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Margrethe Vestager "Wenn wir von Vielfältigkeit in der Führung sprechen, dann geht’s nicht darum, dass Frauen wie Männer werden"

Margrethe Vestager
Margrethe Vestager
© KENZO TRIBOUILLARD
Die Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission Margrethe Vestager über bunte Kleidung, weibliche Führung und warum es ohne Frauenquote nicht geht.

Frau Vestager, in Ihrem Büro in der EU-Kommission in Brüssel stand lange eine kleine Holztreppe, eine Stiege. Was hat diese Leiter mit Frauen zu tun?

Ich mag die Leiter einfach. Das Holz ist gut verarbeitet, man sieht, dass sie viel benutzt wurde. Aber natürlich hat sie auch eine symbolische Bedeutung. Ich finde, eine Frau, die in der Hierarchie nach oben will, tut gut daran, ihre eigene Leiter mitzubringen.

Was genau ist es, was Frauen mitbringen müssen, um erfolgreich zu sein?

Eine ganze Menge, weil wir immer noch in einer Kultur leben, in der Führung ganz stark mit dem Männlichen verknüpft wird. Es ist schwer, Frauen als Führungsfiguren zu sehen, wenn man eine kulturelle Brille trägt, die auf männliche Eigenschaften achtet: Die Stimmlage. Der Körperbau. Die Gesten. Das Männliche steckt in so vielen Details. Und da müssen wir ran. Denn wenn wir von Vielfältigkeit in der Führung sprechen, dann geht’s ja eben nicht darum, dass Frauen wie Männer werden. Das wäre völlig daneben. Es geht darum, Frau zu bleiben – und trotzdem durch diese Brille erkannt zu werden, die bisher nur Männer erkennt. Viele Frauen tragen Bleistiftröcke, Blazer und haben das Haar streng gebunden. Sie versuchen so der Uniform, die in einer Männerwelt akzeptiert wird, möglichst nahe zu kommen. Das Problem daran ist natürlich, dass alle sehr genau wissen: So sehr Frauen sich auch bemühen mögen, wie Männer zu wirken. Sie sind keine Männer. Meine Haltung ist deshalb: Warum sollten wir überhaupt versuchen, wie Männer zu wirken? Das ergibt keinen Sinn.

Sie haben gesagt, dass Frauen mit Macht viel weniger uniform umgehen können als Männer, dass sie die Macht offener, flexibler, auch bunter handhaben können. Wie sieht eine farbenfrohe Machtinterpretation aus?

Mir ist es wichtig, dass wir einige der Hierarchien abreißen, dass wir die Distanz verringern zwischen denen, die uns Macht leihen und denen von uns, die dieses Werkzeug dann für begrenzte Zeit nutzen dürfen. Denn wenn die Distanz zu groß wird, besteht die Gefahr, dass wir vergessen, dass Macht nur geliehen ist. Als jemand, der dieses Machtwerkzeug in Händen hält, ist es mir wichtig, ein wenig zu zeigen, wer ich bin, nicht immer nur steife Kleidung zu tragen, auch vom Äußeren her weicher zu sein, um zu signalisieren: Ich bin nahbar. Vielfalt in der Führung bedeutet eben auch, dass die alte Schule der Macht herausgefordert wird, in der Macht unnahbar, nicht inklusiv, nicht zuhörend war.

Deshalb kleiden Sie Ihre Macht also gezielt in bunte Kleider?

Oh, ja, ich gebe zumindest mein Bestes. Deshalb sehen sie mich oft mit Absätzen, mit blumigen, farbigen Kleidern.

In Ihrer Karriere waren Sie schon in vielen Führungspositionen – in Ihrer Partei, in der dänischen Regierung, in der Europäischen Union. Warum haben Sie keine Scheu, um diese Jobs zu kämpfen?

Ich frage mich bei allem: Warum nicht? Was ist das Schlimmste, was Dir passieren kann? Und meistens ist das Schlimmste, dass meine Eitelkeit gekränkt werden könnte. Das ist dann auch nicht schön, vor allem nicht in dem Moment, in dem es passiert. Aber ich weiß auch: ich werde das überleben, das geht vorbei. Und etwas anderes hilft mir noch: Ich mache mir klar, dass jeder Schritt meine eigene Entscheidung ist. Ich muss das nicht tun. Ich habe die Wahl. Als ich als Kind mit einer Sportart anfing, sagte meine Vater: Ich habe jetzt für die ganze Saison gezahlt. Das musst du jetzt auch durchziehen. Aber so ist das eben nicht mehr: Wenn ich mich ehrlich bemüht habe, versucht habe, die Spielregeln zu verstehen und auch versucht habe, zu begreifen, wie man einen Ball fängt, und dann denke: Nein, das ist nichts für mich. Dann kann ich es einfach lassen. Und umgekehrt gibt es eben Dinge, die ich wirklich tun will.

Es heißt immer, viele Frauen würden im entscheidenden Moment zurückschrecken, Macht einzufordern? Nehmen Sie das auch so wahr?

Nein. Aber ich habe das Gefühl, Frauen begreifen es eher als Pflicht, Macht zu übernehmen. Sie wissen, Sie können das und sollten das wohl auch machen. Männer finden Macht eher aufregend: Wow, das wird spannend. Ihre Haltung ist eher: Ich will das machen, und ich werde in dem Job erfolgreich sein.

Zurück zu der Leiter. In vielen Fällen reicht die ja nicht. Der Gleichstellungsindex des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen hat gerade eine eher ernüchternde Erkenntnis dokumentiert: Wenn das mit der Gleichstellung in Europa im bisherigen Tempo weitergeht, wird es 60 Jahre dauern, bis eine volle Gleichstellung erreicht ist. Müssen deshalb jetzt Quoten her, um da Tempo reinzubringen?

Quoten sind jedenfalls der einzige Weg, um zu erreichen, dass wir endlich diese kulturelle Brille absetzen. Früher war ich gegen die Quote. Aber dann ist mir klar geworden, dass es über Jahrhunderte eine informelle Männerquote von 98 Prozent gegeben hat, die sehr gut funktioniert hat. Es war komplett akzeptiert, dass jeder ein Mann sein sollte.

Sind Sie denn auch eine Quotenfrau?

Zu einem bestimmten Teil: Ja, denn ich habe von einer informellen Quote profitiert. In meiner Partei gibt es zwar offiziell keine Quoten. Aber bei Wahlen treten wir mit ziemlich ausgeglichenen Kandidatenlisten an. Es gab einen Konsens, dass wir ein Gleichgewicht der Geschlechter fördern wollen. Deshalb habe ich möglicherweise davon profitiert, dass auch die Parteiführung mit Frauen besetzt werden sollte. Aber das bedeutet nicht, dass ich deshalb weniger qualifiziert war als jemand anderes.

Sie haben drei erwachsene Töchter. Hatten Sie als weibliches Vorbild für ihre Töchter so etwas wie eine Lektion Nummer eins: Darauf müsst Ihr unbedingt achten?

Wichtig ist mir, dass meine Töchter wissen: Wenn ihr hart arbeitet und das Talent habt, dann könnt ihr alles machen, was ihr wollt. Ihr müsst das nicht tun, aber es gibt nichts, was euch verschlossen ist. Aber sonst? Ich bin in einem Pfarrershaushalt aufgewachsen, meine Eltern waren beide Pfarrer der Dänischen Volkskirche. Und trotzdem haben wir zu Hause nie über Religion gesprochen. Ich habe mit meinen Eltern nie über Gott geredet. Aber sie haben ein pralles Leben geführt, auch mit Zweifeln, auch mit Fehlern, aber so, dass es im Guten wie im Schlechten, ein Vorbild für mich war. Grundsätzlich halte ich es aber so: Es ist besser, selbst das zu tun, was man von anderen erwartet, statt ein bestimmtes Verhalten zu predigen.

Auf der Holzleiter in ihrem Büro stand auch ein Schild mit dem Schriftzug „Mør“, dem dänischen Wort für Mutter. Was haben Sie sich denn von ihrer Mutter abgeschaut?

Ihren ersten Ruf als Gemeindepfarrerin erhielt sie in einer kleinen Stadt. Sie war die Hauptpfarrerin. Mein Vater war damals zunächst arbeitslos. Also hat er sich um den Haushalt gekümmert und ist als erster Mann überhaupt sogar in den lokalen Hausfrauen-Verein eingetreten. Bedenken Sie: Das war in den frühen 70ern. Das war schon, nun ja, ungewöhnlich.

War Ihnen das peinlich?

Das nicht. Aber ich habe erst viel später verstanden, dass das für meine Eltern schon ein eher seltsames Erlebnis gewesen sein muss. Ich habe dabei gelernt, dass man im Leben zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedliche Rollen schlüpfen  und diese auch wieder ablegen kann. Es ist eine große Stärke, wenn man seine eigene Identität nicht zu sehr mit einer einzigen Rolle verknüpft. Deshalb schafft die Bewegung in Richtung Gleichstellung auch so viele neue Möglichkeiten für Männer, die Bandbreite dessen zu vergrößern, was es eigentlich heißt, ein Mann zu sein.

Ihr Mann ist Lehrer für Mathematik und Philosophie. Gab’s da in Ihrer Beziehung irgendwann einen Punkt, an dem sie sich beide hingesetzt und einen Deal geschlossen haben, à la: Du, Margarethe, machst jetzt Karriere, ich kümmere mich um den Rest?

Nein, das gab’s nicht. Das hat sich einfach entwickelt. Ich war nie besonders gut in Karriereplanung.

In Brüssel haben Sie sich als Wettbewerbskommissarin mit mächtigen Firmen angelegt, mit Google, mit Apple, mit Amazon. Verhandlungspartner waren da immer: Männer, die Gründer und Chefs dieser Firmen. Sind die damit klargekommen, dass es eine Frau ist, die hier das Sagen hat?

Zumindest war es bisweilen so, dass sie wenig Erfahrung darin hatten, eine Arbeitsbeziehung zu einer Frau aufzubauen. Da gab’s schon etwas unbeholfene Situationen. Oft habe ich wirklich wenig Zeit, und dann geht’s darum, zum Punkt zu kommen. Und in solchen Situation kann dann eben nur sehr begrenzt über Kinder sprechen.

Frauen spielen in der Welt der digitalen Giganten kaum eine Rolle als Chefinnen. Ist das ein Problem?

Das ist ein gigantisches Problem Stellen Sie sich doch nur einmal vor, es wäre umgekehrt und es wären nur Frauen in meinem Alter, die genau die Technologie schaffen würden, die unsere Gesellschaft verwandelt. Ich garantiere ihnen: Da würde alles getan werden, um für größere Vielfalt zu sorgen. Wir haben die Verhältnisse in diesem Bereich nicht hinterfragt, aber das ist ein Riesenthema. Diese Technologien werden unsere Gesellschaft verändern, sie verändern, wie wir Demokratie begreifen, wie wir arbeiten, wie wir miteinander umgehen. Vielfalt wäre da aus allen naheliegenden Gründen enorm wichtig.

Wir erleben gerade eine fundamentale Krise. Fürchten Sie, dass Corona alle Fortschritte bei der Gleichstellung zunichte machen könnte?

Es gibt Rückschläge, ja. Aber die allgemeine Entwicklung lässt sich nicht zurückdrehen, weder von dem Corona-Virus noch von etwas anderem. Da kommt echter Wandel. Und die Vorteile liegen auf der Hand.

Was tun Sie denn in diesen bisweilen düsteren Tage, um sich aufzumuntern?

Wenn ich es zeitlich schaffe, setze ich mich an meine Nähmaschine und verliere mich darin, etwas zu entwerfen.

Früher waren Sie berühmt dafür, dass Sie bei jeder Gelegenheit gestrickt haben. Socken für Mitarbeiter oder Elefanten.

Ich stricke immer noch. Aber das ist nicht so fordernd wie etwa ein Kleid zu nähen. Ich bin ja kein Profi. Mich lenkt das komplett ab.

Macht bedeutet also nicht nur, bunte Kleider zu tragen, sondern Macht bedeutet, die auch noch selbst zu nähen?

Naja, ich nähe nur wenige Kleider. Aber wenn eines fertig ist, bin ich schon stolz, auch das noch geschafft zu haben.

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