Der Plan lässt aufhorchen: Als Reaktion auf die unter anderem durch den Krieg in der Ukraine gestiegenen Spritpreise will die Bundesregierung die Benutzung von Bussen und Bahnen vorübergehend drastisch verbilligen (der stern berichtete).
Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich: Ganz so einfach wie gedacht wird das Vorhaben nicht. Etliche Fragen sind noch unbeantwortet.
Was will die Bundesregierung?
"Wir machen Bus- und Bahnfahren so billig, wie es in Deutschland wahrscheinlich noch nie war", freute sich Grünen-Chefin Ricarda Lang nach den nächtlichen Verhandlungen der Ampel in der vergangenen Woche. "9 für 90" ist das Motto, das eigentlich folgerichtig eher "27 für 90" heißen müsste: Ein Vierteljahr lang sollen alle Bürgerinnen und Bürger den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) für neun Euro je Monat nutzen können – es wäre tatsächlich ein konkurrenzlos preiswertes Angebot.
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Das Problem: Mit einer Entscheidung der Bundesregierung ist es noch lange nicht getan. Für den ÖPNV ist sie gar nicht zuständig, der Nahverkehr mit Bus und Bahn ist Sache der Länder. Zu dessen Finanzierung überweist der Bund den Ländern jährlich einen Betrag, die sogenannten Regionalisierungsmittel. Sie beliefen sich im vergangenen Jahr auf rund 10,3 Milliarden Euro.
Der Bund sagt zu, die Summe aufzustocken, um die Einnahmeverluste durch die Neun-Euro-Ticket-Aktion auszugleichen. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (DFP) rechnet mit Kosten von 2,5 Milliarden Euro.
Ab wann soll es das Neun-Euro-Ticket geben?
Die Idee für die vergünstigten Fahrkarten war verhältnismäßig schnell geboren, bei der konkreten Umsetzung des Plans wird es komplizierter. Er solle "zügig" an den Start gehen, sagte Christiane Hoffmann, die stellvertretende Regierungssprecherin, nach der Vorstellung des Vorhabens auf Nachfrage. "Zügig heißt: so schnell wie möglich." Konkreter wurde sie nicht. Für welche drei Monate die Tickets zu haben sein werden, ist also noch vollkommen unklar. Spekuliert wird über einen Start am 1. Mai – das ist jedoch alles andere als sicher.
Wie soll das genau funktionieren?
Die Antwort auf diese Frage ist mindestens ebenso unklar wie jene nach dem Starttermin. Denn hier steckt ebenfalls der sprichwörtliche Teufel im Detail: Das Problem ist auch hier, dass der Bund nicht "durchregieren" kann. Deutschland hat nicht nur 16 Bundesländer, die für den ÖPNV zuständig sind, sondern auch noch ein fast unüberschaubares Geflecht aus Verkehrsverbünden und Tarifgemeinschaften, Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen.
So gibt es allein weit mehr als 100 Verkehrsverbünde: vom zwei Bundesländer umfassenden Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) mit Integration der Bahnstrecken über eher kommunale, reine Bus-Angebote wie den Verkehrsverbund Ems-Jade in Niedersachsen. Darüber hinaus gibt es auch Regionen in Deutschland, die gar keinem Verkehrsverbund angehören wie zum Beispiel der Landkreis Traunstein in Bayern.

Und in all diesen Verbünden gelten unterschiedliche Tarife: Zonen, Waben, Kilometer, Ringe, Mehrfachkarten, Teilzeit-Tickets, Wochenfahrscheine, Monatskarten, Abos und so weiter und so fort. Allein im Hamburger Verkehrsverbund (HVV), Deutschlands ältestem Zusammenschluss von Verkehrsunternehmen, haben die Kundinnen und Kunden die Auswahl aus rund 180 unterschiedlichen Fahrkarten-Angeboten, Erste-Klasse-Tickets nicht mitgezählt.
Es gibt in der Bundesrepublik damit Tausende unterschiedliche Fahrkarten-Angebote. Sie alle auf neun Euro im Monat zu deckeln, dürfte der Quadratur des Kreises gleichkommen, zumindest aber in einen gigantischen Verwaltungsaufwand münden.
Ungeklärt ist auch noch, wo das Neun-Euro-Ticket gelten soll: Nur im Wohnort? Im gesamten Verkehrsverbund, falls dort vorhanden? Im Bundesland oder gar bundesweit?
Abzuwarten bleibt auch, ob derart günstige Fahrscheine nicht zu einem Run auf Busse und Bahnen führen – und diese dann wegen Überfüllung unattraktiv für die Fahrgäste werden.
Wie soll der Fahrkartenverkauf laufen?
Das ist eine weitere der vielen ungeklärten Fragen. Müssen bundesweit die Fahrkartenautomaten umprogrammiert werden? Wie wird sichergestellt, das bestehende Inhaberinnen und Inhaber von Monatskarten nicht mehr als neun Euro zahlen? Verkehrsminister Wissing schwebt eine digitale Lösung vor. Demnach sollten die günstigeren Tickets ausschließlich online verkauft werden, um den administrativen Aufwand so niedrig wie möglich zu halten. Auch Fahrgäste, die bereits ein Abo haben, sollen laut Wissing von der Vergünstigung profitieren. Die Kosten für Abos würden dann nicht abgebucht oder erstattet, sagte der FDP-Politiker. Details hierzu sind aber weiterhin offen.
Was sagen Betroffene?
Zumindest der Fahrgastverband Pro Bahn begrüßt die Idee des Neun-Euro-Tickets grundsätzlich, verweist jedoch auf die vielen ungeklärten Fragen. "Es kann nicht ernsthaft richtig sein, dass das Neun-Euro-Ticket nur in einem Ort wie zum Beispiel in Landshut (Bayern) gilt, während es in Berlin und Brandenburg im ganzen Land gilt“, so Jörg Bruchertseifer, Tarifexperte des Vereins. "Die unterschiedlichen Strukturen der Tarife und Verkehrsverbünde ermöglichen hier kaum eine einfache und verständliche Lösung."
Offen zeigt sich der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Er will nach eigenen Angaben die Realisierung des Angebots koordinieren. "Dafür sind noch zahlreiche Details zu klären und branchenweit sowie mit der Politik abzustimmen", heißt es in einer Mitteilung.

Die Verkehrsverbünde, die den Plan letztlich umsetzen müssen, wirken überrumpelt. "Sobald weitere Informationen zur konkreten Umsetzung vorliegen, werden wir selbstverständlich umgehend informieren", heißt es beispielsweise vom Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein. Ähnlich klingt es beim VBB: "Um das Angebot einheitlich umzusetzen, sind noch umfangreiche Konkretisierungen durch die Bundesregierung erforderlich."
Welchen Alternativvorschlag gibt es?
Vor allem aus den Ländern regt sich Kritik an dem Vorhaben der Bundesregierung. Auf der Sonderkonferenz der Verkehrsministerinnen und -minister am Freitag herrscht Verwirrung. Vor allem die vielen offenen Fragen lösen Irritationen aus und verzögern die Beratungen. Grundlegend in Frage stellt die Idee laut der Vorsitzenden der Verkehrsministerkonferenz, Bremens Bürgermeisterin Maike Schaefer (Grüne), jedoch niemand.
Allerdings: Wegen des befürchteten Verwaltungsaufwands bei der Einführung des Neun-Euro-Tickets fordern die Verkehrsministerinnen und -minister einen noch radikaleren Schritt: "einen auf drei Monate befristeten Nulltarif". Die Mehrkosten solle der Bund tragen. Bundesverkehrsminister Wissing erteilt dem Vorschlag bereits eine Absage. Mit einem Neun-Euro-Ticket ließe sich die Nachfrage von Kundinnen und Kunden deutlich besser nachvollziehen als bei einem Nulltarif. "Bei dem Neun-Euro-Ticket kennt man die Zahl der zusätzlichen Fahrgäste und kann entsprechend disponieren und vermeidet dadurch, dass es zu punktuellen Überlastungen kommt", sagt er.
Wie geht es weiter?
Die Verkehrsverbünde und -unternehmen wollen jetzt gemeinsam ein Konzept für das Neun-Euro-Ticket ausarbeiten. Parallel soll eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern eingerichtet werden, die weitere Details erarbeiten soll.
Dies scheint auch nötig, damit aus der gut gemeinten Neun-Euro-Ticket-Schnellschuss-Idee kein zweites "Osterruhe"-Szenario wird, der Plan also wieder in der Versenkung verschwindet.
Quellen: Bundesregierung (1), Bundesregierung (2), Hamburger Verkehrsverbund, Pro Bahn, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein, Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, Verkehrsministerkonferenz, Nachrichtenagenturen DPA und AFP