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Erdogan-Wahl in der Türkei Superstar ohne Gegenwehr

Er ist der Held der Massen: Recep Tayyip Erdogan ist der Mann, der die Türkei stark gemacht hat. Auch war er auf dem Weg, das Land zu versöhnen. Doch aus dem Versöhner wurde ein Nationalist. Die heutige Wahl dürfte sein Triumph werden.
Von Stefanie Rosenkranz, Istanbul

Der Wahlkampf in der Türkei war eine einzige Lärmbelästigung: Ununterbrochen fuhren Busse unterschiedlichster politischer Formationen über das Land und durch die Städte, an entlegene Strände am Schwarzen, am Mittel-, am Marmarameer und mitten hinein in den ohnehin schon chaotischen Verkehr von Millionen-Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir. Auf die Vehikel waren Lautsprecher montiert, aus denen mit maximalen Dezibel mal Durchhalteparolen dröhnten, mal Lieder schepperten. Den besten Beat hatte die regierende "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung", die AKP.

"A-A-AK-Parti, simdi tam vakti", "AKP, die Zeit ist gekommen", klang es von fern und nah. Von Edirne an der bulgarischen und griechischen Grenze bis nach Urfa, unweit von Syrien. Von Van, in der Nähe des Iran, bis Hakkari, nur wenige Kilometer vom Irak entfernt. Von Hopa, nicht weit weg von Georgien, bis Igdir, ganz nah an Armenien.

Wenn nicht etwas völlig Unvorhergesehenes geschieht, wird die wirtschaftlich liberale und religiös konservative AKP heute erneut triumphieren, nicht wegen des Liedes, sondern wegen ihres "lider". Sein Name: Recep Tayyip Erdogan. Sein Programm: Wachstum, Wachstum, Wachstum, und dazu ein großer Schuss Frömmigkeit. Eine wirklich ernst zu nehmende Opposition hat der Mann nicht. Kemal Kiricdaroglu von der "Republikanischen Volkspartei" CHP bemüht sich zwar redlich, seine Partei zu erneuern, doch neben dem gelernten Prediger Erdogan wirkt er farblos wie ein Mann von der Hamburg-Mannheimer. Die ultrarechte MHP wiederum ist wie die Versicherung in Sex-Skandale verstrickt. Und die kurdische BDP, die ihre Männer und Frauen als unabhängige Kandidaten ins Rennen schickt, um die Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen, ist nur eine regionale Kraft.

Erdogan hat das Land bedeutend verändert

Seit 2003 ist der 57jährige ehemalige Koranschüler und studierte Volkswirt Erdogan Ministerpräsident der Türkei. Unter ihm hat sich das Land dramatisch verändert. Bevor die AKP das Sagen hatte, war es erstarrt. Korrupte Politiker im Würgegriff von allmächtigen Generälen hatten die Türkei heruntergewirtschaftet. Der Kemalismus, die autoritäre Ideologie des kultisch verehrten Republikgründers und Generals Mustafa Kemal Atatürk, lag wie ein Betondeckel über der Nation. Das Sagen hatte die laizistische Elite, geboren aus den Trümmern des gigantischen osmanischen Reiches, dessen Sultane sechs Jahrhunderte lang über große Teile Arabiens sowie des Balkans geherrscht hatten.

Die osmanischen Potentaten waren auch Kalifen gewesen, also Herrscher über die muslimischen Gläubigen. Mit Gläubigen konnte der beständig Alkohol trinkende Atatürk nichts anfangen; er war zwar kein Atheist, doch er hielt fromme Muslime prinzipiell für rückständig. Er wollte, dass die Türken sich nach Westen orientieren.

Sunnitische Mehrheit, unterdrückte Minderheit

Atatürk hat die Türken gewissermaßen erfunden. Seit dem Gründungsjahr der Republik im Jahr 1923 gilt: Türke ist, wer sunnitischen Glaubens ist, türkisch spricht und in der Türkei lebt. So wurde der einerseits geschmähte Islam andererseits zum Kitt der Nation.

Wer in der Türkei lebt und kein Moslem ist, hat somit Pech gehabt, so zum Beispiel die Griechen, die Armenier und die Juden. Die Griechen wurden vertrieben, die Armenier waren schon im osmanischen Reich gemordet worden, die Juden wurden drangsaliert. Wer gehen konnte, ging. Die Türkei ist heute ein zu mehr als 99 Prozent muslimisches Land.

Wer dort lebt und Muslim ist, aber kein Sunnit, wie etwa die geschätzten 20 Millionen türkischen Aleviten, Angehörige einer liberalen schiitischen Sekte, dem geht es nur unwesentlich besser als den verschwundenen Minderheiten. Für sunnitische Türken sind die Aleviten keine echten Muslime, sondern höchst suspekt. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu mörderischen Ausschreitungen gegen sie.

Dann gibt es noch die Kurden. Viele von ihnen sind dazu noch Aleviten. Doch selbst, wenn sie Sunniten sind, sprechen sie kein Türkisch, sie verweigerten die kulturelle Anpassung. Die kemalistische Republik dachte sich viele Jahre lang die Kurden einfach weg. Allein, nichts half. Seit den 80er Jahren kämpfen separatistische Kurden von der Guerilla PKK mit Waffengewalt für ihre Rechte. Über 40.000 Menschen kamen seither im Bürgerkrieg ums Leben, die allermeisten davon kurdische Zivilisten. Auch wurden Hunderttausende aus ihren Dörfern vertrieben und verloren ihre Heimat.

Atatürks Erben kontrollierten das Land

Vor Erdogan gehörte die Türkei der säkularen Elite. Deren Mitglieder waren reich geworden durch die Vertreibung der Minderheiten. Vom Staat erhielten sie gigantische Aufträge. Sie tanzten Foxtrott und spielten Tennis. Ihre Kindeskinder lieben Lady Gaga, fahren Jetski und lassen sich die Unterschrift von Atatürk auf den Oberarm tätowieren. Ihre Partei war und ist die CHP, die "Republikanische Volkspartei", gegründet von Atatürk persönlich. Bis 1946 war sie die einzige Partei, doch seit sie mit anderen konkurrieren muss, errang sie nie die Mehrheit. Das machte bis vor kurzem gar nichts. Wahlen hin oder her, die CHP war ohnehin an der Macht: Das Militär, die Justiz, sämtliche gehobenen Beamten gehörten ihr an. Die Partei war gewissermaßen der politische Arm des Generalstabs.

Manchmal ging etwas schief: Der Ministerpräsident war zu liberal, alles war zu durcheinander, es gab zu viele Kommunisten, der Premier war fromm. Dann wurde geputscht, drei Mal mit Waffengewalt, einmal unblutig. Und alles war wieder wie vorher. Es herrschte Friedhofsruhe. Die Reichen wurden reicher, die Armen wurden ärmer, und die Türkei, längst Nato-Mitglied und ewiger Kandidat für die EU-Mitgliedschaft, war eine drittklassige Nation, verstaubt, verknöchert, weder für den Okzident, noch für den Orient wirklich ernst zu nehmen.

Erdogan, der Mann des Volkes

Doch dann kam die AKP an die Macht, das Volk hatte sie demokratisch gewählt. Welches Volk? Na eben, das türkische Volk, das fromme Volk, das ländliche Volk, das bevormundete und nie gehörte Volk. Das verarmte Volk, das man millionenfach ins Ausland entsorgt hatte, nach Belgien, nach Frankreich, nach Österreich, in die Niederland und insbesondere nach Deutschland. Das gottfromme Volk, dessen Frauen Kopftuch tragen und kein Tennis spielen, und dessen Männer von Foxtrott nichts wissen wollen, und von Lady Gaga noch viel weniger.

Eilend schrie die Elite nach einem neuen Putsch, und es wurde endlich klar: Dass die Herrschenden in Harvard oder in Paris studiert haben und polyglott sind, macht sie noch lange nicht zu Demokraten. Westlich ist nur ihre Fassade, dahinter verbirgt sich eine sehr orientalische Sehnsucht nach ungeteilter Macht.

Indes, die Zeiten hatten sich geändert: Der Ostblock war zusammengebrochen, die Türkei war kein Frontstaat mehr. Die USA, die bis dato jeden Staatstreich in der Türkei bewilligt hatten, gaben kein grünes Licht.

Aufschwung und Versöhnung

Seither hat Recep Tayyip Erdogan das Sagen, muslimisch und monoglott, verheiratet mit der Kopftuch tragenden Emine, in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen in Kasimpasa, einem damals wie heute schlecht beleumundeten Viertel von Istanbul.

Alle fürchteten die Scharia, doch was kam, war ein beispielloser wirtschaftlicher Aufschwung. Der Rest der Welt litt unter einer Wirtschaftskrise, die Türkei nicht. Sie schoss von Platz 25 auf Platz 17 der größten Volkswirtschaften der Welt. Für dieses Jahr wird ein Wachstum von mehr als neun Prozent erwartet. Die Arbeitslosenquote ist mit rund zwölf Prozent immer noch hoch, aber seit Jahrzehnten war sie nie so niedrig. Das Land treibt Handel mit Afrika, Asien, den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem Nahen Osten wie nie zuvor.

Auch versöhnte sich die Türkei mit den meisten ihrer Nachbarländer. "Null Probleme" mit den angrenzenden Staaten lautet die Devise des Außenministers Ahmet Davutoglu. Seither pflegt man beste Beziehungen zum Iran, Syrien, dem Irak und sogar zu Griechenland; mit Russland wurde die Aufhebung der Visumspflicht vereinbart. Die immer noch angestrebte EU-Mitgliedschaft ist jetzt nicht mehr das einzige Ziel türkischer Außenpolitik.

Tayyip Erdogan machte das Land nicht nur reicher, er bohrte auch Luftlöcher in den Betondeckel des Kemalismus: Die Armee schickte er zurück in die Kasernen. Nach seinem letzten Wahlsieg 2007 versprach er die Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde, mehr Rechte für die Kurden und auch, dass er der Ministerpräsident aller Türken sein wolle, auch derjenigen, die nicht für ihn gestimmt hatten.

Es schien, als werde Erdogan das zerrissene Land endlich versöhnen. Frauen im Minirock und Frauen mit Kopftuch, Männer mit Gebetskette und Männer in Shorts, Kurden und Türken sowie Aleviten und Sunniten – sie alle würden künftig Hand in Hand laufen. Und tatsächlich veränderte sich vieles: Heutzutage wird in der Türkei offen über den Völkermord an den Armeniern gesprochen, und über die Vertreibung der Griechen. Es gibt kurdisches Fernsehen, und die Unterdrückung der Aleviten ist kein Tabu mehr.

Wofür Erdogan heute steht

Tatsächlich wurde die Türke demokratischer. Aber sie ist noch längst nicht demokratisch genug. Genau das allerdings scheint der Ministerpräsident zu glauben. Seit geraumer Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass er sich in dem System, das er eigentlich verändern wollte, bestens eingerichtet hat.

Wie seine Vorgänger versorgt er hauptsächlich die Seinen großzügig mit Posten und staatlichen Aufträgen und schuf sich so seine eigene, muslimische Bourgeoisie. Kritik kann er nicht ertragen: Kritische Journalisten werden weggesperrt, auf Demonstranten wird eingeprügelt, Karikaturisten werden verklagt, das Internet wird zensiert. Ein Denkmal, das Frieden zwischen der Türkei und Armenien symbolisieren sollte, passte ihm nicht. Es wurde demoliert.

Aus dem großen Versöhner ist längst ein noch viel größerer Nationalist geworden: "Es gibt kein Kurdenproblem, sondern nur Kurden, die Probleme haben", erkannte er kürzlich, und er ist sich nicht zu schade, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass Kiricdaroglu von der CHP ein Alevit ist, was seine sunnitischen Anhänger dann prompt mit Buh-Rufen quittieren.

Auf dem Weg zum präsidialen System

Wenn Erdogan jetzt von Modernisierung spricht, dann geht es nicht mehr um Politik, sondern nur noch um Beton: Er will die Türkei in eine riesige Baustelle verwandeln und hat seinem Volk Schnellzüge, Autobahnen, Atomkraftwerke, neue Städte und sogar einen zweiten Bosporus versprochen, einen Kanal zwischen Schwarzem und Marmara-Meer.

Damit hofft er, heute die absolute Mehrheit zu erringen. Wenn er das schafft, kann er die angekündigte Verfassungsreform im Alleingang durchziehen. Sein Ziel: Aus der Türkei ein präsidiales System nach amerikanischen oder französischem Muster zu machen. Wer dann Präsident wird, ist auch schon klar. Er natürlich. Das wäre schön für ihn. Und schlecht für die Türkei.

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