Wenn Markus Söder, wie es sich für einen stolzen Ministerpräsidenten gehört, gelegentlich durch die bayerische Geschichte streift, erinnert er gerne an die Wittelsbacher. Das Königshaus hatte sich seinerzeit zum eigenen Vorteil erst mit Napoleon verbündet, aber später wieder von ihm abgewandt. Söder, den seit jeher der Vorwurf des machtpolitischen Opportunismus begleitet, führt das gerne augenzwinkernd als Beispiel dafür an, dass bayerischen Herrschern traditionell eine gewisse Geschmeidigkeit zu eigen sei.
Seit diesem Wochenende sieht es danach aus, dass die nächste Probe aufs Exempel unmittelbar bevorsteht. Hubert Aiwanger, 52, hat mit Napoleon zwar nichts gemeinsam, sieht man davon ab, dass für ungeübte Ohren das Niederbayerische fast so schwer zu verstehen ist wie Französisch. Doch seinetwegen droht Söder mitten im bayerischen Landtagswahlkampf eine veritable Regierungskrise, und der Ministerpräsident muss entscheiden, mit wem er sich künftig die Macht teilen will.
Aiwanger ist Chef und Poster Boy der Freien Wähler, seit 2018 Koalitionspartner von Söders CSU, Wirtschaftsminister in dessen Kabinett und mithin stellvertretender Ministerpräsident. Aber ob das so bleibt, ist nun, sechs Wochen vor der Wahl, offen. Und die ziemlich heikle Entscheidung darüber liegt in erster Linie bei Markus Söder.
Anonyme Zeugen belasten Hubert Aiwanger
Am Freitag berichtete die Süddeutsche Zeitung über ein Flugblatt, das 1987 an dem Gymnasium entdeckt wurde, das Hubert Aiwanger besuchte. Darin wird vermeintlich ein "Bundeswettbewerb" ausgeschrieben: "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Bewerber, heißt es in dem auf einer Schreibmaschine verfassten Papier, möchten sich im "Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch" melden, Einsendeschluss: 1.1.88. Der erste Preis den man gewinnen kann, ist ein "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz." Die SZ berichtet unter Berufung auf mehrere anonyme Zeugen, dass Aiwanger das Pamphlet geschrieben haben soll, was er über seinen Sprecher schon vorab bestreiten ließ.
Am Samstag hatte Söder zunächst Kontakt mit Aiwanger und forderte ihn später öffentlich auf, die Sache aufzuklären. Die Vorwürfe müssten ausgeräumt werden "und zwar vollständig", sagte Söder. Am Nachmittag, nach einer für seine Verhältnisse langen Bedenkzeit, meldete sich Aiwanger zu Wort. Er kenne den Verfasser des Flugblatts, dieser werde sich selbst erklären. Kurz darauf übernahm Aiwangers Bruder die Verantwortung und bedauerte das Pamphlet.
Die CSU hält die Sache weiter für "dubios"
Die Spanne der öffentlichen Reaktionen, ablesbar in den sozialen Medien, ist maximal: Aiwangers Bruder sei nur ein Bauernopfer, sagen die einen. Aiwanger sei entlastet, finden die anderen. Jetzt muss Söder entscheiden: Ist der Vorwurf gegen Aiwanger vollständig ausgeräumt, wie es der Ministerpräsident verlangt hat? Oder muss er die Zusammenarbeit mit seinem Koalitionspartner aufkündigen? Aus der CSU heißt es, die Sache bleibe "dubios", die Variante mit dem Bruder "wenig glaubwürdig". Einen Beweis, dass Aiwanger das Flugblatt doch geschrieben hat, gibt es nicht. Andererseits räumt er selbst ein, dass es in seinem Ranzen gefunden wurde. Ob er das Pamphlet verteilt hat, will er nicht mehr genau wissen. Es gilt als unwahrscheinlich, dass Söder sich auf dieser Basis hinter Aiwanger stellt.
Die Angelegenheit ist heikel. Denn von Söders Entscheidung hängt zuallererst ab, ob er selbst vom Fall Aiwanger kontaminiert wird. Zeigt er sich zu mild, könnte er bürgerliche Wähler vergraulen, die das populistische Gebaren des Freie Wähler-Chefs schon länger anwidert. Auch in den eigenen Reihen könnte ihm das Schwierigkeiten bereiten, wo nicht alle die Toleranz billigen, die Söder bisher gegenüber Aiwanger gezeigt hat. Auch steht sein Nimbus auf dem Spiel, dass er trotz aller machtpolitischen Biegsamkeit bei nationalsozialistischem Gedankengut kein Pardon kennt. Erst vor ein paar Tagen ließ Söder eine Kampagne starten, die eigentlich gegen die AfD gerichtet war. Auf Plakaten ist Franz Josef Strauß zu sehen, versehen mit dem Zitat: "Wir wollen mit rechtsradikalen Narren und Extremisten nichts zu tun haben."
Das Risiko der Solidarisierung mit Aiwanger
Lässt Söder den Koalitionspartner aber fallen, muss er einen Solidarisierungseffekt befürchten, der Aiwanger weitere Wähler zutreiben könnte. Verschwörungstheorien, es habe sich um ein abgekartetes Spiel gehandelt, damit Söder die Freien Wähler loswerden kann, würden ungehindert ins Kraut schießen. Erst vor wenigen Wochen zog Aiwanger massive Kritik auch aus der CSU auf sich, nachdem er auf einer Kundgebung die Demokratie in Deutschland in Frage gestellt hatte. Auch Söder hatte auf der von einer Kabarettistin organisierten Veranstaltung gesprochen – von Teilen des Publikums war er dabei ausgebuht worden.
In den Umfragen für die Wahl am 8. Oktober liegt die CSU bei 40 Prozent, um Platz zwei kämpfen AfD, Grüne und Aiwangers Freie Wähler. Da eine absolute Mehrheit unerreichbar erscheint, ist Söder auf einen Koalitionspartner angewiesen und hat sich früh auf die Freien Wähler festgelegt.
Wer könnte der neue Koalitionspartner sein?
Aiwangers Truppe erschien bislang für Söder als der einfachste Partner, auch wenn es immer wieder zu Konflikten kam. Der Chef der Freien Wähler inszenierte sich auch in Regierungsverantwortung immer wieder als Volkstribun und machte sogar Stimmung gegen Gesetze, die von der eigenen Koalition verabschiedet worden waren. In der Corona-Krise zeigte sich Aiwanger ganz im Gegensatz zum Ministerpräsidenten als Impfskeptiker und ließ sich erst nach einem Rüffel Söders und Kritik selbst aus den eigenen Reihen immunisieren. Doch je näher die Landtagswahl rückte, desto friedliebender präsentierten sich beide Seiten.
Sollte Söder dennoch auf die Freien Wähler verzichten, bestünde an potenziellen Koalitionspartnern zwar rein rechnerisch wohl kein Mangel. Doch politisch würde es für Söder weitaus anstrengender. Die AfD kommt nicht in Frage, SPD und Grüne haben aus Söders Sicht den Makel, dass sie der Ampel-Koalition in Berlin angehören. Die steht bekanntlich nirgends derzeit hoch im Kurs, weshalb Söder ihr auch nicht zu nahe kommen möchte. Zudem ließ sich gegen die angebliche Benachteiligung Bayerns durch die Regierung von Olaf Scholz stets trefflich polemisieren.
Im Wahlkampf hat er die SPD bislang komplett ignoriert. Fällt der Name des Spitzenkandidaten Florian von Brunn, machen sich CSUler einen Spaß daraus zu fragen: "Wer?". Die Grünen wiederum hat Söder immer wieder im Visier, vor allem um seine Anhängerschaft gegen angebliche Regulierungswut vom Heizen bis zum Essen zu mobilisieren. Um mit ihnen zu koalieren bedürfte es sehr viel Wittelsbacher Geschmeidigkeit.