Dutzende Menschen – darunter mindestens zwölf US-Soldaten – sind nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums bei einem Anschlag am Flughafen in Kabul getötet worden. Der mutmaßliche Verantwortliche: der "Islamische Staat Provinz Khorasan" (ISKP). Für die Terrormiliz ist jeder, der nicht zu ihnen gehört – egal, ob Taliban oder USA – ein Feind. Doch wie gefährlich ist der ISKP wirklich?
ISKP – die Extremen unter den Extremisten
Wie der stern berichtete, handelt es sich beim ISKP, der auch als ISIS-K bekannt ist, um einen Ableger der gefürchteten Terrorgruppe aus Syrien und dem Irak. Zu seinen Hochzeiten soll der ISKP über bis zu 4000 Kämpfer verfügt haben. Doch der ISKP ist vor allem eines: ein Sammelbecken der Extremen unter den Extremisten.
Erstmals in Erscheinung getreten ist die Gruppe im Sommer 2014. Damals schlossen sich einige Hundert pakistanische Taliban-Kämpfer zusammen, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. In Afghanistan zog die Gruppierung schnell weitere gleichgesinnte Extremisten an, darunter auch Deserteure der afghanischen Taliban, denen das Vorgehen der Islamisten noch zu moderat war.
Die Zahl der Taliban-Überläufer wuchs weiter an, vor allem, nachdem die Taliban sich zu Friedensgesprächen mit den USA bereiterklärt hatten. Der ISKP bot den Abwanderern eine radikalere Heimat. Hinzu kamen Glaubenskrieger verschiedener Extremistengruppen: Anhänger der Islamischen Bewegung Usbekistans, Kämpfer aus Irans einziger sunnitisch-muslimischer Mehrheitsprovinz und Mitglieder der Islamischen Partei Turkistans, zu denen auch Uiguren aus Chinas Nordosten gehörten.
Dem "Global Terrorism Index 2019" des Institute for Economics and Peace zufolge gehörte der ISKP bereits 2018 zu den vier gefährlichsten Terrororganisationen der Welt. Laut einem Bericht der Nachrichtenwebsite "The Conversation" mussten die Extremisten in der Folgezeit jedoch empfindliche Niederlagen einstecken, so dass sie von einigen Experten Anfang 2020 bereits als zu vernachlässigende Größe betrachtet wurden. Ein vorschnelles Urteil, wie sich spätestens seit dem Anschlag am Flughafen von Kabul gezeigt hat.
Globaler Terror: Was der ISKP erreichen will
Was ist aber der Unterschied zwischen den Taliban und dem ISKP? Was macht die Splittergruppe so gefährlich? Salopp gesagt: Der Machtanspruch der Taliban beschränkt sich auf Afghanistan. Der ISKP will den Terror gemäß der IS-Ideologie in die ganze Welt tragen, erklärte der ehemalige FBI-Beamte Karl Schmae in einem Interview mit dem dem US-Radiosender "KSL News". Schmae zufolge sind die Taliban ihrem Ziel mit dem Einmarsch in Kabul bereits nahegekommen. Wie im Kampf gegen die Sowjettruppen von 1979 bis 1989 wollten sie die ausländischen Besatzer vertreiben. Dem ISKP hingegen gehe das nicht annähernd weit genug. Das Ziel seien internationale Terroranschläge – vor allem in den USA.
Zwischen den beiden Organisationen gebe es zudem gravierende ideologische Unterschiede, betont Rami Ali von der Humboldt-Universität Berlin gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Der IS sei dem Salafismus zuzurechnen, die Taliban hätten dagegen einen ganz anderen theologischen und politischen Hintergrund. Für erstere stelle der Nationalismus der Taliban "eine Art Abfall vom Glauben" dar.
Laut einem Interview, das das Nachrichtennetzwerk "The Conversation" mit zwei US-Extremismusforschern geführt hat, will der ISKP zunächst "einen Brückenkopf für die Bewegung Islamischer Staat zu schaffen, um ihr so genanntes Kalifat auf Zentral- und Südasien auszuweiten". Die Kernorganisation im Irak und in Syrien soll den ISKP dabei mit Informationen, Ausbildung und Geldern in Höhe von mehr als 100 Millionen US-Dollar unterstützt haben. Die Strategie der Extremisten ist dabei so wirkungsvoll wie perfide: "Sie wollen Chaos und Unsicherheit schaffen, um desillusionierte Kämpfer anderer Gruppen in ihre Reihen zu treiben und die Fähigkeit der herrschenden Regierung, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen, in Frage zu stellen", so die beiden Extremismusforscher im "Conversation"-Interview.

Eine Zielsetzung, die den Taliban nach ihrer Machtübernahme naturgemäß nicht gefallen kann. "Internationaler Terrorismus ist traditionell nicht das Geschäft der Taliban", sagt Yassin Musharbash, Investigativredakteur der Wochenzeitung "Zeit" im Nachrichtenpodcast "Was jetzt?". Die neuen Machthaber in Kabul hätten keinesfalls ein Interesse daran, dass die al Kaida von Afghanistan aus neue Anschläge im Ausland verübt. Vielmehr wolle das neue Regime als "seriöser Staatslenker in Erscheinung treten. Der Anschlag in Kabul war somit eine Blamage für die frisch gekürten Machthaber, weil er offenbarte, dass sie nicht für die Sicherheit der Hauptstadt garantieren können.
Welche Gefahr geht vom ISKP für den Westen aus?
"Die Explosion am Flughafen zeigt, dass wir leider eine sehr blutige Zukunft vor uns haben", zitiert die "Washington Post" einen anonymen arabischen Geheimdienstmitarbeiter. Ziel des ISKP-Angriffs am Flughafen seien nicht allein die Taliban, sondern vielmehr auch die Amerikaner gewesen: "Es ist ein Kampf um Ideologien und Herzen und Köpfe". Auch der Ex-FBI-Beamte Karl Schmae fürchtet unruhige Zeiten für die Menschen in Afghanistan. Seiner Einschätzung zufolge konzentriere sich der ISKP nicht allein auf prestigeträchtige "Home-Run-Attacken", sondern sei auch dazu bereit, kleinere Anschläge zu verüben. Ihnen sei jede Form der medialen Aufmerksamkeit willkommen. Das helfe zum einen bei der Rekrutierung, vor allem aber bei der Geldbeschaffung.
Der Rückzug der westlichen Truppen bietet dem ISKP nun den perfekten Nährboden. Selbst unter der Besatzung der Vereinten Nationen hatte die Terrorgruppe ihre Anschläge fortsetzen können. Jetzt, ohne militärische Kräfte vor Ort, wird es noch viel schwerer, den ISKP zu schwächen und kleinzuhalten. Die noch nicht etablierte Herrschaft der Taliban und das damit entstehende Sicherheitsvakuum dürfte zudem zu einem "Magneten" für Extremisten werden, wie die Nachrichtenagentur AP formuliert. Die Gefahr für Anschläge im Westen steigt.
Quellen: "AP"; "Washington Post" 1; "Washington Post" 2; "The Conversation"; "BBC"; "KSL Newsradio"; DPA