Sein lichtes Arbeitshaus oben am Hang in diesem beinahe bedrückend beschaulichen Baden-Baden, wie ein kleines Segelschiff wirkt es, schwebend fast. Darin, inmitten von Büchern und - natürlich - hohen Aktenstapeln dieser große, gewichtige Mann, selbstbewusst. Als Vorsitzender des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist Thomas Fischer, 62, einer der wichtigsten Richter der Republik, die Revisionsurteile des BGH schreiben Rechtsgeschichte.
Doch anders als die meisten seiner Kollegen sucht Fischer die Öffentlichkeit, fordert sie seit gut einem Jahr mit seiner Kolumne auf "Zeit online" heraus: "Fischer im Recht". Es sind bitterböse Abrechnungen mit der ängstlichen Engherzigkeit der Republik in Zeiten der Flüchtlingskrise, mit ihren sogenannten besorgten Bürgern. Als ob er Nachdenken und Selbstkritik erzwingen will. Und vielleicht gar Mitgefühl. Er fischt im Recht, einem dunklen Meer, wie er sagt. Eine Frage ist: Ist er im Recht?
Herr Fischer, Sie gelten als Deutschlands bekanntester Strafrichter. In Ihren Kolumnen empören Sie sich über Dummheit, Oberflächlichkeit und Populismus. Sie teilen aus gegen alle. Gehört kalkulierte Wut zur "Marke Fischer"?
Ich trage nicht Wut, aber gelegentlich Empörung in mir. Allerdings bemühe ich mich in meinen Texten, mich zurückzunehmen.
Nun ja. Sie beschreiben Ihre Berufskollegen als feige, die Bürger aus dem Osten Deutschlands sind samt Soljanka irgendwie in der DDR zurückgeblieben und Journalisten sowieso meist ahnungslos.

Ich äußere Kritik in bildhafter Weise, aber ich falle über niemanden her. Journalisten prägen das Bild der Justiz in der Öffentlichkeit. Nicht selten aber schreiben über Rechtsfragen und insbesondere auch Strafrechtsfragen Journalisten, die ersichtlich ohne Sachkenntnis sind.
Deren "intellektuelle Fähigkeiten" gerade zum "Auftragen von Mascara" oder zum "Zubinden der Schuhe" ausreichen. Ihre Worte.
Ich finde es jedenfalls erbärmlich: dass man sich nicht für die Sache interessiert, sondern nur ein Zerrbild zeichnet.
Wie ist es nach Ansicht des Richters Fischer um das Recht in unserem Land bestellt? Das Recht, dessen Aufgabe es ist, Gerechtigkeit und Glück zu verwirklichen, wie Sie geschrieben haben.
Habe ich das?
Ja, haben Sie.
Geregeltheit und Friedlichkeit sind jedenfalls eine Erwartung an das Recht. Seine Hauptaufgabe ist es ja, für die Macht- und Gewaltstrukturen einer Gesellschaft Legitimität herzustellen. Offenbar geht das Gefühl von und für Rechtmäßigkeit mehr und mehr verloren. Das zeigt sich vor allem seit Beginn der Flüchtlingskrise. Die Menschen wenden sich ab von Staat und Regierung. AfD und Pegida, eigentlich radikalisierte Sekten, mobilisieren derzeit Millionen Furchtsame. Die Wirtschafts-, Finanz- und Innenpolitik der AfD besteht aus einer acht Meter hohen Mauer mit Hundelaufstreifen und Dreifach-Drahtzaun rund um Deutschland.
Und doch: Seit der Kölner Silvesternacht glauben viele, der Staat könne seine Bürger nicht mehr schützen, beschützen. Alles sei aus den Fugen geraten.
Richtig ist: Außerordentlich viel ist aus den Fugen geraten. Aber was aus den Fugen ist, ist nicht das, was uns in diesen Wochen bis zur Hysterie vorgespiegelt wird. Das ist nur ein naiver Reflex an der Oberfläche.
Auf was?
Unsere Welt ändert sich in einem Maße und mit einer Geschwindigkeit, die die meisten nicht vorhergesehen haben. Das begann vor langer Zeit und wurde mit der neoliberalen Kehrtwende vor ungefähr 20 Jahren augenfällig umgesetzt. Seitdem wurden die Strukturen, an die wir in Deutschland und Mitteleuropa mehrheitlich geglaubt hatten, weitgehend zerstört.
Die da waren?
Soziale Marktwirtschaft bedeutete in gewisser Weise, dass der Staat ein Gemeinwesen ist. Dass er eben keine bloße "Deutschland AG" im Sinne einer Organisation zur Förderung des Finanzkapitals ist. Heute zerfällt unsere Gesellschaft offenkundig und schnell: Da ist eine kleine Gruppe ganz oben. Darunter die sehr große Gruppe, die wir Mittelstand nennen. Und darunter ein Viertel der Bevölkerung, das immer weiter nach unten durchfällt. Menschen, für die wir uns nicht interessieren. Jetzt zerplatzt die Illusion, dass man in diesem Land, einem Rechtsstaat, gemeinsam Solidarität und Gleichheit in einer freiheitlichen Ordnung verwirklichen kann. Jetzt stellt sich heraus: Es war nur leeres Geschwätz.
Das Wesen des Menschen ist nicht Gleichheit oder Solidarität, sondern Konkurrenz. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, niemand für den anderen. Dies war des Kanzler Schröder Botschaft der Agenda 2010. Und die Entwicklungen fanden ihren Höhepunkt in den Finanzkrisen der vergangenen Jahre. Das erzeugt Wut und Furcht: Wut bei denen, die verstehen, dass ihre "Verliererposition" auf Dauer gedacht ist, Furcht bei denjenigen, die nach unten abzurutschen drohen. Das ist der Nährboden des Rechtsradikalismus.
Was hat Ihre Fundamentalkritik des neoliberalen Kapitalismus mit Flüchtlingen zu tun, gar mit der Kölner Silvesternacht?
Es sind weder Syrer noch junge Männer aus dem Maghreb, die Deutschland ins vermeintliche Unglück stürzen, und auch nicht Frauen, die ein Kopftuch tragen. Das ist offensichtlich. Die Menschen aus Pegidastan fühlen sich verraten und verkauft. Und zwar zu Recht: Was haben ihnen denn die abendlichen Börsennachrichten zu bieten? Doch nur das gefühlte Chaos …
... den Untergang des christlichen Abendlandes.
So empfinden sie es. Ihre Anliegen haben einen wahren Kern. Pegida und AfD sind am Ende nichts anderes als unsere eigenen, deutschen Ausländer. Sie sitzen hinter ihrem daherfantasierten antimigrantischen Schutzwall und rufen "Lüge", wenn wir ihnen sagen, dass das Leben ist, wie es ist. Man mag die Dumpfheit mancher ihrer Parolen auf den sogenannten Montagsdemonstrationen in Dresden und anderswo bedauern. Aber die Hochnäsigkeit, mit der viele Westdeutsche auf Pegida herabblicken, hat gleichwohl keine Berechtigung. Sie ist nicht von Mitgefühl getragen, sondern von der Sorgenfreiheit einer vergangenen Mittelstandsgesellschaft, bei der die Härte der Veränderungen noch gar nicht angekommen ist. Fragen Sie die Griechen.
Sie fordern Mitgefühl mit politischen Brandstiftern?
Auch für solche müssen wir wenigstens Empathie aufbringen. Alles andere hätte keinen Sinn. Das bedeutet natürlich nicht, dass man die rechtspopulistische Ideologie teilt. Oder gar zulässt, dass Kleinstädte vor allem im Osten Deutschlands von rechtsradikalen Schlägerbanden beherrscht werden, die keine demokratische Kultur mehr zulassen wollen.
Aber auch diesseits von Pegida reagieren die Menschen zunehmend verängstigt auf die sogenannte Flüchtlingswelle, sehen die Kölner Silvesternacht als Beweis für Staatsversagen.
Von Staatsversagen kann keine Rede sein. Offenkundig hat in Köln die Polizeiführung versagt, sowohl die der Landes als auch die der Bundespolizei. Das heißt aber doch nicht, dass ein marokkanischer oder arabischer Untergrund die Ereignisse organisiert habe, ein Mastermind aus dem Maghreb.
Auch wenn man nicht an Verschwörungstheorien glaubt: Für viele war Köln ein Wendepunkt, nicht nur für Herrn Seehofer und seine CSU.
Ja. Man stellte es als Zusammenbruch des Rechtsstaates vor dem Verbrechen dar. Aber man könnte auch sagen: Es war ein passendes Ereignis zum passenden Zeitpunkt: deutsche Frauen, auf der Domplatte von arabischen Horden behelligt. So viele Bilder, so viele Ängste - allesamt Argumente für das politische Ziel, wie es von Seehofer und vom xenophoben Mainstream jetzt formuliert wird: die Wende in der Flüchtlingspolitik. Und da bieten sich als Feindbilder, neben den fernen Terroristen, die verlotterten marokkanischen Leimschnüffler an, die deutsche Frauen sexuell belästigt und beraubt haben.
Das wiederum, Herr Fischer, ist eine Verschwörungstheorie.
Keineswegs. Das Ereignis wurde zu einer überdimensionalen Größe aufgeblasen: "Asylantenflut", "Flüchtlingswelle" – wie eine Naturkatastrophe.
In Köln gab es Hunderte Anzeigen wegen sexueller Belästigung durch Ausländer, in Hamburg und Stuttgart Dutzende.
Ich will keinesfalls verharmlosen, was geschehen ist. Gewalterfahrung, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein ist eine menschenunwürdige Erfahrung. Aber mit wem haben wir es hier konkret zu tun gehabt? Mit einigen Tausend Straßenkindern und jungen Männern aus den Slums von Casablanca, die in Europa von Stadt zu Stadt ziehen. Viele waren in Frankreich und Italien und sind jetzt eben auch in Düsseldorf und Köln. Wir wissen das doch seit vielen Jahren: Die Welt zerfällt in wenige reiche und viele arme Regionen. In der einen oder anderen geboren worden zu sein ist kein Verdienst. Die Menschen aus armen Regionen versuchen, in die reichen zu gelangen. Unsere Vorfahren haben es genauso gemacht. Was würden Sie tun oder wollen, wenn Sie in einer Wellblechhütte in einem Slum von Casablanca aufwachsen würden? Ein kleiner Teil des Weltlumpenproletariats kommt jetzt bei uns an. Köln war eine unangenehme Erscheinungsform davon. Aber festzuhalten ist: Die dort begangenen einzelnen Taten waren überwiegend Bagatelltaten.

Warum verharmlosen Sie so? Es ging nicht um Handydiebstahl, sondern um massenhafte sexuelle Belästigung.
Die Sexualisierung des Verhaltens ist dabei natürlich besonders beunruhigend. Aber leider kommt genau dies auch an jedem Oktoberfestwochenende dutzendfach vor; auch dort wird jeder unbeschützte Gang für Frauen zum Spießrutenlaufen. Im Karneval ist sexualisiertes Verhalten ja sogar Programm.
Es handelt sich dabei um einen ritualisierten Regelbruch, den alle akzeptieren, gar wünschen.
Das stimmt nicht ganz, auch wenn es die Bedenkenlosigkeit einer "herrschenden Meinung" widerspiegelt.
Das ist nicht bedenkenlos, sondern die Beschreibung einer, nun ja, kulturellen Eigenart.
"Die Sau muss rausgelassen werden", und zwar "ritualisiert". Wehe dem, der als Mann an Weiberfastnacht einer Gang von besoffenen Frauen sagt: Lasst mich in Frieden, ihr ekligen Tanten! Gerade diese Ritualisierung der Erniedrigung aber wird den arabischen Frauenbegrapschern als besonders perfide vorgeworfen. Ich möchte die Ereignisse in Köln keineswegs verharmlosen. Aber es handelte sich da ersichtlich um eine gegenseitige Eskalation von Gelegenheit, Polizeiversagen und quasi symbolischem Chaos. Brutalität dieser Art kommt auch bei uns immer wieder vor, auch in anderen Zusammenhängen. Mit der sogenannten Flüchtlingskrise hat all das nur sehr wenig zu tun. Straftaten geschehen. Sie werden von Inländern und Ausländern begangen. Sie alle sind zu verfolgen und gegebenenfalls zu bestrafen.
Jeder Einzelfall nach seiner Verantwortung, sagen Sie.
Ja. Was in der Silvesternacht in Köln geschah, erfüllte, soweit ich sehe, die Straftatbestände des Diebstahls, der Beleidigung, der Körperverletzung, der sexuellen Belästigung oder der sexuellen Nötigung. Darauf stehen zum Teil hohe Strafen. Gemeinschaftliche Körperverletzung etwa ist mit Freiheitsstrafe bis zehn, sexuelle Nötigung bis 15 Jahre bedroht. Von den vielen Hundert Anzeigen aus Köln beziehen sich freilich nur wenige auf wirklich schwere Straftaten.
Dennoch: Köln wirkt wie ein Angstbeschleuniger in der ohnehin aufgeheizten Flüchtlingsdebatte. Und es würden nur Kuschelstrafen verhängt, heißt es, wenn es überhaupt zu Gerichtsverfahren kommt.
Der deutsche Rechtsstaat ist in Köln nicht zusammengebrochen. Passieren Fehler? Ja. Sind Polizeibeamte oft eher konservative Menschen, die sich häufig missverstanden fühlen und überlastet sind? Ja. Werden die schlecht bezahlt, und sind Dienststellen häufig unterbesetzt? Ja. Gewalt ist ein permanentes Phänomen, vor allem bei jungen Männern in der sogenannten Unterschicht. In Deutschland haben wir es mit einigen Hunderttausend sehr schlecht in die Gesellschaft integrierter junger Männer zu tun. 90 Prozent von ihnen sind Deutsche, 10 Prozent sind Ausländer. Sie sind Täter - und Opfer von Gewalt. 80 Prozent der Opfer von Gewalt stammen aus der gleichen Schicht wie die Täter.
Der Strafrichter Fischer sieht also keine "Straflücke"?
Nein. Unser System ist ganz gewiss ausreichend hart. Wenn es überhaupt ein Kriterium sein sollte: Das Strafniveau, also die durchschnittliche Strafhöhe, stieg in den vergangenen 20 Jahren um mindestens ein Drittel. Auch wenn es viele anders sehen: Dies gilt für die Verfolgung von Sexualstraftaten ebenso wie für Gewalttaten. Ein Tankstellenüberfall mit 30 Euro Beute etwa wird mit mindestens fünf Jahren Gefängnis bestraft. Das System ist streng genug.

Längst ist das Internet zum Tatort geworden. Wie ein Flächenbrand ist der Hass, Politiker werden mit dem Tod bedroht, Hetze gegen Ausländer wird zum Volkssport.
Das ist furchterregend. Rechtsradikale Angstpropaganda wird nun in andere Milieus getragen, das zeigt sich am Erfolg der AfD. Es ist gefährlich, weil es zu einer Öffnung für Gewaltanwendung führen kann. So entsteht eine Kultur der Angst, in der der Einzelne eingeschüchtert wird und sich in seiner Integrität angegriffen fühlen muss. So entstehen Lücken in einem Staat. Dies ist demokratiegefährdend.
Ermittlungsverfahren aber werden oft eingestellt. Man könne die Täter nicht ausfindig machen, heißt es dann. Warum geht der Rechtsstaat nicht konsequenter gegen den Facebook-Mob vor, gegen die zunehmende Verrohung?
Bedrohungen, Beleidigungen, Volksverhetzung müssen konsequent verfolgt werden, vielleicht konsequenter. Aber zugleich müssen wir uns fragen: Welche Vorkehrungen können und wollen wir gegen die Verbalisierung von Gewalt im Internet treffen? Wie wollen wir filtern? Und wie können wir die Netzwerke in den Griff bekommen, wenn nicht mit dem massiven Einsatz staatlicher Gewalt – und damit staatlicher Kontrolle über unser Leben? Wollen wir das? Wir müssen die Exzesse mit dem Strafrecht bekämpfen und ansonsten versuchen, die Mehrheit der Menschen durch Aufklärung zu erreichen.
Medien sollen zur Aufklärung beitragen. Aber auch sie geraten unter Druck, verlieren Glaubwürdigkeit. "Lügenpresse", heißt es.
Hinter dem Vorwurf der "Lügenpresse" steht ja die Behauptung einer angeblich verschwiegenen Wahrheit. Und zwar immer derselben: Es gibt zu viele Ausländer, und sie sind an allem schuld. Der Vorwurf hat keine Substanz.
Aber auch Sie üben gern wortgewaltig Medien- und Journalistenkritik. Das Niveau, das die deutsche Presselandschaft biete, sei ziemlich niedrig - das ist noch eines Ihrer netteren Urteile.
Es geht dabei um Medienmacht. Über Massenmedien machen sich die Menschen ein Bild von der Welt. In Zeiten des Internets aber scheint es nur noch darum zu gehen, Sensationen zu produzieren, noch schneller, noch lauter zu sein. Das führt nicht zu mehr Verständnis. Was bleibt, ist Geschrei. Welches Thema hält noch länger als zwei Tage, manchmal zwei Stunden? Alles ist nur noch beliebig. Jeder kommentiert, aber niemand gibt sich mehr die Mühe, etwas wirklich zu erklären. So verstehen wir immer weniger, werden desorientierter, wenden uns schließlich ab. Auch diese Entwicklung ist demokratiegefährdend.
Wie lautet Ihr Rat?
Vielleicht hilft es, ab und zu einfach den Schnabel zu halten, sich nicht im Halbstundentakt "upzudaten", Distanz zu wahren. Das gilt für uns alle, ganz gewiss aber für diejenigen, die als Berufsbezeichnung "Journalist" angeben.