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Wahl in Großbritannien Brexit, Lügen und Kühlschrank-Tapes: Boris Johnson greift zum Bulldozer aller Wahlkämpfe

Boris Johnson
Am Wahltag kamerawirksam seinen Hund zu küssen, auch davor schreckt Boris Johnson nicht zurück
© Frank Augstein/AP / DPA
Wenn die Verbindung eines Mitglieds der königlichen Familie zu einem verurteilten Pädophilen vergleichsweise leichte Unterhaltung bietet, dann ist Wahlkampf in Großbritannien 2019. Rückblick auf vier giftige, gallige und groteske Wochen.
Von Dagmar Seeland, London

Im Nachhinein sind viele Wähler wahrscheinlich froh über Prinz Andrews Unfall von einem Interview, das er im November der BBC gab. Schließlich lenkte er damit – wenn auch nur für eine Woche – von diesem bereits jetzt als toxisch beschriebenen britischen Wahlkampf ab. Es sagt viel aus über die politische Kultur in einem Land, wenn selbst die Verbindung eines Mitglieds der königlichen Familie zu einem verurteilten Pädophilen vergleichsweise leichte Unterhaltung bietet.

Keine Aufmerksamkeit für die "Firma"

In dieser dystopischen Neuverfilmung von Alice im Wunderland war der Prinz nur eine Randfigur, die rein zufällig auf das Schachbrett stolperte und vom Bruder Prinz Charles prompt zurückgepfiffen wurde. Schließlich gilt es unter den Royals als größter Fauxpas überhaupt, im Wahlkampf die Aufmerksamkeit auf "die Firma" zu lenken. Denn das Rampenlicht gebührte in den letzten Wochen allein Premierminister Boris Johnson. Anfangs erwartete man noch interessante Auftritte in den Nebenrollen von bekannten Bösewichten wie Brexit-Party-Boss Nigel Farage, oder von Jakob Rees-Mogg, dieser Figur im Zweireiher aus dem frühen 20. Jahrhundert, doch die beiden verschwanden schnell von der Bildfläche: Rees-Mogg etwa, kurz nachdem er in einer Radio-Talkshow implizierte, die Bewohner des vor zwei Jahren abgebrannten Londoner Wohnblocks Grenfell Tower seien nur deshalb gestorben, weil sie dumm genug waren, den Anweisungen der Feuerwehr zu folgen. 

Derartige Entgleisungen konnte Boris Johnsons Wahlkampfmaschine unter der Leitung des Chefstrategen Dominic Cummings natürlich nicht tolerieren. Lenkten sie doch nur vom dem ab, was Boris alles versprechen sollte pünktlich zur Vorweihnachtszeit: vierzig neue Krankenhäuser beispielsweise, und fünfzigtausend neue Krankenschwestern für das marode britische Gesundheitssystem NHS. Überhaupt werde er dem NHS eine Investitionsspritze von 40 Milliarden Euro verpassen, vorausgesetzt natürlich, die Briten werden ihn mit absoluter Mehrheit wählen, damit er endlich den Brexit durchziehen könne. Schnell allerdings entpuppten sich die vierzig Krankenhäuser unter der Lupe von Experten und Journalisten als nur sechs, und die Zahl der Krankenschwestern schrumpfte auf einunddreißigtausend – im besten Fall. 

"Die 40 Lügen des Boris Johnson"

Boris ist gut im Versprechen von Dingen, die es nicht gibt – wie er überhaupt gut ist im Flunkern. Der ehemalige "Telegraph"-Journalist und überzeugte Konservative Peter Oborne drückte es heute in der Zeitung "The Mirror" weniger harmlos aus: "Boris Johnson ist ein schamloser und pathologischer Lügner." Zum Beweis veröffentlichte seine Zeitung "Die vierzig Lügen des Boris Johnson" – in der Online-Version sind daraus bereits sechzig geworden.

Darunter finden sich neben den Krankenschwestern und Krankenhäusern auch zwanzigtausend Polizisten, die, wie sich herausstellt, nur die einundzwanzigtausend ersetzen, die im letzten Jahrzehnt systematisch von Johnsons eigener Partei gestrichen wurden. 

"Pinocchio" nannte ihn deshalb jüngst ein Zuschauer in einer BBC-Talkshow, in der Johnsons Vater Stanley zu Gast war. Der zuckte nur jovial mit den Schultern und sagte: "Pinocchio? Das erfordert einen Grad von literarischer Bildung, die die allgemeine britische Öffentlichkeit nicht unbedingt hat." Sie könnten Pinocchio nie im Leben buchstabieren, fuhr er fort und gab damit wahrscheinlich preis, was er und seine Eton-geschulte Familie wirklich von der gemeinen britischen Wählerschaft halten.  Was letztere ohnehin weiß – und vermutlich dennoch in großer Zahl für Boris Johnson stimmen lässt. 

"Get Brexit done" ist der Nachfolger von "Take back control", dem Slogan, mit dem das Team Cummings/Johnson vor dreieinhalb Jahren das Referendum gewann - Trumps "Make America great again" für Briten sozusagen.

Jeremy Corbyn blieb blass

Johnson vertraute wieder auf diese bewährte Formel und nutzte jede Gelegenheit, seine Parole unterzubringen. Neunmal allein schaffte er es in der Eröffnungsdebatte beim Fernsehsender ITV. Dagegen sah Labour-Kandidat Jeremy Corbyn blass aus mit seinen Fakten, seiner Unwilligkeit, sich klar für oder gegen Brexit auszusprechen, und seiner Kritik an der Regierungspartei, die mit ihrer erbarmungslosen Sparpolitik in den vergangenen Jahren systematisch das ohnehin wackelige britische Sozialsystem abgebaut hatte. Johnson wies Corbyns Vorwürfe rigoros von sich: Damit habe er persönlich nichts zu tun, wiederholte er immer wieder, bald beginne eine neue Ära mit einer neuen Partei und einem sonnigen, EU-freien Neuanfang auf der Insel, vorausgesetzt natürlich, man lasse ihn – "Get Brexit Done" und so, Sie wissen schon. 

So flunkerte er sich wochenlang durch Radio-Talkshows und Fernsehdebatten, wuschelte sich routiniert den blonden Schopf, sobald eine Kamera in der Nähe war, und versteckte sich zuweilen sogar in Kühlschränken, um sich vor unverschämten Journalisten zu drücken – so geschehen diesen Mittwoch, als das Fernsehteam des Moderators Piers Morgan Johnson bei einem Wahltermin in Yorkshire zum lange verweigerten Interview herausforderte. Zum Schluss fuhr Johnson sogar mit einem Bulldozer durch eine Wand aus Styroporwürfeln. Auf dem Ungetüm stand, nicht schwer zu erraten: "Get Brexit Done".

Der Junge auf dem Boden des Krankenhauses

Nur ganz zum Schluss zeigte sich kurz der wahre Johnson, der, der nach dem 12. Dezember voraussichtlich das Land regieren wird: Als am Montag mehrere Zeitungen das Foto eines vierjährigen Jungen im Krankenhaus von Leeds veröffentlichten, der auf dem Fußboden der Notaufnahme behandelt werden musste, weil keine Betten vorhanden waren, bat ihn ein Journalist vor laufenden Kameras um Stellungnahme dazu. 

Johnson wich aus, doch der Journalist blieb hartnäckig, und so entriss ihm Johnson kurzerhand das Telefon und steckte es in seine Tasche, um danach ungestört weiter über blühende Post-Brexit-Landschaften zu fabulieren. Entsetzt von diesem PR-Desaster verfiel Dominic Cummings' Team in Panik. Hastig schickte man Gesundheitsminister Matt Hancock nach Leeds und inszenierte eher ungeschickt einen Zusammenstoß mit einem Fahrradfahrer, der auf der Straße seiner Wut auf die Regierungspolitik Luft machte. Ein "Labour-Aktivist" habe einem Assistenten von Hancock eins auf die Nase gegeben, hieß es kurzzeitig, doch schnell kursierte ein Video, in dem Hancocks Assistent ganz bewusst in den ausgestreckten Arm des Fahrradfahrers lief. 

Eine andere Idee musste her, und zwar schnell – und was geht schneller als ein Facebook-Post, gesendet von einer Krankenschwester, die eine Krankenschwester in Leeds kennt? Selbige Schwester erklärte entrüstet, bei dem Bild handele es sich um einen zynischen Stunt der Labour-Partei. Sie habe gesehen, wie die Eltern den Jungen fürs Foto auf den Boden legten, bevor er gleich wieder auf das Bett kletterte, das selbstverständlich neben ihm stand. 

Der Post verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf Twitter und Facebook - im identischen Wortlaut. Eine Kolumnistin des rechten "Daily Telegraph" griff ihn auf und kündigte auf Twitter in triumphalem Ton ein großes Exklusive für den nächsten Tag an. Ihr Artikel erschien nie, denn der Post erwies sich noch am selben Abend als Fake News. Die Lokalzeitung "The Yorkshire Post" konnte die Quelle auftun: Die Urheberin war selbst keine Krankenschwester, kannte auch keine in Leeds. Sie sei gehackt worden, sagt sie. Ihr Konto hat sie inzwischen gelöscht.

Quellen: "The Guardian", "The Mirror", BBC, inews.co.uk, "Daily Mail"

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