Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche gibt es immer wieder – doch der am Donnerstag veröffentlichte Münchner Bericht erschüttert die Grundfesten der Institution wie es seit Langem nicht mehr der Fall war.
Das vom Erzbistum München und Freising selbst bei der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegebene Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden und wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor.
Die Staatsanwaltschaft München I untersucht derzeit 42 Fälle von mutmaßlichem Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger, bestätigte die Sprecherin der Behörde, Anne Leiding, der Deutschen Presse-Agentur. So reagiert die Presse auf den Skandal:
"Der Standard" (Österreich): "Dass der emeritierte Papst Benedikt XVI. eines Tages noch etwas Bedeutendes zu verkünden hat – nämlich dass er als Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger fehlbar war und Missbrauch vertuscht hat –, ist leider nicht zu erwarten. Er lebt abgeschottet in seiner eigenen Welt, seine Zeit in München erscheint wohl sehr weit weg. Für viele allerdings wäre Reue ein gewichtiges Zeichen. (...) Umso wichtiger ist, dass nun das Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl vorliegt – auch wenn es eine 'Bilanz des Schreckens' aus dem Erzbistum München und Freising ist, wie die Gutachter selbst sagen. (...) Das Motto 'Augen zu und mit Weihrauch durch' darf es nicht mehr geben. Das ist die Kirche den viel zu vielen Opfern schuldig. Zudem dient dies der Selbsterhaltung. Sonst sind auch im katholischen Bayern die Kirchen bald leer."
"Hannoversche Allgemeine Zeitung": "Das vorliegende Gutachten benennt konkret mutmaßliche Taten, Täter und Mitwisser auf allen Ebenen. Es outet einen späteren Papst als Vertuscher und den emeritierten Papst Benedikt XVI. als Leugner. So richten sich die Blicke auf den heutigen Stellvertreter Gottes auf Erden, Papst Franziskus. Der Vatikan möchte in das Gutachten Einblick nehmen, sichert allen Opfern seine Nähe zu und garantiert den Schutz der Kleinsten durch ein sicheres Umfeld. Leider sind diese Aussagen zur Glaubensfrage geworden."
"Rheinpfalz": "Wieder die Erkenntnis, dass die verantwortlichen Bischöfe auch rückwirkend kein Unrechts- oder Schuldbewusstsein erkennen ließen – dazu gehört auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. Es können noch so viele Gutachten eingeholt werden, sie werden keine neuen Erkenntnisse über die systemischen Ursachen des Missbrauchs in der katholischen Kirche bringen. Die sind längst bekannt. Ändern kann sich nur etwas, wenn die Männer an der Kirchenspitze endlich zu ihrem Fehlverhalten stehen."
"Rhein-Neckar-Zeitung": "Wenn sich Priester an Minderjährigen vergehen, das Abhängigkeitsverhältnis ebenso ausnutzen wie das selbst behauptete Moralgefälle, und wenn ihre Vorgesetzten das alles noch decken – wozu braucht man dann diese Institution? Eine Frage, die sich vor allem im Bistum Köln viele Gläubige gestellt und durch Kirchenaustritt beantwortet haben. Kardinal Woelki gilt dort als die personifizierte Uneinsichtigkeit. Seine geplante Rückkehr wird als Belastung empfunden. Ob es sich im Bistum München-Freising ebenso verhält und die Kluft zwischen Klerus und Basis immer tiefer wird, das hängt jetzt ganz von der Reaktion von Kardinal Marx ab. Anders als im Fall des emeritierten Papstes Benedikt, der durch das aktuelle Gutachten schwer belastet wird und jegliche Verantwortung von sich weist, scheint bei Marx die Möglichkeit glaubhafter Reue denkbar zu sein. Genau darum geht es. Der erste Schritt auf einem Weg zur Besserung war die Beauftragung des Gutachtens. Das alleine reicht aber nicht."
"Stuttgarter Zeitung": "Abstoßend ist die Wirklichkeit, von der namentlich die katholische Weltkirche seitdem durch die in der Gesamtheit längst noch nicht alle bekannten Missbrauchsskandale eingeholt worden ist. Von dieser Wirklichkeit wollte sie nichts wissen - und will es immer noch nicht, wie das Antwortschreiben des emeritierten Papstes Benedikt XVI. an die Ersteller eines von der Erzdiözese München-Freising in Auftrag gegebenen Gutachtens bezüglich des Missbrauchs im Bistum von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart mit teils perversen Haarspaltereien beweist."
"Südwest-Presse": "Es ist ein vernichtendes Urteil über den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum München und Freising - und über die Rolle des späteren Papstes Benedikt XVI. Joseph Ratzinger hat als Erzbischof gravierende Fehler begangen. Ausgerechnet gegenüber Missbrauchstätern war er lasch. Den Preis dafür bezahlten Kinder und Kirchengemeinden. Zwar gibt es Erfolge bei Prävention, doch risikobehaftete Strukturen existieren weiter. Deshalb darf die Aufarbeitung der Missbrauchsverbrechen nicht allein den Kirchen überlassen bleiben."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Obwohl sexuelle Gewalt nach staatlichem und kirchlichem Recht immer einen Straftatbestand darstellt, ziehen sich dieselben Kirchenmänner noch heute auf Normunkenntnis und Unzuständigkeit zurück, die bei Laien, etwa beim Verstoß gegen Normen der Lebensführung, nichts unterließen, um abweichendes Verhalten hart zu sanktionieren. (...) Die Fälle, um die es geht, sind spätestens durch das Gutachten minutiös belegt. Wie zynisch das Verhalten der Verantwortlichen angesichts dieser drückenden Beweislast ist, hat niemand Geringeres als der vormalige Papst Benedikt XVI. dokumentiert. Um eine Brandmauer zwischen die Karriere eines pädokriminellen Priesters und seine Amtsführung als Erzbischof von München und Freising zu ziehen, schreckte Ratzinger nicht einmal davor zurück, die offenbare Unwahrheit zu sagen."
"Schwäbische Zeitung": "Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist der Unwahrheit überführt. Der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx muss sich Verantwortungslosigkeit vorwerfen lassen. Dem ehemaligen Münchner Oberhirten, Kardinal Friedrich Wetter wird wiederholtes Fehlverhalten vorgeworfen. Das Münchner Missbrauchsgutachten legt schonungslos offen, dass die obersten Repräsentanten der katholischen Kirche in Deutschland wissentlich und mit Vorsatz den Missbrauch durch Priester vertuscht haben. Täterschutz und der Schutz der Institution Kirche waren und sind ihnen wichtig, Opferschutz war und bleibt für sie ein Fremdwort. Durch Beteiligung am Vertuschungsskandal und die Mitwisserschaft, die nicht nur in München in Köln, sondern wahrscheinlich in allen weiteren 25 deutschen Bistümern nachzuweisen sein dürften, ist die katholische Kirche in Deutschland an einem Kipppunkt angelangt: Das Vertrauen schwindet nicht nur, sondern ist auf lange Zeit nicht mehr zurückzugewinnen. Vielleicht nie mehr."