Nach der Explosion auf der Krim-Brücke überzieht die russische Armee weite Teile der Ukraine mit einem Raketenhagel. Ist das bereits die Handschrift von Putins neuem Ukraine-Befehlshaber Sergej Surowikin, der auch "General Armageddon" genannt wird? Im Video analysiert stern-Militärexperte Gernot Kramper aktuelle Entwicklungen im Ukraine-Krieg.
Taktik im Ukraine-Krieg "Wird in die Offensive gehen": stern-Experte bewertet Putins "General Armaggedon" Surowikin

Ukraine-Krieg: Putins "General Armageddon" Sergej Surowikin soll für Russland die Wende bringen (Foto von 2017)
Sehen Sie im Video: "Wird in die Offensive gehen" – stern-Experte bewertet Putins "General Armaggedon" Surowikin.
Gernot Kramper (stern) Vorausgesetzt, die Ukraine war es, was ja wohl anzunehmen ist. Dann ist das ein vom Geheimdienst ausgeführter Anschlag. Und diese Anschläge sind schwer zu planen. Der militärische Schaden würde überwiegen, wenn die Brücke komplett zerstört worden wäre. Das ist ein Hardliner. Das ist ein Mann ohne Skrupel. Und für die Truppen ist es ein siegreicher General.
Hendrik Holdmann (stern) Als Reaktion auf die Krim-Explosion mutmaßlich durch die Ukraine oder vielmehr den ukrainischen Geheimdienst SBU herbeigeführt, überzieht Putin gerade viele ukrainische Städte mit einem Raketen-Hagel. Was bringen diese Angriffe?
Gernot Kramper (stern) Also diese Angriffe teilen sich ja in drei verschiedene Dinge. Das eine ist das, dass sie ganz klar eine Terror-Wirkung haben. Das erkennt man vor allen Dingen daran, dass sie in der Rushhour in den Morgenstunden gemacht worden sind und nicht mitten in der Nacht, wo naturgemäß weniger Zivilisten unterwegs sind. Und sie sollen praktisch die ukrainische Bevölkerung daran erinnern, dass sie nach wie vor im Krieg sind, dass sie bedroht sind, dass sie in diesen Bunkern schlafen, dass das normale zivile Leben wieder zum Erliegen kommt. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist das, dass die Russen damit zeigen, dass sie nach wie vor über diese Waffen verfügen und so etwas machen können. Das sicherlich auch eine Reaktion auf den Angriff auf die Brücke. Weil in den letzten Monaten haben die Angriffe im Hinterland der Ukraine, also nicht im front-nahen Gebiet so 50, 70 Kilometer hinter der Frontlinie, ja deutlich nachgelassen. Das ist jetzt wieder stärker geworden oder es ist damit erinnert worden, dass man das machen kann. Und dann haben Sie natürlich auch eine militärische Bedeutung. Das Ziel ist ja nicht, irgendwelche Kinderspielplätze anzugreifen oder so, wieso auch immer da diese Rakete oder diese Cruise Missile runtergekommen ist. Das Ziel ist ja ganz offenkundig, dass die Russen vorhaben, sowohl Telekommunikation, vor allem aber die Stromversorgung der Ukraine zu lähmen. Dabei greifen sie gezielt Knotenpunkte im Moment an, um so zu versuchen, das Stromnetz zu belasten und auszuschalten. Was sie noch nicht tun, ist das, dass sie die Kraftwerke selber angreifen, was sie aber natürlich könnten. Wo nochmal eine Eskalation nach oben wäre. Also das hat neben der Terror-Wirkung also und der Erinnerungswirkung hat es eben einen militärischen Sinn. Das geht auf die Infrastruktur und in die Strominfrastruktur der Ukraine, indem man die versucht zu treffen und möglichst zu behindern. Und am Strom – wissen wir ja alle – hängt eine ganze Menge. Weil wenn der Strom ausfällt, auch fürs Militär, kann man sich mit Notstromaggregat behelfen, aber eine industrielle Produktion oder so etwas kann man natürlich nicht aufrechterhalten.
Hendrik Holdmann (stern) Der Ukraine-Krieg hat mit seinen Wendungen immer wieder überrascht, auch viele Militärexperten. In letzter Zeit hieß es immer wieder, Russland gehe langsam aber sicher die Munition aus. Haben die Angriffe auf Kiew und andere Städte in der Ukraine jetzt das Gegenteil bewiesen?
Gernot Kramper (stern) Nein, das kann man so nicht sagen. Sie haben vor allen Dingen gezeigt, dass die Russen nach wie vor auch noch Präzisionsmunition haben. Aber richtig bleibt, Russland führt diesen ganzen Krieg aus dem Magazin heraus. Weil die Produktion in Russland vor allen Dingen an neuen Geräten nicht ausreicht, den Bedarf oder die Verluste in diesem Krieg auszugleichen. Und jetzt kann man sich natürlich fragen: Wie groß sind die Magazine? Die Magazine sind bei verschiedenen Sachen wie Mörsern, Maschinengewehren, Sturmgewehren wahrscheinlich unendlich groß um diese Sachen, auch wenn sie dann zum Teil mal verrostet ins Bild kommen, lassen sich auch wieder aufarbeiten. Russland hat auch enorm viele Panzer, die man wieder aufarbeiten kann, vor allen Dingen wenn man auf eine umfassende Modernisierung verzichtet und sie nur feuer- und fahrfähig macht. Bei den moderneren Waffen, also Leitsystemen, alles was mit moderner Elektronik zu tun hat, gibt es natürlich sehr, sehr, sehr viel weniger. Einfach weil diese Geräte erst so ab 1990 im größeren Maßstab produziert worden sind. Also ein Sturmgewehr kann auch noch von 1980 eins a funktionieren. Das ist dann 500 Gramm schwerer als ein neues und vielleicht nicht ganz so präzise. Aber man hat natürlich keine Lenkwaffen aus den 50er, 60er und 70er Jahren übrig und das macht sich natürlich bemerkbar. Und Russland kann den Verbrauch, den es hat, nicht selber ausgleichen. Sie mögen zeigen, dass sie noch Vorräte haben. Aber dieses Grundprinzip, sie haben in diesem Jahr 3800, 4000 Cruise Missiles und und Raketen, mit größerer Reichweite verschossen, und die produzieren sie never ever. Also, sie produzieren ungefähr 300, 400 Stück im Jahr, in Friedenszeiten vielleicht durch die Sanktionen weniger. Vielleicht umgehen sie die Sanktionen, dann sind es auch ein bisschen mehr. Aber selbst, wenn Sie das verdoppeln könnten, was ich nicht glaube, sieht man ja, dass Sie mit einem Verbrauch von 3800 in nicht einmal einem Jahr niemals hinkommen.
Hendrik Holdmann (stern) Putin ernennt Serge Surowking, auch "General Armageddon" genannt, zum obersten Kommandeur im Ukraine-Krieg. Wie verändert das die Kriegsführung?
Gernot Kramper (stern) Also man sicherlich erwarten, dass ein energischer Kommandeur ist, der durchgreifen wird. Er ist aber vor allen Dingen ein Signal nach innen. Er ist ein Hardliner, ist ein Mann ohne Skrupel und für die Truppen ist es ein siegreicher General. Jetzt müssen wir mal die russische Perspektive nehmen. Für die Russen ist der Sieg in Syrien ja ein Sieg gewesen und nicht irgendwie eine Schlächterei wie sich das für uns darstellt. Und schon der erste General, der im Donbass die Wende gebracht hat, Dwornikow, hat ja auch seine in Anführungsstrichen Verdienste in Syrien erworben. Der ist abgelöst worden zum Teil. Da gibt es Gerüchte, dass Putin unzufrieden gewesen sei, weil er ein Trinker sei. Ähnliche Dinge. Umgekehrt hat man ihn aber auch wochenlang nicht gesehen. Es ist auch durchaus möglich, dass er einfach verletzt worden ist oder krank oder krank oder verletzt worden ist und deshalb in der Öffentlichkeit nicht mehr aufgetaucht ist. Also über diese Ablösung und auch über diese Personalie ist schon lange spekuliert worden. Das ist also keine Ad-hoc-Entscheidung. Das ist jedenfalls ein harter Knochen mit Kampferfahrung. Das ist ein Signal nach innen, aber wird sicherlich auch zu einer strafferen Führung der Kämpfe führen.
Hendrik Holdmann (stern) Woher kommt denn der Name "General Armageddon"?
Gernot Kramper (stern) Na, das sind natürlich diese Kämpfer um Aleppo herum. Das heißt der rücksichtslose Einsatz der Luftwaffe. Das wird von uns stark immer interpretiert, dass sie so rücksichtslos auf zivile Ziele losgegangen ist. Man muss aber wohl auch sagen, dass in diesen Kriegen in Syrien, tendenziell auch in der Ukraine die Trennung zwischen ziviler Infrastruktur und Truppen bewusst verschoben wird. Jetzt so zu tun, als würden in Syrien praktisch die Kämpfer sich absichtlich von der Zivilbevölkerung und ihren Einrichtungen ferngehalten haben, um diese Vermischung nicht stattfinden zu lassen, das ist sicherlich auch übertrieben. Man kann aber jedenfalls sagen, dass dieser General sich davon überhaupt keine Skrupel hat leiten lassen und ganz absichtlich diese Infrastruktur angegriffen hat. Das sind ja Fragen in Syrien. Das ist ja zum Beispiel jetzt nicht wie in der Ukraine. Aber wenn man gezielt anfängt, die Lebensmittelversorgung und vor allem die Trinkwasserversorgung anzugreifen, dann wird die Situation in einer belagerten Stadt natürlich insgesamt unhaltbar. Für die Kämpfer sicherlich, was primär beabsichtigt ist, aber natürlich auch für die Zivilbevölkerung, was dann auch wiederum den motivierenden Effekt auf die Kämpfe hat. Und für solche Methoden ist er eben bekannt, dass er davor nicht zurückgeschreckt hat. Insofern ist er ein harter Soldat oder man kann auch sagen Kriegsverbrecher, wenn man das denn will, und der sich von Skrupeln nicht zurückhalten lassen wird.
Hendrik Holdmann (stern) Die Explosion auf der Krim-Brücke, das ist ja Putins Prestigeobjekt gewesen, das hat er selber eingeweiht, ist mit einem LKW dort rüber gefahren, ist bei dem Anschlag, bei der Explosion stark beschädigt worden. Wie konnte dieser Anschlag ausgeführt werden und warum kam er genau jetzt?
Gernot Kramper (stern) Mal vorausgesetzt, die Ukraine war es, was ja wohl anzunehmen ist. Dann ist das ein vom Geheimdienst ausgeführter Anschlag. Und diese Anschläge sind schwer zu planen. Sie müssen verborgen gehalten werden, insbesondere wenn es sich nicht um ein Attentat wie auf diese Tochter von diesem Eurasien-Philosophen, die ja nicht geschützt ist, handelt, wo man praktisch nur zwei Leute mit Waffen braucht, sondern hier muss man ja Sprengstoffe besorgen. Das ist auch eine bestimmte Form der Ladung, die nötig ist, um die nach unten losgeht, um auf diese Brücke so einzuwirken. Und das muss alles in Russland irgendwie beschafft werden, zusammengebaut werden und dann auf einen LKW verbracht werden. Eventuell muss man sogar noch einen Selbstmord-Fahrer rekrutieren. Das kann man jetzt noch nicht sagen. Ist auch durchaus möglich, dass der Fahrer gar nicht wusste, was er da hinten auf der Ladung hatte und dass das Ding aus einem anderen Fahrzeug oder per GPS die Explosion herbeigeführt worden ist. Das ist jedenfalls eine extrem komplexe Operation, die man nicht nach Belieben terminieren kann. Wenn die fertig sind mit ihrer Vorbereitung, dann ist es auch an der Zeit, das zu machen, weil die Gefahr der Entdeckung ja sehr groß ist. Das heißt, da ist man praktisch von den Möglichkeiten des Geheimdienstes auch abhängig. Aber man sieht hier ja auch in Anführungsstrichen eine Eskalation, dass die Ukraine den Krieg in die von Russland besetzten Gebiete führt, dass sie in Moskau zuschlagen, dass sie das zeigen, dass sie das können und dass sie insofern den Druck auf Putin, den Druck auf diesen Krieg erhöhen. Wobei man wohl sagen muss, dass diese Brücke und wie auch der Hafen Sewastopol auch sonst ein Ziel gewesen wäre, aber sich wohl mit militärischen Mitteln so leicht nicht zu erreichen ließ, dass man deshalb praktisch auf diese Methode umgestiegen ist, die bei einer ja doch viel befahrenen Brücke eben verdammt schwer auch zu verhindern ist. Es sei denn, jedes einzelne Fahrzeug wird akribisch kontrolliert oder zumindest kontrolliert. Es ist ja eine größere Sprengladung. Das ist ja keine Aktentasche gewesen, aber der ist offenbar so durchgekommen. Ob durch Zufall oder durch Bestechung oder weil da wiederum andere Geheimdienstleute gearbeitet haben, wissen wir nicht. Man kann nur sagen: Es ist jedenfalls eine sehr komplexe, aufwendige Geheimdienstoperationen. Und da würde ich die Terminierung, also den eigentlichen Zeitplan, sicherlich eher von Zufälligkeiten dieser Planung abhängig machen, als dass sich das jetzt in Kiew jemand genau ausgedacht hat, dass es an diesem Tag passieren muss.
Hendrik Holdmann (stern) Was würdest du sagen: Ist der Schaden an der Infrastruktur oder der "moralische Schaden" für Putin oder der Schaden für Putin in seinem Ansehen größer?
Gernot Kramper (stern) Da ja der Schaden für Putin in seinem Ansehen ist ja klar. Das ist ein Prestigeobjekt. Man merkt auch, dass die Ukraine zurückschlagen kann, dass sie Ziele im russischen eigentlichen Gebiet angreifen kann. Oder die Krim gehört ja zumindest im Bewusstsein vieler Russen inzwischen praktisch doch zu Russland und wird im Kopf nicht so als annektiert abgespeichert, was sie ja de facto ist. Und das ist natürlich schon eine Veränderung der Kriegslage. Über diese Brücke Brücke läuft ne Menge Nachschub. Damit und ist die ganze Krim verbunden. Das kann man mit Fähren und anderen Sachen natürlich ausgleichen, zumal die Brücke ja auch nicht komplett kaputtgegangen ist. Aber insgesamt muss man sagen: Im Moment ist der moralische Schaden größer als der militärische Schaden. Der militärische Schaden würde überwiegen, wenn die Brücke komplett zerstört worden wäre.
Hendrik Holdmann (stern) Joe Biden hat als Reaktion auf die massiven Raketenangriffe Russlands auf Städte in der Ukraine weitere Waffenlieferungen – unter anderem hochmoderner Luftabwehrsysteme –zugesagt? Ist der Ukraine-Krieg mittlerweile längst ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA? Kann man das so sagen?
Gernot Kramper (stern) Da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Im technischen Sinne ist das natürlich ein Stellvertreterkrieg. Aber weil die Ukraine ohne die amerikanische Unterstützung, ohne die Unterstützung durch die USA und deren Verbündeten, also auch so kleinen Mächten, wie wir das nun mal sind, den Krieg ja schon verloren hat. Da muss man gar nicht lange drüber rumdiskutieren, da nützt auch die Moral der Soldaten nichts. Ihnen würde es an Waffen fehlen, es würde ihnen an Kommunikation fehlen. Viele Dinge, mit denen sie tatsächlich die Überhand gewinnen, kommen ja aus dem amerikanischen Arsenal. Die Informationen, die zu diesen Siegen der Ukraine führen, sind ja vermutlich größtenteils aus Amerika. So. Stellvertreterkrieg hat aber häufig im landläufigen Sinn die Vorstellung, als würden beide Mächte ihren Kämpfer in die Laufbahn schubsen. Und das ist natürlich nicht der Fall. Das eine ist, dass Russland natürlich in Person und jetzt nicht wie in Angola-Krieg mit so einer Freiheitsbewegung agiert. Und das andere, weil die Ukraine natürlich überfallen worden ist und von sich aus diesen Krieg nicht gesucht hat. Also das heißt, da gibt es so eine Begriffsverwirrung. In einem technischen Sinne kann man schon davon sprechen, dass hinter, wenn man meint, dass hinter der Ukraine die geballte Militärmacht der USA irgendwie doch steht, in dem landläufigen Sinn, dass man sagt, ja, das sind praktisch USA und Russland, führen gegeneinander Krieg. Und haben sich da zwei Dumme gesucht, die für sie aufeinander losgehen ist das natürlich nicht richtig.
Hendrik Holdmann (stern) Wie wird sich dieser Krieg in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln?
Gernot Kramper (stern) Das wird ja ein Rennen zum Winter geben, um das mal so zu sagen. Beide Seiten werden versuchen, ihre Positionen zu verbessern. Also so, wir haben ja vor dem Raketen-Schlag hatte man ja den Eindruck, dass die Russen vollkommen in der Rückhand sind, dass sie die Initiative verloren haben, dass sie vor sich hergetrieben werden. Und das ist in gewisser Weise auch richtig, weil sie große Gebietsverluste hatten mit chaotischen Rückzugsbedingungen, weil sie auch Truppen verloren haben, auch ausgezeichnete Truppen in schwieriger Lage, große Verluste hinnehmen mussten. Und in gewisser Weise gelang es ihnen inzwischen, ihre Verteidigungsposition etwas zu stabilisieren, weil sie die Linien gestrafft haben. Aber man wird jetzt sehen, dass der neue Oberkommandeur in eine Offensive gehen wird. Das wird er auf jeden Fall versuchen. Und er wird versuchen, vor allem in der Donbass-Front Fortschritte zu erreichen und woanders auch. Es ist also ein offenes Ringen, weil wir sehen natürlich die Verluste der Russen sehr groß und die werden auch von uns dargestellt und die Flächenverluste sind auch enorm, da muss man ja gar nicht drüber hinterherreden. Die Russen feiern das ab, dass sie ein halbes Dörflein eingenommen haben und verlieren da tausende von Quadratkilometern. Das steht in gar keinem Verhältnis. Umgekehrt sind aber auch die Personal- und technischen Verluste der Ukraine an Material sehr groß. Da muss man immer auf Telegram gehen, um sich das anzugucken. Oder mal ein anderes Beispiel: Die Ukrainer sind sich ja auch nicht immer zu schade dafür Fake-Videos zu drehen, indem sie eigene Verluste so umdrappieren, dass man glauben soll, dass es Russen sind. Also so, diese Tricks haben ja beide Seiten da drauf. Das heißt, es ist im Moment tatsächlich eine Frage: Ist die Ukraine in der Lage, diese erfolgreiche Offensive weiter zu nähren, neue Truppen, weitere Durchbrüche zu erzielen? Oder gelingt es den Russen mit ihrem neuen General das Blatt zu wenden? Ich glaube selber, dass wir eher auf einen Patt zukommen werden, weil ich den Russen diese Stärke nicht mehr zutraue. Ich glaube nicht, dass sie die Stärke haben, diese Luft-Offensive oder Raketen-Offensive in der Tiefe des Landes dauerhaft durchzuführen. Dass sie dauerhaft die Stromversorgung beispielsweise oder die Eisenbahn wirklich leben können, das hätten Sie vielleicht zu Beginn des Krieges machen können. Das sehe ich im Moment nicht mehr. Da nützt es auch nichts, dass man noch mal irgendwo 60 oder auch 200, 300 Raketen zusammengekratzt, um das zu machen. Und ich glaube auch nicht, dass der stärkere Einsatz der Luftwaffe, wie sie unter diesem General ja zu erwarten ist, zu Erfolg des Wettrüstens führt. Das führt natürlich zu Verlusten auf der ukrainischen Seite. Das ist natürlich klar, wenn der Gegner mehr Flugzeuge in die Luft bringt. Es wird aber vor allen Dingen auch zum Verlust von Flugzeugen führen und Hubschraubern. Und das kann Russland immer weniger verkraften. Also ich sehe da die große Wende zugunsten Russlands nicht. Und tendenziell ist es so, wie du schon erwähnt hast, on the long run wird die Ukraine immer stärker durch die Zulieferungen aus dem Westen. Weil die Amerikaner bereit sind, ihre Arsenale zu leeren, um die Ukraine zu unterstützen. Dann haben die doch einen großen Vorrat auf ihrer Seite und das kann Russland auf Dauer nicht aus dem Magazin abfangen. Die einzige Chance von Russland ist ja, dass andere Länder ihre Rüstungsproduktion zur Verfügung stellen, um das Material zu liefern. So wie das Mullahregime mit den Drohnen. Vielleicht Nordkorea. Und die große Frage ist am Ende natürlich: Hält sich China von dem in Anführungsstrichen Verlierer Putin fern? Oder wird China sich in diesen Krieg stärker engagieren, um ein Zusammenbrechen des Putin-Regimes abzufangen? Das ist aber eine reine Spekulation. Im Moment ist es so, dass ich nicht glaube, dass die Russen große Erfolge haben werden. Kann sein, dass die Ukraine auch keine mehr hat und das geht so in den Winter. Aber tendenziell wird die Ukraine stärker und die Russen werden schwächer. Daran wird auch die Mobilisierung nichts nützen.
Gernot Kramper (stern) Vorausgesetzt, die Ukraine war es, was ja wohl anzunehmen ist. Dann ist das ein vom Geheimdienst ausgeführter Anschlag. Und diese Anschläge sind schwer zu planen. Der militärische Schaden würde überwiegen, wenn die Brücke komplett zerstört worden wäre. Das ist ein Hardliner. Das ist ein Mann ohne Skrupel. Und für die Truppen ist es ein siegreicher General.
Hendrik Holdmann (stern) Als Reaktion auf die Krim-Explosion mutmaßlich durch die Ukraine oder vielmehr den ukrainischen Geheimdienst SBU herbeigeführt, überzieht Putin gerade viele ukrainische Städte mit einem Raketen-Hagel. Was bringen diese Angriffe?
Gernot Kramper (stern) Also diese Angriffe teilen sich ja in drei verschiedene Dinge. Das eine ist das, dass sie ganz klar eine Terror-Wirkung haben. Das erkennt man vor allen Dingen daran, dass sie in der Rushhour in den Morgenstunden gemacht worden sind und nicht mitten in der Nacht, wo naturgemäß weniger Zivilisten unterwegs sind. Und sie sollen praktisch die ukrainische Bevölkerung daran erinnern, dass sie nach wie vor im Krieg sind, dass sie bedroht sind, dass sie in diesen Bunkern schlafen, dass das normale zivile Leben wieder zum Erliegen kommt. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist das, dass die Russen damit zeigen, dass sie nach wie vor über diese Waffen verfügen und so etwas machen können. Das sicherlich auch eine Reaktion auf den Angriff auf die Brücke. Weil in den letzten Monaten haben die Angriffe im Hinterland der Ukraine, also nicht im front-nahen Gebiet so 50, 70 Kilometer hinter der Frontlinie, ja deutlich nachgelassen. Das ist jetzt wieder stärker geworden oder es ist damit erinnert worden, dass man das machen kann. Und dann haben Sie natürlich auch eine militärische Bedeutung. Das Ziel ist ja nicht, irgendwelche Kinderspielplätze anzugreifen oder so, wieso auch immer da diese Rakete oder diese Cruise Missile runtergekommen ist. Das Ziel ist ja ganz offenkundig, dass die Russen vorhaben, sowohl Telekommunikation, vor allem aber die Stromversorgung der Ukraine zu lähmen. Dabei greifen sie gezielt Knotenpunkte im Moment an, um so zu versuchen, das Stromnetz zu belasten und auszuschalten. Was sie noch nicht tun, ist das, dass sie die Kraftwerke selber angreifen, was sie aber natürlich könnten. Wo nochmal eine Eskalation nach oben wäre. Also das hat neben der Terror-Wirkung also und der Erinnerungswirkung hat es eben einen militärischen Sinn. Das geht auf die Infrastruktur und in die Strominfrastruktur der Ukraine, indem man die versucht zu treffen und möglichst zu behindern. Und am Strom – wissen wir ja alle – hängt eine ganze Menge. Weil wenn der Strom ausfällt, auch fürs Militär, kann man sich mit Notstromaggregat behelfen, aber eine industrielle Produktion oder so etwas kann man natürlich nicht aufrechterhalten.
Hendrik Holdmann (stern) Der Ukraine-Krieg hat mit seinen Wendungen immer wieder überrascht, auch viele Militärexperten. In letzter Zeit hieß es immer wieder, Russland gehe langsam aber sicher die Munition aus. Haben die Angriffe auf Kiew und andere Städte in der Ukraine jetzt das Gegenteil bewiesen?
Gernot Kramper (stern) Nein, das kann man so nicht sagen. Sie haben vor allen Dingen gezeigt, dass die Russen nach wie vor auch noch Präzisionsmunition haben. Aber richtig bleibt, Russland führt diesen ganzen Krieg aus dem Magazin heraus. Weil die Produktion in Russland vor allen Dingen an neuen Geräten nicht ausreicht, den Bedarf oder die Verluste in diesem Krieg auszugleichen. Und jetzt kann man sich natürlich fragen: Wie groß sind die Magazine? Die Magazine sind bei verschiedenen Sachen wie Mörsern, Maschinengewehren, Sturmgewehren wahrscheinlich unendlich groß um diese Sachen, auch wenn sie dann zum Teil mal verrostet ins Bild kommen, lassen sich auch wieder aufarbeiten. Russland hat auch enorm viele Panzer, die man wieder aufarbeiten kann, vor allen Dingen wenn man auf eine umfassende Modernisierung verzichtet und sie nur feuer- und fahrfähig macht. Bei den moderneren Waffen, also Leitsystemen, alles was mit moderner Elektronik zu tun hat, gibt es natürlich sehr, sehr, sehr viel weniger. Einfach weil diese Geräte erst so ab 1990 im größeren Maßstab produziert worden sind. Also ein Sturmgewehr kann auch noch von 1980 eins a funktionieren. Das ist dann 500 Gramm schwerer als ein neues und vielleicht nicht ganz so präzise. Aber man hat natürlich keine Lenkwaffen aus den 50er, 60er und 70er Jahren übrig und das macht sich natürlich bemerkbar. Und Russland kann den Verbrauch, den es hat, nicht selber ausgleichen. Sie mögen zeigen, dass sie noch Vorräte haben. Aber dieses Grundprinzip, sie haben in diesem Jahr 3800, 4000 Cruise Missiles und und Raketen, mit größerer Reichweite verschossen, und die produzieren sie never ever. Also, sie produzieren ungefähr 300, 400 Stück im Jahr, in Friedenszeiten vielleicht durch die Sanktionen weniger. Vielleicht umgehen sie die Sanktionen, dann sind es auch ein bisschen mehr. Aber selbst, wenn Sie das verdoppeln könnten, was ich nicht glaube, sieht man ja, dass Sie mit einem Verbrauch von 3800 in nicht einmal einem Jahr niemals hinkommen.
Hendrik Holdmann (stern) Putin ernennt Serge Surowking, auch "General Armageddon" genannt, zum obersten Kommandeur im Ukraine-Krieg. Wie verändert das die Kriegsführung?
Gernot Kramper (stern) Also man sicherlich erwarten, dass ein energischer Kommandeur ist, der durchgreifen wird. Er ist aber vor allen Dingen ein Signal nach innen. Er ist ein Hardliner, ist ein Mann ohne Skrupel und für die Truppen ist es ein siegreicher General. Jetzt müssen wir mal die russische Perspektive nehmen. Für die Russen ist der Sieg in Syrien ja ein Sieg gewesen und nicht irgendwie eine Schlächterei wie sich das für uns darstellt. Und schon der erste General, der im Donbass die Wende gebracht hat, Dwornikow, hat ja auch seine in Anführungsstrichen Verdienste in Syrien erworben. Der ist abgelöst worden zum Teil. Da gibt es Gerüchte, dass Putin unzufrieden gewesen sei, weil er ein Trinker sei. Ähnliche Dinge. Umgekehrt hat man ihn aber auch wochenlang nicht gesehen. Es ist auch durchaus möglich, dass er einfach verletzt worden ist oder krank oder krank oder verletzt worden ist und deshalb in der Öffentlichkeit nicht mehr aufgetaucht ist. Also über diese Ablösung und auch über diese Personalie ist schon lange spekuliert worden. Das ist also keine Ad-hoc-Entscheidung. Das ist jedenfalls ein harter Knochen mit Kampferfahrung. Das ist ein Signal nach innen, aber wird sicherlich auch zu einer strafferen Führung der Kämpfe führen.
Hendrik Holdmann (stern) Woher kommt denn der Name "General Armageddon"?
Gernot Kramper (stern) Na, das sind natürlich diese Kämpfer um Aleppo herum. Das heißt der rücksichtslose Einsatz der Luftwaffe. Das wird von uns stark immer interpretiert, dass sie so rücksichtslos auf zivile Ziele losgegangen ist. Man muss aber wohl auch sagen, dass in diesen Kriegen in Syrien, tendenziell auch in der Ukraine die Trennung zwischen ziviler Infrastruktur und Truppen bewusst verschoben wird. Jetzt so zu tun, als würden in Syrien praktisch die Kämpfer sich absichtlich von der Zivilbevölkerung und ihren Einrichtungen ferngehalten haben, um diese Vermischung nicht stattfinden zu lassen, das ist sicherlich auch übertrieben. Man kann aber jedenfalls sagen, dass dieser General sich davon überhaupt keine Skrupel hat leiten lassen und ganz absichtlich diese Infrastruktur angegriffen hat. Das sind ja Fragen in Syrien. Das ist ja zum Beispiel jetzt nicht wie in der Ukraine. Aber wenn man gezielt anfängt, die Lebensmittelversorgung und vor allem die Trinkwasserversorgung anzugreifen, dann wird die Situation in einer belagerten Stadt natürlich insgesamt unhaltbar. Für die Kämpfer sicherlich, was primär beabsichtigt ist, aber natürlich auch für die Zivilbevölkerung, was dann auch wiederum den motivierenden Effekt auf die Kämpfe hat. Und für solche Methoden ist er eben bekannt, dass er davor nicht zurückgeschreckt hat. Insofern ist er ein harter Soldat oder man kann auch sagen Kriegsverbrecher, wenn man das denn will, und der sich von Skrupeln nicht zurückhalten lassen wird.
Hendrik Holdmann (stern) Die Explosion auf der Krim-Brücke, das ist ja Putins Prestigeobjekt gewesen, das hat er selber eingeweiht, ist mit einem LKW dort rüber gefahren, ist bei dem Anschlag, bei der Explosion stark beschädigt worden. Wie konnte dieser Anschlag ausgeführt werden und warum kam er genau jetzt?
Gernot Kramper (stern) Mal vorausgesetzt, die Ukraine war es, was ja wohl anzunehmen ist. Dann ist das ein vom Geheimdienst ausgeführter Anschlag. Und diese Anschläge sind schwer zu planen. Sie müssen verborgen gehalten werden, insbesondere wenn es sich nicht um ein Attentat wie auf diese Tochter von diesem Eurasien-Philosophen, die ja nicht geschützt ist, handelt, wo man praktisch nur zwei Leute mit Waffen braucht, sondern hier muss man ja Sprengstoffe besorgen. Das ist auch eine bestimmte Form der Ladung, die nötig ist, um die nach unten losgeht, um auf diese Brücke so einzuwirken. Und das muss alles in Russland irgendwie beschafft werden, zusammengebaut werden und dann auf einen LKW verbracht werden. Eventuell muss man sogar noch einen Selbstmord-Fahrer rekrutieren. Das kann man jetzt noch nicht sagen. Ist auch durchaus möglich, dass der Fahrer gar nicht wusste, was er da hinten auf der Ladung hatte und dass das Ding aus einem anderen Fahrzeug oder per GPS die Explosion herbeigeführt worden ist. Das ist jedenfalls eine extrem komplexe Operation, die man nicht nach Belieben terminieren kann. Wenn die fertig sind mit ihrer Vorbereitung, dann ist es auch an der Zeit, das zu machen, weil die Gefahr der Entdeckung ja sehr groß ist. Das heißt, da ist man praktisch von den Möglichkeiten des Geheimdienstes auch abhängig. Aber man sieht hier ja auch in Anführungsstrichen eine Eskalation, dass die Ukraine den Krieg in die von Russland besetzten Gebiete führt, dass sie in Moskau zuschlagen, dass sie das zeigen, dass sie das können und dass sie insofern den Druck auf Putin, den Druck auf diesen Krieg erhöhen. Wobei man wohl sagen muss, dass diese Brücke und wie auch der Hafen Sewastopol auch sonst ein Ziel gewesen wäre, aber sich wohl mit militärischen Mitteln so leicht nicht zu erreichen ließ, dass man deshalb praktisch auf diese Methode umgestiegen ist, die bei einer ja doch viel befahrenen Brücke eben verdammt schwer auch zu verhindern ist. Es sei denn, jedes einzelne Fahrzeug wird akribisch kontrolliert oder zumindest kontrolliert. Es ist ja eine größere Sprengladung. Das ist ja keine Aktentasche gewesen, aber der ist offenbar so durchgekommen. Ob durch Zufall oder durch Bestechung oder weil da wiederum andere Geheimdienstleute gearbeitet haben, wissen wir nicht. Man kann nur sagen: Es ist jedenfalls eine sehr komplexe, aufwendige Geheimdienstoperationen. Und da würde ich die Terminierung, also den eigentlichen Zeitplan, sicherlich eher von Zufälligkeiten dieser Planung abhängig machen, als dass sich das jetzt in Kiew jemand genau ausgedacht hat, dass es an diesem Tag passieren muss.
Hendrik Holdmann (stern) Was würdest du sagen: Ist der Schaden an der Infrastruktur oder der "moralische Schaden" für Putin oder der Schaden für Putin in seinem Ansehen größer?
Gernot Kramper (stern) Da ja der Schaden für Putin in seinem Ansehen ist ja klar. Das ist ein Prestigeobjekt. Man merkt auch, dass die Ukraine zurückschlagen kann, dass sie Ziele im russischen eigentlichen Gebiet angreifen kann. Oder die Krim gehört ja zumindest im Bewusstsein vieler Russen inzwischen praktisch doch zu Russland und wird im Kopf nicht so als annektiert abgespeichert, was sie ja de facto ist. Und das ist natürlich schon eine Veränderung der Kriegslage. Über diese Brücke Brücke läuft ne Menge Nachschub. Damit und ist die ganze Krim verbunden. Das kann man mit Fähren und anderen Sachen natürlich ausgleichen, zumal die Brücke ja auch nicht komplett kaputtgegangen ist. Aber insgesamt muss man sagen: Im Moment ist der moralische Schaden größer als der militärische Schaden. Der militärische Schaden würde überwiegen, wenn die Brücke komplett zerstört worden wäre.
Hendrik Holdmann (stern) Joe Biden hat als Reaktion auf die massiven Raketenangriffe Russlands auf Städte in der Ukraine weitere Waffenlieferungen – unter anderem hochmoderner Luftabwehrsysteme –zugesagt? Ist der Ukraine-Krieg mittlerweile längst ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA? Kann man das so sagen?
Gernot Kramper (stern) Da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Im technischen Sinne ist das natürlich ein Stellvertreterkrieg. Aber weil die Ukraine ohne die amerikanische Unterstützung, ohne die Unterstützung durch die USA und deren Verbündeten, also auch so kleinen Mächten, wie wir das nun mal sind, den Krieg ja schon verloren hat. Da muss man gar nicht lange drüber rumdiskutieren, da nützt auch die Moral der Soldaten nichts. Ihnen würde es an Waffen fehlen, es würde ihnen an Kommunikation fehlen. Viele Dinge, mit denen sie tatsächlich die Überhand gewinnen, kommen ja aus dem amerikanischen Arsenal. Die Informationen, die zu diesen Siegen der Ukraine führen, sind ja vermutlich größtenteils aus Amerika. So. Stellvertreterkrieg hat aber häufig im landläufigen Sinn die Vorstellung, als würden beide Mächte ihren Kämpfer in die Laufbahn schubsen. Und das ist natürlich nicht der Fall. Das eine ist, dass Russland natürlich in Person und jetzt nicht wie in Angola-Krieg mit so einer Freiheitsbewegung agiert. Und das andere, weil die Ukraine natürlich überfallen worden ist und von sich aus diesen Krieg nicht gesucht hat. Also das heißt, da gibt es so eine Begriffsverwirrung. In einem technischen Sinne kann man schon davon sprechen, dass hinter, wenn man meint, dass hinter der Ukraine die geballte Militärmacht der USA irgendwie doch steht, in dem landläufigen Sinn, dass man sagt, ja, das sind praktisch USA und Russland, führen gegeneinander Krieg. Und haben sich da zwei Dumme gesucht, die für sie aufeinander losgehen ist das natürlich nicht richtig.
Hendrik Holdmann (stern) Wie wird sich dieser Krieg in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln?
Gernot Kramper (stern) Das wird ja ein Rennen zum Winter geben, um das mal so zu sagen. Beide Seiten werden versuchen, ihre Positionen zu verbessern. Also so, wir haben ja vor dem Raketen-Schlag hatte man ja den Eindruck, dass die Russen vollkommen in der Rückhand sind, dass sie die Initiative verloren haben, dass sie vor sich hergetrieben werden. Und das ist in gewisser Weise auch richtig, weil sie große Gebietsverluste hatten mit chaotischen Rückzugsbedingungen, weil sie auch Truppen verloren haben, auch ausgezeichnete Truppen in schwieriger Lage, große Verluste hinnehmen mussten. Und in gewisser Weise gelang es ihnen inzwischen, ihre Verteidigungsposition etwas zu stabilisieren, weil sie die Linien gestrafft haben. Aber man wird jetzt sehen, dass der neue Oberkommandeur in eine Offensive gehen wird. Das wird er auf jeden Fall versuchen. Und er wird versuchen, vor allem in der Donbass-Front Fortschritte zu erreichen und woanders auch. Es ist also ein offenes Ringen, weil wir sehen natürlich die Verluste der Russen sehr groß und die werden auch von uns dargestellt und die Flächenverluste sind auch enorm, da muss man ja gar nicht drüber hinterherreden. Die Russen feiern das ab, dass sie ein halbes Dörflein eingenommen haben und verlieren da tausende von Quadratkilometern. Das steht in gar keinem Verhältnis. Umgekehrt sind aber auch die Personal- und technischen Verluste der Ukraine an Material sehr groß. Da muss man immer auf Telegram gehen, um sich das anzugucken. Oder mal ein anderes Beispiel: Die Ukrainer sind sich ja auch nicht immer zu schade dafür Fake-Videos zu drehen, indem sie eigene Verluste so umdrappieren, dass man glauben soll, dass es Russen sind. Also so, diese Tricks haben ja beide Seiten da drauf. Das heißt, es ist im Moment tatsächlich eine Frage: Ist die Ukraine in der Lage, diese erfolgreiche Offensive weiter zu nähren, neue Truppen, weitere Durchbrüche zu erzielen? Oder gelingt es den Russen mit ihrem neuen General das Blatt zu wenden? Ich glaube selber, dass wir eher auf einen Patt zukommen werden, weil ich den Russen diese Stärke nicht mehr zutraue. Ich glaube nicht, dass sie die Stärke haben, diese Luft-Offensive oder Raketen-Offensive in der Tiefe des Landes dauerhaft durchzuführen. Dass sie dauerhaft die Stromversorgung beispielsweise oder die Eisenbahn wirklich leben können, das hätten Sie vielleicht zu Beginn des Krieges machen können. Das sehe ich im Moment nicht mehr. Da nützt es auch nichts, dass man noch mal irgendwo 60 oder auch 200, 300 Raketen zusammengekratzt, um das zu machen. Und ich glaube auch nicht, dass der stärkere Einsatz der Luftwaffe, wie sie unter diesem General ja zu erwarten ist, zu Erfolg des Wettrüstens führt. Das führt natürlich zu Verlusten auf der ukrainischen Seite. Das ist natürlich klar, wenn der Gegner mehr Flugzeuge in die Luft bringt. Es wird aber vor allen Dingen auch zum Verlust von Flugzeugen führen und Hubschraubern. Und das kann Russland immer weniger verkraften. Also ich sehe da die große Wende zugunsten Russlands nicht. Und tendenziell ist es so, wie du schon erwähnt hast, on the long run wird die Ukraine immer stärker durch die Zulieferungen aus dem Westen. Weil die Amerikaner bereit sind, ihre Arsenale zu leeren, um die Ukraine zu unterstützen. Dann haben die doch einen großen Vorrat auf ihrer Seite und das kann Russland auf Dauer nicht aus dem Magazin abfangen. Die einzige Chance von Russland ist ja, dass andere Länder ihre Rüstungsproduktion zur Verfügung stellen, um das Material zu liefern. So wie das Mullahregime mit den Drohnen. Vielleicht Nordkorea. Und die große Frage ist am Ende natürlich: Hält sich China von dem in Anführungsstrichen Verlierer Putin fern? Oder wird China sich in diesen Krieg stärker engagieren, um ein Zusammenbrechen des Putin-Regimes abzufangen? Das ist aber eine reine Spekulation. Im Moment ist es so, dass ich nicht glaube, dass die Russen große Erfolge haben werden. Kann sein, dass die Ukraine auch keine mehr hat und das geht so in den Winter. Aber tendenziell wird die Ukraine stärker und die Russen werden schwächer. Daran wird auch die Mobilisierung nichts nützen.