Etwa eine halbe Million Menschen sind nach Gewerkschaftsangaben am Tag der Arbeit für höhere Löhne und mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen. Die Gewerkschaften prangerten "Hungerlöhne" an und unterstrichen ihre Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro. Zudem kritisierten sie die Renten- und Steuerpolitik der großen Koalition. SPD-Spitzenpolitiker sprachen sich am Dienstag erneut für die Einführung von Mindestlöhnen in einzelnen Branchen aus. Die traditionellen 1.-Mai-Kundgebungen standen diesmal unter dem Motto "Du hast mehr verdient". Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zählte etwa 530.000 Teilnehmer bei bundesweit 452 Veranstaltungen.
DGB-Chef Michael Sommer forderte deutlich höhere Löhne für die Beschäftigten in Deutschland. "Vom Aufschwung müssen alle profitieren, nicht nur die Reichen", sagte er auf der zentralen Mai- Kundgebung in Gelsenkirchen. Gleichzeitig forderte Sommer die sofortige Einführung gesetzlicher Mindestlöhne. "Niemand im Land soll für weniger als 7,50 Euro arbeiten müssen."
Das Thema Rente mit 67 wollen die Gewerkschaften zum Wahlkampfschwerpunkt für die nächste Bundestagswahl machen. Eine Erhöhung des Rentenalters sei nichts anderes als eine Absenkung der Renten. Bislang seien die Gewerkschaften in dieser Frage "an der Arroganz der Macht der großen Koalition gescheitert", räumte Sommer ein. Scharf kritisierte er die großen Konzerne. Trotz ihrer Milliardengewinne würden sie weiter in großer Zahl Menschen entlassen. Der Telekom kündigte der DGB-Chef einen harten Kampf gegen Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung an.
DGB-Vize Ingrid Sehrbrock unterstrich in Chemnitz: "Für anständige Arbeit muss auch anständiger Lohn gezahlt werden." DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach kritisierte bei einer Kundgebung in Berlin die Unternehmensteuerreform und warf der großen Koalition vor, die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben. Der IG-Bau-Vorsitzende Klaus Wiesehügel forderte in Braunschweig, die "gigantische Umverteilung zu Gunsten der Unternehmer" zu beenden.
Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) und SPD-Chef Kurt Beck bekräftigten die Forderung nach branchenbezogenen Mindestlöhnen. Beck sagte auf der Kundgebung des DGB Rheinland-Pfalz in Wörth: "Wir werden in der großen Koalition darum ringen, jeden gangbaren Schritt in diese Richtung auch zu gehen."
Müntefering suchte bei der DGB-Kundgebung in Ibbenbüren ausdrücklich den Schulterschluss mit den Gewerkschaften. "Wir sind aufeinander angewiesen, müssen miteinander reden und Kompromisse finden", sagte er mit Bezug unter anderem auf Äußerungen des früheren SPD-Sozialpolitikers Rudolf Dressler, der von einem "tiefen Riss" zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften gesprochen hatte.
Ebenso wie Beck zeigte Müntefering Verständnis für die Forderungen der IG Metall nach Einkommenserhöhung im aktuellen Tarifkonflikt. "Man muss den Menschen Geld geben, damit sie etwas kaufen können." IG-Metall-Chef Jürgen Peters drohte in Hamburg mit einem harten Tarifkonflikt in der Metall- und Elektrobranche.
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla betonte, einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn werde es mit seiner Partei nicht geben. "Mindestlöhne schaffen keine Arbeitsplätze, sondern zerstören Arbeitsplätze", erklärte er zum Tag der Arbeit. Pofalla sprach sich aber für ein gesetzliches Verbot sittenwidriger Löhne aus.

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Ver.di-Chef Frank Bsirske startete in Erfurt eine bundesweite Werbetour für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Der Truck mit der Ausstellung "Arm trotz Arbeit" macht in 50 deutschen Städten Station. Die Tour endet am 3. Juli in Berlin. In Zwickau forderte der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Oskar Lafontaine, einen Mindestlohn von acht Euro.
DPA
"Landeszeitung" (Lüneburg)
Du hast mehr verdient, behaupten die Gewerkschaften, ohne sich selbst an das eigene Maifeiertagsmotto zu halten. Denn wer beim DGB beschäftigt ist, muss sich mit weniger als einem Prozent Lohnerhöhung abspeisen lassen. Eine Lachnummer im Vergleich zu den von der IG Metall geforderterten 6,5 Prozent. Auch in Sachen Mindestlohn, obwohl die DGB-Organisationen vielerorts einige der öffentlich gegeißelten "Hungerlöhne" selbst ausgehandelt haben. Die 3,05 Euro etwa für die brandenburgische Friseurin sind ein Verhandlungswerk der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Die wirklich gute Nachricht am Tag der Arbeit kommen aus Nürnberg: die Arbeitslosigkeit ist im April wieder unter vier Millionen gefallen. Trotz ewigen Koalitionszwists in Berlin - und trotz Gewerkschaftsheuchelei.
"Sächsische Zeitung" (Dresden)
Längst ist der einstige Kampftag der Arbeiter zum Ab-Feiertag geworden. Und doch wächst die Schar, die sich des jahrhundertealten Ursprungsgedanken erinnert: Gegen Missstände aufbegehren, Solidarität zeigen. Gut eine halbe Million sollen es deutschlandweit gewesen sein. Wer gestern demonstrierte, wurde nicht mit einer Bratwurst-Prämie geködert wie zu DDR-Zeiten. Er tat es aus Überzeugung. Und mancher tat es aus persönlicher Betroffenheit: Als Metaller, der bei millionenschweren Konzerngewinnen nicht mit Brotsamen abgespeist sein will oder als Telekom-Beschäftigter, der um seinen Job fürchtet. Hier zu Lande ist längst nicht alles gut, wie es manch Politiker weismachen will. 3,9 Millionen Arbeitslose sind eben noch immer Millionen zu viel.
"Westfalenpost" (Hagen)
Das alles heißt: Der Normalarbeitsplatz, eine unbefristete Vollzeitstelle, die den Mann oder die Frau ordentlich ernährt, ist nur mehr ein Minderheitenmodell, das sogenannte Prekariat stellt die Mehrheit. Und daran wird sich so schnell nichts ändern, Aufschwung hin oder her. Auch deshalb diskutiert das Land über Mindestlöhne und Grundsicherung. Der Mindestlohn würde allein die schlecht Bezahlten entlasten; die Grundsicherung, das entgegen gesetzte Modell, tatsächlich Freiheit von der Arbeit bringen. Aber so weit, das lässt sich am Tag der Arbeit sicher sagen, so weit ist dieses Land noch nicht.
"Oldenburgische Volkszeitung" (Vechta)
Der 1. Mai 2007 ist ein Sieg für die Demokraten und für alle jene, die gegen Rechts auf die Straße gegangen sind. Ohne Ausschreitungen verliefen drei unterschiedliche Kundgebungen. Schon deshalb gebührt den Teilnehmern der Demonstrationen ein dickes Lob. Ein Vorzeigetag für die Demokratie wurde dieser 1. Mai aber auch, weil die Polizei großartige Arbeit geleistet hat. Das massive Aufgebot von rund 1000 Beamten aus weiten Teilen des Landes hat seine Wirkung nicht verfehlt. Rechts hat im Oldenburger Münsterland keine Chance. Und das ist gut so.
"Badische Zeitung" (Freiburg)
Wir sind wieder wer. Diese Worte waren gestern wohl auf keiner Veranstaltung zum 1. Mai zu lesen. Trotzdem hätten sie gut gepasst. Dass die bundesdeutsche Wirtschaft so stark wächst, dass die Arbeitslosenzahlen rapide sinken und das Vertrauen der Verbraucher in die Konjunktur Rekordstände erreicht, ist zum großen Teil ein Verdienst der deutschen Arbeitnehmer und auch ihrer Interessenverbände, den Gewerkschaften.
"Märkische Allgemeine" (Potsdam)
Die monatlichen Arbeitsmarktzahlen sind normalerweise vor der Bekanntgabe ein peinlich gehütetes Geheimnis. Doch zum diesjährigen Tag der Arbeit kamen sie dem Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) so recht, dass er sie höchstpersönlich herausposaunte. Weniger als vier Millionen ohne Arbeit - die gute Bilanz könnte das zuletzt arg getrübte Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften bessern, mag das Kalkül gewesen sein. Vor allem jedoch sollten die Zahlen wohl überspielen, dass Müntefering beim von den Gewerkschaften seit Monaten gepuschten Thema Mindestlohn nicht zu Potte kommt. Es gehört sicher zur größten Tragik des alten SPD-Kämpen, dass er beim Mindestlohn immer noch nichts vorzuweisen hat.
"Stuttgarter Zeitung" (Stuttgart)
Die Reduzierung der Arbeitslosenzahl um 1,1 Millionen in zwei Jahren ist ein Erfolg der großen Koalition und der rot-grünen Vorgängerregierung. Dennoch, die Situation ist bedenklich, weil die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse abnimmt. Immer weiter öffnet sich die Schere zwischen jenen auf der Sonnenseite, die ihren Wohlstand bewahren oder mehren können, und denen im Schatten, die kaum genug zum Leben haben. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse drücken ebenso auf das Lohnniveau wie Tarifdumping. Legal werden Stammbelegschaften abgebaut und durch Randbelegschaften ergänzt. All dies löst einen Rutschbahneffekt aus, der die Einkommensstruktur beeinflusst. Daher hilft das Lamentieren über den Bedeutungsverlust des 1. Mai nicht weiter. Tatsache ist, dass auf den Kundgebungen brandaktuelle Themen angesprochen werden, die jeden Bürger angehen.
"Rhein-Neckar-Zeitung" (Heidelberg)
Einen besseren Zeitpunkt als den "Tag der Arbeit" hätte es nicht geben können, um den Deutschen zu verkünden: Die Trendwende ist nun auch auf dem Arbeitsmarkt vollzogen. Erstmals gibt es wieder unter vier Millionen Arbeitslose - und das Beste: Die Konjunktur läuft auch in absehbarer Zukunft wie geschmiert. Und dennoch gibt es auch eine Schattenseite bei diesem Aufschwung nach amerikanischem Vorbild: Die Lockerungen auf dem Arbeitsmarkt, die Hartz-Reformen, das jetzt anlaufende Programm 50plus - das alles schafft nur vorübergehend Arbeitsplätze. Deutschland ist dabei, sich zu einer dynamischen Wirtschaft zu entwickeln. Lebenslang ein Arbeitsplatz, das dürfte künftig die Ausnahme sein.
"Berliner Kurier" (Berlin)
Weniger als vier Millionen Arbeitslose! Müntefering konnte die Nachricht nicht für sich behalten. Sie sprudelte nur so aus ihm heraus. Und noch dazu am 1. Mai, dem Tag der Arbeit. Münte, der Überbringer der frohen Kunde. Doch mit der Botschaft, die er verkündete, hat die Politik nicht viel zu tun. Die Konjunktur hat fast alles gemacht. Und bei aller Freude dürfen wir doch die nahezu vier Millionen Frauen und Männer nicht vergessen, die weiter ohne Job dastehen. Schon lange spricht niemand mehr von Vollbeschäftigung. Sie wäre Grund zum Jubeln. Sind wir vielleicht zu genügsam geworden?
"Leipziger Volkszeitung" (Leipzig)
Die leidgeprüfte SPD darf wenigstens am 1. Mai Wunden lecken und sich an Münteferings Gute-Laune-Wetterbericht zum Arbeitsmarkt wärmen: Nix Merkel-Aufschwung - der Franz, der kann's. Doch damit endet auch schon der beschwingte Tanz in den Mai. Denn die bejubelten Arbeitsmarktreformen kennen eine hässliche Kehrseite: Die rasante Ausbreitung von Zeitarbeit und Minijobs. In der SPD setzt man nun im neuen Schulterschluss mit den Gewerkschaften auf Mindestlohn - um den Flächenbrand zumindest einzudämmen. Der gestrige Schlachtenlärm der eifrigsten Mindestlohn-Vorkämpfer hilft bei den politischen Löscharbeiten jedoch kaum weiter.