Mehrheit. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt haben bereits klargemacht, dass sie dafür nicht zur Verfügung stehen.

Option 2: Die Schuldenbremse aussetzen

Warum also nicht die Schuldenbremse aussetzen, wie schon in den Corona-Jahren? "Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen" lassen die im Grundgesetz festgelegten Regeln das zu. Die Ampel-Mehrheit im Bundestag würde für eine solche Ausnahme reichen – und schon könnte die Regierung wieder aus dem Vollen schöpfen. Nur gibt es zwei Probleme. Erstens: Auch dieser Schritt stürzte den FDP-Finanzminister in eine Glaubwürdigkeitskrise, weil er die Rückkehr zur Schuldenbremse zu seinem Kernprojekt erkoren hat. Zweitens: Der Zeitpunkt wäre kaum zu vermitteln. Eine Ausnahme muss mit einer wirtschaftlichen Notlage begründet werden. Und die soll just nach einer Ohrfeige aus Karlsruhe plötzlich vorliegen? Warum nicht schon vorher?

Option 3: Die Schuldenbremse reformieren

Ernstzunehmender ist der Vorschlag, die Schuldenbremse selbst zu reformieren, genauer gesagt: die sagenumwobene Konjunkturkomponente. Sie bestimmt, ob die Wirtschaft absehbar über oder unter Potential liegt und macht den Spielraum zur Kreditaufnahme auch innerhalb der Schuldenbremse variabel: In Normallagen wird er etwas kleiner, in schlechteren Lagen größer. In der SPD, auch bei den Grünen meint man, dass die Formel zur Berechnung dieser Komponente aus dem Jahr 2009 dringend überarbeitet und der Realität angepasst gehört. Vorteil: Ließe sich auch mit einfacher Mehrheit im Bundestag regeln. Nachteil: Brächte nur Spielraum im niedrigen einstelligen Milliardenbereich. Und selbst diese Mini-Reform wäre noch politisch verhetzbar, gewissermaßen als Lindners nächster Haushaltstrick.

Option 4: Den Rotstift ansetzen

Bleibt noch die Spar-Variante. Man kann Projekte, für die bisher der Klimafonds vorgesehen ist, zurück in den normalen Haushalt holen. Logischerweise müssten dann andere Vorhaben gekürzt oder gestrichen werden. Beispiel, rein theoretisch: Wenn im KTF nicht mehr genug Geld ist, um den Bau von Ladesäulen für Elektro-Autos zu fördern, könnte man die Mittel aus dem normalen Etat nehmen – und bei der Kindergrundsicherung kürzen. Oder bei Arbeitsmarktprogrammen. Oder bei der Sportförderung. Oder oder oder.

Das 60-Milliarden-Euro-Loch im KTF bedroht deshalb nicht nur Klimaschutzvorhaben, sondern letztlich alle Wohltaten der Regierung. Nur einer zeigte sich am Mittwoch vergleichsweise entspannt: "Mein Geld ist gesichert", zitierte der "Tagesspiegel" am Donnerstag Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Er hat 100 Milliarden Euro zur besseren Ausstattung der Bundeswehr zur Hand – als Sondervermögen, das mit der Zustimmung der Union im Grundgesetz verankert wurde.

Und wie geht es weiter? Jetzt gilt "Plan P"

Die Koalition hat sich offenbar für Option 5 entschieden: erstmal abwarten. Der Haushaltsausschuss des Bundestags soll am Donnerstag letzte Hand an den Etat für kommendes Jahr anlegen, ihn dann eine Woche später beschließen. Für den KTF-Sonderfonds kündigte die Bundesregierung einen neuen Wirtschaftsplan an, die normalen Ausgabenpläne der Bundesministerien für 2024 seien von dem Urteil nicht berührt. 

Erfahrungsgemäß werden die Abgeordneten in der sogenannten Bereinigungssitzung noch eine Reihe an Änderungen vornehmen. Die Sitzung dauert deshalb oft bis spät in die Nacht oder sogar bis zum nächsten Morgen. Der Bundestag soll den Haushaltsentwurf dann in der Sitzungswoche vom 27. November bis 1. Dezember endgültig durchwinken.

So lautet jedenfalls, nun ja, der Plan. 

Dennoch sind erhebliche Störungen im Betriebsablauf der Ampel zu erwarten. Unmittelbar nach dem Richterspruch aus Karlsruhe demonstrierten SPD, Grüne und FDP zwar Geschlossenheit, um die missliche Lage nicht noch weiter anzuheizen. Aber hatten sie eine andere Wahl? Noch fehlen sämtliche Antworten. Die Debatte steht erst am Anfang. Ende kommender Woche steht der Parteitag der Grünen an, Anfang Dezember der der SPD. Termine, die jetzt aufgeladen sind, bei denen es hitzig werden könnte. Bis zu den Parteitreffen dürfte noch nicht entschieden sein, welche Abzweigung die Ampel in der Haushaltsmisere nimmt. Für Grüne und SPD dürfte es verlockend sein, die Regierung unter Druck zu setzen, mit Forderungen vorzupreschen.

Und den Parteinachwuchs schert die demonstrative Eintracht schon jetzt herzlich wenig. Von einer "Gefahr für die Demokratie" spricht die Grüne Jugend mit Blick auf Lindners Finanzpolitik. Und die die Jusos, die Jugendorganisation der SPD, preschten gleich mal mit einer Maximalforderung vor. Das Urteil der Verfassungsrichter mache "einmal mehr" deutlich, dass man sich zwischen Klima oder Schuldenbremse entscheiden müsse, schrieb Philipp Türmer auf X. 

Türmer will sich an diesem Wochenende auf dem Bundeskongress zum neuen Jusos-Vorsitzenden wählen lassen. "Diese ganzen Tricksereien bringen doch nichts. Die Schuldenbremse ist im Grundsatz falsch. Sie muss aus der Verfassung raus", meint er. Das wäre dann die erste Variante des "Plan B".

Am Donnerstagnachmittag tritt Finanzminister Lindner vor dem Bundestag auf. Die Union hat eine Aktuelle Stunde nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beantragt. Dort schloss Lindner Steuererhöhungen weiterhin aus, die Leitplanken der Bundesregierung blieben unverändert: "Einerseits die Schuldenbremse, bei der wir neue Rechtsklarheit haben, andererseits der Verzicht auf Steuererhöhungen", sagte er. 

Doch es werde sich etwas ändern: "Wir werden mit weniger Geld wirksamere Politik machen müssen als im vergangenen Jahrzehnt." Nicht die Einnahmen seien das Problem, sondern die Prioritätensetzung. 

Lindners "Plan B" ist nun ein "Plan P".