Presseschau Das Urteil aus Karlsruhe bringt die Ampel in Bredouille: "Die einander überdrüssig gewordene Koalition muss sich neu erfinden"

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, M) neben Christian Lindner (FDP, l), und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen, r)
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, M) neben Christian Lindner (FDP, l), und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen, r)
© Kay Nietfeld / DPA
Mit einem haushaltspolitischen Kniff wollte die Bundesregierung die Schuldenbremse zugunsten des Klimaschutzes umgehen. Doch genau auf die pocht das Bundesverfassungsgericht. Nun muss die Ampel schauen, wofür noch Geld da ist. So kommentiert die Presse das Urteil.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verwendung von Corona-Krediten für Klimaprojekte als verfassungswidrig bewertet und die Ampel-Koalition so gezwungen, geplante Vorhaben vorübergehend auf Eis zu legen. Die Union, die in Karlsruhe gegen die Änderung des zweiten Nachtragshaushalts 2021 geklagt hatte, sieht die Regierung vor einem Scherbenhaufen. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace sprach von einem herben Rückschlag für den Klimaschutz. 

Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts bezieht sich auf den Haushalt 2021. Wegen der Notfallsituation während der Corona-Pandemie hatte der Bund den Etat per Kreditermächtigung um 60 Milliarden Euro aufgestockt. In solch außergewöhnlichen Situationen ist es wie bei Naturkatastrophen trotz Schuldenbremse möglich, Kredite aufzunehmen.

Karlsruhe kassiert Haushaltstrick der Ampel

Am Ende wurde das Geld aber nicht für die Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen gebraucht. Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP wollte die 60 Milliarden daher für den sogenannten Klima- und Transformationsfonds (KTF) nutzen und schichtete das Geld mit Zustimmung des Bundestags rückwirkend um – jedoch erst im Jahr 2022.

Das Gericht stellte nun klar, dass es einen Zusammenhang zwischen der außergewöhnlichen Notsituation und den finanzierten Maßnahmen geben müsse. Der Gesetzgeber habe prinzipiell Spielraum dabei. Je länger die Krise andauere, desto größer würden aber die Anforderungen an die Begründung, warum bestimmte Maßnahmen zur Lösung dienen sollten, heißt es in dem 64 Seiten langen Urteil. 

So kommentieren die deutschen Zeitungen das Urteil: 

"Neue Osnabrücker Zeitung": "Für den Augenblick ist die Situation verfahren: Steuererhöhungen wären für die Liberalen ein Bruch ihres Wahlversprechens. Einschnitte bei den geplanten Klimaschutzmaßnahmen für die Grünen ein Fiasko. Und Kürzungen im Sozialbereich kommen für die SPD nicht infrage. Bisher hat die Ampel-Koalition ihre Differenzen mit Erfindungsreichtum beim Geldausgeben überdecken können. Diesen Weg hat Karlsruhe nun versperrt. Für den Bürger heißt das: Er muss sich auf Einschnitte gefasst machen. Für die Transformation der ohnehin schwächelnden Wirtschaft und den Klimaschutz ist das Urteil ein Desaster. Verantwortlich dafür aber ist nicht der Richterspruch, sondern die Bundesregierung, die den krummen Deal veranlasste." 

"Rhein-Neckar-Zeitung": "Dass den Scherbenhaufen nun zu allererst Olaf Scholz wegkehren muss, der sich die Milliarden-Verschieberei als Finanzminister unter Angela Merkel ausgedacht hatte, ist eine nette Pointe in diesem Trickspiel. Doch ob die Ampel-Koalition an den Aufräumarbeiten gleich scheitern wird, darauf sollte man nicht wetten. Denn zum einen sind alle drei Regierungsfraktionen Verursacher der Misere. Zum anderen besitzt nur die SPD eine Regierungsoption außerhalb des heutigen Bündnisses – das wissen Grüne und FDP nur zu genau. Gleichwohl hat das Urteil weitreichende Folgen, weil ohne den heimlichen Geldzufluss die Kosten für die Energiewende, aber auch die für die Unterstützung der Ukraine erst sichtbar werden. Mit dem Wegfall der Sonderschulden erhält die Regierungspolitik ein ehrlicheres Preisschild. Und das zwingt SPD, Grüne und FDP sich zusammenzuraufen. Auch dafür ein Dankeschön nach Karlsruhe." 

"Badische Neueste Nachrichten": "Die Ampel steht vor einem Scherbenhaufen. Die 60 Milliarden sind weg, damit fehlt das Geld, um den Austausch von Heizungen oder Investitionen in eine klimaneutrale Wirtschaft zu fördern und für den sozialen Ausgleich zu sorgen. Das aber ist notwendig, um die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen. Mit bloßen Umschichtungen im Haushalt ist es nicht getan. Auf dem Prüfstand steht vielmehr die gesamte Klima- wie Finanzpolitik. Und nun? Eine Lockerung der Schuldenbremse wie Steuererhöhungen gibt es mit der FDP nicht. Abstriche beim Klimaschutz lehnen die Grünen ab. Und Kürzungen im Sozialbereich sind mit der SPD nicht zu machen. Damit stellt sich die Frage nach der Zukunft der Ampel. Ein Neustart mit einer Neuformulierung der politischen Ziele ist unumgänglich. Andernfalls sind ihre Tage gezählt. Die Union steht als Partner für die SPD in den Startlöchern."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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"Badische Zeitung": "Tatsächlich muss die Koalition weniger als zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl ihre Politik für den Klimaschutz und die Transformation der Wirtschaft ganz neu gestalten – und zwar so, dass sie verfassungsrechtlich und finanziell nicht mehr auf Sand gebaut ist. Es wäre ein Wunder, wenn Berlin in den kommenden Monaten diese Herkulesaufgabe gelänge, die natürlich auch zu Konflikten in der Gesellschaft führt. Das hat im Frühjahr die erbitterte Debatte um Habecks Heizungsgesetz gezeigt. Und seither ist der Dissens in der Ampel nicht kleiner geworden – kleiner geworden ist aber der Zuspruch der Bürger."

"Stuttgarter Zeitung": "Die Karlsruher Richterinnen und Richter haben der Ampel den bequemen Weg versperrt, sich unter Missachtung des Grundgesetzes 60 Milliarden Euro auf Pump zu beschaffen. Somit bleibt der Regierung nur zu klären, welches Fonds-Projekt ihr wirklich wichtig ist und wie sie es seriös finanziert. Das klingt einfacher, als es ist. Denn tatsächlich muss die Koalition ihre Politik für den Klimaschutz und die Transformation der Wirtschaft ganz neu gestalten – und zwar so, dass sie dieses Mal verfassungsrechtlich und finanziell nicht mehr auf Sand gebaut ist." 

"Südwest Presse": "Die einander überdrüssig gewordene Koalition muss sich jetzt neu erfinden. Zuletzt trat das nun vom Verfassungsgericht beanstandete Sondervermögen mit dem Namen "Klimatransformationsfonds" (KTF) als Lösung aller möglichen Konflikte in Erscheinung. Für den Haushalt des kommenden Jahres spielen die fehlenden Milliarden aus dem KTF noch nicht die große Rolle. Doch hängen so gut wie alle Zukunftsprojekte der selbsternannten Fortschrittskoalition an diesem Topf. Womöglich kann sich das Bündnis noch am Schopf aus dem selbst angerührten Desaster ziehen, indem es ein Sparprogramm auflegt und Steuern erhöht. Doch das erscheint im Augenblick sehr unwahrscheinlich. Das Urteil drückt die Ampel an die Grenzen ihrer Existenz, vielleicht sogar darüber hinaus."

"Leipziger Volkszeitung": "Es ist ein Desaster für die Ampelkoalition. Die Politik des Bündnisses aus SPD, Grünen und FDP basierte von Anfang an auf einem Verfassungsbruch. Das hat das Bundesverfassungsgericht in großer Klarheit am Mittwoch festgestellt. Das Verschieben nicht genutzter Corona-Hilfen im Umfang von 60 Milliarden Euro in ein Sondervermögen für den Klimaschutz war grundgesetzwidrig. Alle Partner haben hierbei Dreck am Stecken: Es war der jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD, der noch als Finanzminister der großen Koalition den Haushaltstrick ausarbeiten ließ. Es war Christian Lindner von der FDP, der als Bundesfinanzminister der Ampel den Plan in die Tat umgesetzt hat und ihn sogar noch als 'Ausdruck von Gestaltungswillen' rühmte. Und es ist der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, der das auf diese Weise gesicherte Geld nun für Klimaschutzmaßnahmen ausgeben will beziehungsweise schon ausgegeben hat."

"Rhein-Zeitung": "Ohne die Umbuchung der von der Vorgängerregierung übrig gebliebenen 60 Milliarden Euro in den Klimafonds hätte der erfolgreiche Abschluss der Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP Ende 2021 infrage gestanden. Denn für deutlich mehr Klimaschutzanstrengungen, die für die Grünen unabdingbar waren, fehlte schlicht das Geld. Der Trick der Umbuchung war konstituierend für die Ampel, es war ihr Startkapital. Nun wird der Koalition unweigerlich eine Debatte über neue, empfindliche Einsparungen im Haushalt und/oder über Steuererhöhungen ins Haus stehen."

"Kölner Stadt-Anzeiger": "Es ist dem höchsten deutschen Gericht zu danken, dass es der Bundesregierung den anmaßenden Umgang mit dem Grundgesetz nicht durchgehen ließ, auch wenn das die Ampel nun vor massive Finanzprobleme stellt. Die Richter haben sehr klar herausgearbeitet, warum das Tun nicht rechtens war: Wenn eine Bundesregierung sich in einem Jahr mit Krediten auf Vorrat 'vollpumpen' kann, um das Geld anschließend in irgendeinem Sondervermögen zu parken und dann in den Folgejahren für andere Zwecke auszugeben, dann wird die Schuldenbremse ad absurdum geführt. Nur noch peinlich für die Ampel ist, dass sie den Trick mit dem Klima- und Investitionsfonds auch noch stümperhaft ausgeführt hat."

DPA
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