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Niederlande vor Deutschland-Spiel Ärger im Oranje-Paradies

Holland hat bei der EM die wohl beste Offensive aller Teams. Doch gegen Dänemark traf keiner der Stars. Vor dem Deutschland-Spiel gibt es ein Hauen und Stechen bei Mannschaft, Medien und Fans.
Von Oliver Trust, Krakau

Das niederländische Fernsehen zeigte die Szenen des Unglücks ketzerisch in Großaufnahme. Close-Ups von Robin van Persie. Wie er gegen Dänemark vergeblich versucht, den Ball ins Tor zu schießen. Wie er ratlos auf seinen Lippen kaut. Wie sein Blick leer umherschweift, weil der Ball wieder nicht ins Tor ging. Die nächste Szene zeigt Klaas-Jan Huntelaar, der draußen auf der Bank den Kopf schüttelt und sich an den Kopf fasst. Van Persie vom FC Arsenal ist Top-Torjäger der englischen Premier League (30 Tore). Huntelaar vom FC Schalke 04 Torschützenkönig der Bundesliga (29). Im Nationalteam stehen die beiden Stars aber vor allem für ein Personalchaos, das die Abordnung des Koninklijke Nederlandse Voetball seit Monaten in eine unheilvolle Schieflage bringt. "Oranje" ist gefangen im System. Die Baustellen ziehen sich durchs halbe Team.

Das 4-2-3-1-System von Bert van Marwijk sorgt im Kader für tiefen Frust. In der Verbandszentrale des KNVB schrillen die Alarmglocken. Inzwischen wird offen über den Ernstfall diskutiert, der mit einer Niederlage gegen Deutschland und dem Aus in der Vorrunde eintreten würde - die Niederlande diskutieren über die Entlassung von Bert van Marwijk. Vor wenigen Wochen war das noch unvorstellbar. Jetzt hat die Stimmung gedreht. "Es geht um alles gegen Deutschland", hat der Bondscoach erkannt.

Die ewigen Diskussionen nerven van Marwijk

Bert van Marwijk sieht müde und angespannt aus in diesen Tagen. Er ist regelrecht genervt. Die in orange gehaltenen Blumengedecke im Sheraton Hotel an der Wisla wirken in solchen Momenten wie der Teil einer schlechten Theaterkulisse. "Das geht da rein und da raus", behauptet er. "Jeder in den Niederlanden gibt mir Ratschläge." Der 60-Jährige hat vieles ausprobiert. Das meiste mit mäßigem Erfolg. In Testspielen bot er Van Persie und Huntelaar zusammen auf. Das klappte nicht. Und auch bei der 0:1-Niederlage gegen Dänemark spielten beide in der Schlussphase. Doch auch zusammen konnten Van Persie und Huntelaar Holland nicht retten.

Viel zu halbherzig ändere van Marwijk die Taktik, kritisieren ehemalige Nationaltrainer und Fußballgrößen wie Marco van Basten, Ruud Gullit, Louis van Gaal und Johan Cruyff. Die Mannschaft habe keine Balance und komme inzwischen nicht mehr aus der Frustecke heraus, ächzen sie. Die Selbstzerfleischung treibt vor dem "Tod oder Gladiolen"-Spiel dem Höhepunkt entgegen. Van Marwijk, so donnert es aus den Kolumnen, halte zu starrsinnig an seinem System fest. Umfragewerte kippten in den vergangenen Tagen dramatisch. 75 Prozent der Niederländer glaubten vor der Euro an den Titel. Jetzt sind es 70 Prozent, die mit einem Aus in der Vorrunde rechnen.

Van der Vaart und Huntelaar nur als Helfer in der Not

Der ehemalige Dortmund-Coach van Marwijk bevorzugt ein defensiveres System als es die Kritiker fordern. Vor der Abwehr stehen mit seinem Schwiegersohn und Kapitän Mark van Bommel und Nigel de Jong zwei defensive "Sechser". Die Flügel besetzt er mit Arjen Robben und Ibrahim Afellay. Vor der Abräumern im Mittelfeld steht mit Wesley Snejder ein offensiver Mittelfeldmann.

Mit zwei Stürmern – also van Persie und Huntelaar – müsste er im Mittelfeld also umstellen. "Wir müssen kontrolliert angreifen. Wir können doch nicht dem Gegner ins offene Messer laufen", klagt van Marwijk. Seine Variante mit van Bommel und De Jong bedeutet, dass Rafael Van der Vaart draußen sitzt. Der Spielmacher von Tottenham Hotspurs könnte auch auf der Sechs spielen. Er ist der nächste Gefrustete, der für eine offensivere Spieltaktik steht. Van der Vaart wurde zur Vierschiebemasse und ging mit seiner Enttäuschung wie Huntelaar an die Öffentlichkeit. Beide kann Van Marwijk nicht fallen lassen, obwohl er sich sichtlich über deren Beschwerden ärgert. In seinem EM-Plan spielen sie die Rolle von Notfallhelfern, die bei Bedarf – wie gegen Dänemark – ins Spiel kommen.

Frust zieht sich durchs gesamte Team

Zu den Problemfällen van Persie, Huntelaar und van der Vaart kommt der Frust, den Wesley Snejder und Arjen Robben nach einer schwachen beziehungsweise erfolglosen Saison von ihren Klubs Inter Mailand und Bayern München mitbrachten. Ibrahim Afellay, einer der genialsten Kicker der Niederländer überhaupt, war monatelang schwer verletzt und wurde erst kurz vor der EM wieder fit. Dem ungeheuren Offensivpotential steht ein erschreckender Qualitätsabfall der Abwehr gegenüber, der der Hauptgrund für Van Marwijks vorsichtigere Einstellung ist. "Holland muss etwas ändern, jeder weiß wie wir spielen", stichelte Ruud Gullit. Marco Van Basten warf van Marwijk vor, nicht pragmatisch die beste Elf zu wählen und danach das System anzupassen.

Doch nicht nur das System wird diskutiert, auch die Chancenverwertung. Van Persie und Huntelaar, die bei den Fans hohes Ansehen genießen, werden nach den vergebenen Großchancen gegen Dänemark in Internet-Foren von Fans aus der Heimat verspottet. Und das hinterläßt auch bei den Spielern spuren. So zeigte sich Klaas-Jan Huntelaar zuletzt öffentlich unzufrieden: "Ich habe kein Problem mit van Persie, ich habe ein Problem, dass ich nicht spiele", sagte der Schalker.

Im Oranje-Fußball-Paradies ist einiges aus den Fugen geraten. Und dabei müssten sich die Holländer bei der Auswahl von Topstars eigentlich wie im Himmel fühlen.

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