EU-Grenzschutz Warum ausgerechnet die Schweiz über Frontex abstimmt – und was dabei auf dem Spiel steht

Demonstrantinnen protestieren Ende April 2022 in Bern gegen die EU-Verordnung zur europäischen Grenzschutzagentur Frontex 
Demonstrantinnen protestieren Ende April 2022 in Bern gegen die EU-Verordnung zur europäischen Grenzschutzagentur Frontex 
© Peter Klaunzer / Keystone / Picture Alliance
Die Schweiz hat keine EU-Außengrenzen, die Schweiz ist nicht einmal Mitglied der EU. Trotzdem stimmt das Land am Sonntag über seine Beteiligung am EU-Grenzschutz Frontex ab. Dabei steht viel auf dem Spiel.

Diese Abstimmung mag mit Blick von außen zunächst verwundern. Die Schweiz stimmt am 15. Mai über Frontex ab. Denn obwohl das Land kein EU-Mitglied ist und keinen Meerzugang hat, dafür viele Berge, beteiligt es sich an Frontex. Hintergrund ist die Mitgliedschaft der Schweiz im Schengen-Sicherheitsverbund. Dem gehören neben EU-Mitgliedern auch Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz an.

Das internationale Abkommen dient dem Abbau von Grenzkontrollen. Das Reisen und der Verkehr zwischen den Mitgliedsländern wird dadurch erheblich erleichtert. Wo es ein Innen gibt, gibt es auch ein Außen. Hier kommt Frontex ins Spiel, die umstrittene Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Sie unterstützt die Schengen-Staaten operativ bei der Kontrolle der Schengen-Außengrenzen und seit mehr als zehn Jahren arbeitet auch die Schweiz mit Frontex zusammen.

Derzeit baut die EU die Grenzagentur finanziell und personell aus. Bis im Jahr 2027 soll Frontex eine ständige Reserve von bis zu maximal 10.000 Einsatzkräften aufbauen. Lagebedingt soll dann auf diese Reserve zurückgegriffen werden können. Die EU-Verordnung dazu trat 2019 in Kraft, im Jahr darauf hieß das Schweizer Parlament sie gut. Die Schweiz soll demnach bei Frontex personell aufstocken mit rund 40 Vollzeitstellen.

Neben dem Parlament will auch die Schweizer Regierung, der Bundesrat, dass sich das Land am Frontex-Ausbau beteiligt. "Frontex ist wichtig für die Kontrolle der Schengen-Außengrenzen und die Sicherheit im Schengen-Raum. Das liegt auch im Interesse der Schweiz. Mit ihrer Teilnahme an Frontex übernimmt sie Verantwortung und gestaltet mit", so die Begründung. 

"Gewalt, Elend und Tod an den Außengrenzen Europas"

Gegner der Vorlage zeichnen ein gänzlich anderes Bild. Für sie ist Frontex mitverantwortlich für "Gewalt, Elend und Tod an den Außengrenzen Europas". Trotzdem sei geplant, Frontex massiv auszubauen – auch mit Geld aus der Schweiz. Wer es ernst meine mit dem Schutz für Flüchtende, müsse den Frontex-Ausbau stoppen.

Gegen die Entscheidung aus Bundesbern wurde erfolgreich das Referendum ergriffen. Das heißt: Es wird abgestimmt. Am 15. Mai entscheiden nun die stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger, ob sie "Ja" oder "Nein" sagen zur Schweizer Beteiligung am Frontex-Ausbau. Zu den Unterstützern der Nein-Parole gehören neben Gruppen, die sich für Geflüchtete einsetzen, auch linke Jungparteien sowie feministische Kollektive. Sie kritisieren, dass die derzeitige EU-Migrationspolitik auf Militarisierung aufbaue, "einem Netz aus Lagern und brutaler Grenzgewalt". Frontex übernehme in dieser Politik eine wichtige Funktion. "Kein Vertrag rechtfertigt es, dieses Regime mitzutragen", sind die Gegner überzeugt. 

Plakate zum Abstimmungssonntag am 15. Mai in Genf – darunter auch eines zu Frontex
Plakate zum Abstimmungssonntag am 15. Mai in Genf – darunter auch eines zu Frontex
© Salvatore di Nolfi / Keystone / Picture Alliance

Frontex steht seit Langem in der Kritik – nicht nur in der Schweiz. Ende April teilte der Verwaltungsrat der Behörde mit, dass der bisherige Exekutivdirektor Fabrice Leggeri mit sofortiger Wirkung zurückgetreten sei. Der Franzose führte die 2004 gegründete Agentur seit 2015 und sah seine Agentur schweren Vorwürfen ausgesetzt. 

Dabei geht es insbesondere um mögliche illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen. So haben griechische Grenzschützer Medienberichten zufolge mehrfach Boote mit Migranten illegal zurück in Richtung Türkei getrieben. Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Außengrenzen – sogenannte Pushbacks – sind nach internationalem Recht illegal. Frontex-Beamte sollen dabei teils in der Nähe gewesen sein und dies nicht verhindert haben. Mehrere EU-Stellen beschäftigten sich zuletzt mit den Vorwürfen. Und damit nicht genug der Kritik. 

Das Europaparlament hat Zweifel an der Haushaltsführung von Frontex. Deshalb wurde die Haushaltsentlastung für das Jahr 2020 zunächst verschoben. In einer mit großer Mehrheit verabschiedeten Resolution verweisen die Abgeordneten darauf, dass Frontex noch immer nicht die Bedingungen aus dem vorherigen Entlastungsbericht erfüllt habe. 

Für die Schweiz steht bei der Frontex-Abstimmung viel auf dem Spiel

Im Gespräch mit der "NZZ" sagt Marco Benz, Vertreter der Schweiz im Verwaltungsrat von Frontex, dass die Frage der Grundrechte in den Frontex-Gremien stark an Bedeutung gewonnen habe. Was Benz ebenfalls betont: Die Schweiz könne einen wesentlichen Beitrag leisten und zum Beispiel bei der Vorauswahl des neuen Grundrechtsbeauftragten mitreden. Weiter führt die "NZZ" an, dass die Schweiz in einer Arbeitsgruppe der Agentur mitwirkte, welche die Pushback-Vorwürfe aufarbeitete und Vorschläge zur Verbesserung der Prozesse entwickelte. Und zwei Expertinnen aus der Schweiz würden zurzeit in der Frontex-Zentrale in Warschau beim Aufbau des neuen, größeren Grundrechtsbüros mithelfen. 

Für die Schweiz steht mit dieser Abstimmung viel auf dem Spiel. Die Regierung weist auf mögliche Folgen einer Ablehnung hin: "Bei einem Nein riskiert die Schweiz ihren Ausschluss aus Schengen/Dublin." Mit Dublin ist das Übereinkommen gemeint, das regelt, welcher Staat in Europa für die Prüfung von Asylanträgen zuständig ist: das Land, in dem die Erstregistrierung stattfindet. Bis in die Schweiz ist es ein langer Weg. Das weiß man auch in Bern.

"Das Asylwesen wäre direkt betroffen", sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter im Vorfeld der Abstimmung. Heute würden Asylgesuche in der Schweiz grundsätzlich inhaltlich nicht geprüft, wenn schon in einem anderen Dublin-Staat ein Gesuch gestellt wurde. Fällt die Schweiz aus Dublin heraus, wäre sie "Erst-Asyl-Land". Person, die in einem Dublin-Land abgelehnt wurden, beispielsweise im Nachbarland Italien, könnten dann in der Schweiz Asyl stellen. 

Karin Keller-Sutter verwies auch auf die Folgen eines Schengen-Ausschlusses und betonte die Bedeutung des Schengener Informationssystems (SIS), für die Schweizer Behörden ein "unverzichtbares System", so die Justizministerin. 300.000 Abfragen pro Tag würden Schweizer Behörden darüber tätigen mit 20.000 Fahndungstreffern pro Jahr. Die Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität, Terrorismus und illegaler Migration sei ohne SIS heute "undenkbar". Es sei zum "Rückgrat der Schweizer Polizei" geworden.

Gegner sprechen von einer "Drohkulisse"

Gegner sehen in den Worten der Bundesrätin eine "Drohkulisse". Zwar kenne das Schengener Vertragswerk tatsächlich eine strenge Austrittsklausel, die greift, sollte die Schweiz Weiterentwicklungen des sogenannten Schengen-Bestitzstandes nicht übernehmen. Vielmehr bestünden aber politische Verhandlungsmöglichkeiten, um die Fortsetzung der Zusammenarbeit zu klären, argumentiert das "No Frontex"-Lager. 

Würde die Schweiz tatsächlich "Nein" stimmen, endet die Zusammenarbeit der Schweiz mit den Schengen- und Dublin-Staaten automatisch, außer EU-Kommission und alle EU-Staaten sowie die Schweiz finden innerhalb von 90 Tagen eine Lösung. 

Es sieht nicht danach aus, als wären derartige Auswege nötig: In einer SRG-Umfrage von Anfang Mai sagten deutliche 69 Prozent der Teilnehmer Ja zur Finanzierung von Frontex.