Eine Anwohnerin aus dem Kibbutz Nir Or telefonierte gerade live mit dem israelischen Fernsehen, als Terroristen in den Schutzraum eindrangen, in dem sie und ihre Familie sich aufhielten. Kurz darauf brach der Kontakt ab. Mittlerweile wird berichtet, dass bis zu acht israelische Orte in der Gewalt bewaffneter Palästinenser seien. Wahllos sei auf Zivilisten geschossen worden, mindestens 22 Menschen wurden bisher getötet, über 200 verletzt.
Für Israel ist das Worst-Case-Szenario eingetreten: Am frühen Samstagmorgen hat die Terrorgruppe Hamas einen Überraschungsangriff auf das Land mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern gestartet. Mehr als 3000 Raketen sind abgefeuert worden, 60 radikale Palästinenser sind ins Land eingedrungen. Videos zeigen, wie Männer mit Gleitschirmen über den Grenzzaun fliegen, mehrere israelische Soldaten wurden als Geisel genommen. "Wir befinden uns im Krieg", erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Seit dem Mittag fliegt Israels Armee Luftangriffe. Aber wie soll sie dem Chaos auf dem Boden Herr werden?
Der neue Krieg weckt bei den Israelis traumatische Erinnerungen. An diesem Wochenende jährt sich der Jom Kippur-Krieg. Damals hatten Israels Feinde gemeinsam während des höchsten jüdischen Feiertags angegriffen. In diesem Jahr, in dem Israel durch die schwerste innenpolitische Krise in seiner Geschichte zerrissen wird, hatten Sicherheitsdienste vor einem Angriff gewarnt, der nicht genauso, aber mindestens genauso beängstigend werden könnte.
Mehrere Faktoren kommen jetzt zusammen, wie bei einem Unwetter, das sich plötzlich entlädt. Auf der einen Seite stehen die den Gazastreifen kontrollierende Hamas und ihre politischen Interessen. Die finanzielle Lage in dem isolierten Gebiet mit rund zwei Millionen Bewohnern verschärft sich zunehmend. Seit Wochen gibt es gewalttätige Proteste an der Grenze. Während Israel versuchte, den Druck aus der Lage zu nehmen, riefen die Protestierenden den "Der Aufstand der jungen Generation" aus. Hamas musste auf die Spannungen reagieren, gleichzeitig will sie diese nutzen, um mehr Geld aus Katar zu bekommen, einem der wichtigsten Geldgeber der Palästinenser.
Saudi-Arabien – die neue Rolle des Königreiches im Konflikt
Dazu kommt die geopolitische Situation. Die USA versuchen, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu vermitteln. Vergangene Woche besuchten Vertreter aus Riad die von der Fatah geführte Palästinenserführung in Ramallah. Deren alternder Präsident, Mahmoud Abbas, rollte den Saudis den roten Teppich aus. Er braucht die neuen Player im Machtspiel im Nahen Osten, um politisch überleben zu können.
Der Hamas dagegen verderben diese neuen Dynamiken die Strategie: Seit Längerem setzt sie darauf, der von Korruption und Klientelpolitik geschwächten Fatah die Macht abzuringen. Unterstützt wird sie dabei von Milizen und dem Terrornetzwerk "Palästinensischer Islamischer Dschihad", hinter dem steht der Iran, der Israel vernichten will.
Auch innerhalb der Hamas streben führende Kräfte Richtung Teheran. Vor genau zwei Wochen hatten sich Vertreter der Terrorgruppen in Beirut getroffen, den Sitz der libanesischen Terrororganisation Hisbollah. In einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten Hamas, "Islamischer Dschihad" und die Gruppe "Volksfront für die Befreiung Palästinas", den Konflikt mit Israel eskalieren zu wollen.
Die Hisbollah schwieg bisher zu der jüngsten Drohung. Jetzt gratuliert sie den Verbündeten im Süden. Das nährt die Angst vor einem Krieg, der auf den Norden übergreifen könnte – unterstützt und gesteuert vom Iran. Erst im April waren 36 Raketen radikaler Palästinenser vom Libanon abgefeuert worden. Der schwerste Beschuss seit dem letzten Krieg mit Israel 2006. Israels Feinde verfolgten die innenpolitische Krise im Land genau und würden versuchen, diese Schwäche auszunutzen, warnten damals Sicherheitskreise.
Wie reagieren die israelischen Araber?
Tatsächlich trifft dieser Angriff ein erschöpftes wie emotional aufgeladenes Land. Seit bald einem Jahr protestieren teils Hunderttausende unermüdlich gegen die geplante Justizreform der antiliberalen Koalition von Benjamin Netanjahu. Das Bündnis ist das rechteste in Israels Geschichte, mehrere rechtsextreme Politiker und politische Scharfmacher sind daran beteiligt. Der unter anderem wegen Terrorismus vorbestrafte Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, rief am frühen Nachmittag den nationalen Notstand aus und berief alle Reservisten der Polizei ein.
Die nicht unberechtigte Sorge: Die Gewalt könnte überschwappen auf die rund zwei Millionen arabischen Israelis im Land. Von Diskriminierung betroffen und von Rassismus und Schmähungen vonseiten Israels extremer Rechten, hat sich bei ihnen eine Wut aufgestaut, die schon während der letzten schweren Eskalation vor zwei Jahren ihre Wucht entfaltete – und die seitdem noch weiter von gewaltbereiten Gruppen israelischer Rechtsextremer befeuert wurde. Schon damals brannten über Tage Häuser, Menschen wurden gelyncht. Es gab Tote, auf beiden Seiten.
Israels Geheimdienste hatten nach eigenen Angaben keine Informationen über den Angriff. Zur Stunde startet die Armee die Operation "Schwerter aus Eisen". Der Name passt, denn mit dem Raketenabwehrsystem "Iron Dome" allein wird sie die Eskalation nicht stoppen können. Wie mehrere Medien berichten, soll es in Ostjerusalem bereits zu Auseinandersetzungen kommen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten.
Und die Lage an der Grenze zu Gaza ist weiterhin nicht unter Kontrolle.