Russland steht durch seinen Feldzug gegen die Ukraine zunehmend isoliert dar, nachdem nun auch wichtige Verbündete wie China und Indien auf deutlicheren Abstand zum Kriegstreiben des Kremls gehen.
Noch bevor die Staats- und Regierungschefs der 20 mächtigsten Industrie- und Schwellenländer am Dienstagmorgen auf der indonesischen Ferieninsel Bali zu ihrem ersten Arbeitstreffen zusammengekommen sind, haben sich die Chefunterhändler der G20-Staaten auf eine Abschlusserklärung verständigt, in der die russischen Kriegshandlungen "scharf verurteilt" werden.
In dem 16-seitigen Textentwurf, aus dem mehrere Medien zitieren, heißt es wörtlich: "Die meisten Mitglieder haben den Krieg in der Ukraine scharf verurteilt und betont, dass er immenses menschliches Leid verursacht und bestehende Schwächen in der Weltwirtschaft verschärft."
Die Abschlusserklärung muss am Mittwoch, am zweiten Tag des Gipfels, noch von den Staats- und Regierungschefs offiziell angenommen werden. Sollte es zu einer Einigung kommen, nähme das Gipfeltreffen einen bemerkenswerten Verlauf, mit dem nicht unbedingt zu rechnen war.
Im Vorfeld war befürchtet worden, dass sich die G20-Mitglieder nicht auf eine gemeinsame Haltung zu Russlands Angriff auf die Ukraine durchringen können und erstmals ein abgestimmtes Kommuniqué scheitert. Folglich wäre die Staatengemeinschaft in der Frage tief gespalten auseinandergegangen.
Durch den nun bekannt gewordenen Textentwurf zeichnet sich eine deutliche Botschaft an Moskau ab, das seinen Widerstand gegen die Erklärung wohl auch unter dem Eindruck schwindenden Rückhalts jener Staaten aufgegeben hat, die das Kriegstreiben des Kremls bisher nur mit leisen Protestnoten bedacht hatten.
G20 macht klar: Rückhalt schwindet
Zwar ist in dem Textentwurf nicht ausbuchstabiert, wer genau "die meisten" G20-Mitglieder sind, die sich hinter der klaren Kritik versammeln. Allerdings gilt Russlands Zustimmung des Entwurfs als mögliches Zeichen dafür, dass es im Krieg gegen die Ukraine nicht mehr auf den uneingeschränkten Rückhalt von traditionellen Partnern wie China bauen kann.
"Den Staaten, die Russland bisher nicht scharf kritisiert haben – China, Indien, Türkei, Saudi-Arabien, Brasilien, Südafrika – war es wohl nicht ausreichend wichtig, Russland vor einer Verurteilung zu schützen", sagt Thomas Jäger, Politikwissenschaftler an der Universität Köln, zum stern. "Und alleine hat Russland nicht mehr das internationale Gewicht, dagegen vorzugehen."
So wird auf Russlands Position in dem Entwurf vor allem mit einem Satz eingegangen: "Es gab andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage." Russland akzeptiert mit seiner Zustimmung auch, dass der russische Angriff klar als "Krieg" benannt wird – und nicht als "militärische Spezialoperation", wie der Krieg auf Geheiß von Präsident Wladimir Putin in Russland genannt werden muss.
Die großen Wirtschaftsmächte räumen dem Entwurf zufolge ein, dass die G20 nicht das "Forum zur Lösung von Sicherheitsfragen" sei, "aber wir erkennen an, dass Sicherheitsfragen erhebliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben können." Desweiteren hätten die Staaten ihre "nationalen Standpunkte" bekräftigt.
Allerdings wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf eine Resolution der Vereinten Nationen verwiesen, in der Russland aufgefordert wird, die Kriegshandlungen unverzüglich einzustellen. Im März hatten die UN den russischen Einmarsch mit deutlicher Mehrheit von 141 Stimmen bei fünf Gegenstimmen verurteilt. 35 Staaten hatten sich enthalten, unter anderem China.
Auch die russischen Drohgebärden eines möglichen Atomwaffeneinsatzes werden in dem Entwurf adressiert: "Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen ist unzulässig", zitierte die "Financial Times" aus dem Papier. Im Vorfeld des G20-Gipfels hatten sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz als auch US-Präsident Joe Biden dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping eine Distanzierung von den russischen Atom-Drohungen abgetrotzt.
Als eine mögliche Erklärung für Pekings mutmaßliche Kurskorrektur gilt, dass die aufstrebende asiatische Macht wegen ihrer Exportabhängigkeit stark an einer positiven weltwirtschaftlichen Entwicklung interessiert ist und auch kein Interesse daran haben dürfte, dass schlechte Beziehungen zu den USA und der EU die eigene Entwicklung hemmen.
"Russland ist international isoliert"
Dem Entwurf zufolge sehen die meisten Mitglieder die "friedliche Beilegung von Konflikten, Bemühungen zur Bewältigung von Krisen sowie Diplomatie und Dialog" von "entscheidender Bedeutung". "Die heutige Ära darf nicht von Krieg geprägt sein", heißt es.
Nach Informationen der "Financial Times" soll die Delegation aus Indien eine besondere Rolle dabei gespielt haben, einen Konsens unter den Mitgliedsstaaten zu erzielen, mit welcher Formulierung die russische Invasion verurteilt wird. So hatte Indiens Premierminister Narendra Modi im September bei einem Treffen mit Präsident Putin gesagt, dass "heute keine Ära des Kriegs" sei. Die Äußerung wurde weithin als Distanzierung Indiens von Russlands Krieg gelesen.
Die G20 "werden deutlich machen, dass Russlands Krieg Menschen überall verwüstet", zitiert die Zeitung einen hochrangigen US-Beamten, der hinzufügte, dass es einen wachsenden Trend von "Ländern aus verschiedenen Teilen der Welt" gebe, die sich gegen den Konflikt aussprechen würden.

"Russland ist international isoliert, kann keinen diplomatischen Druck mehr entfalten", konstatiert Politikwissenschaftler Jäger. Die Staatsschwäche nach innen, die sich etwa durch Repression zeige, setze sich nach außen fort.
"Putin wollte Russland mit einem Sieg über die Ukraine und dem politischen Druck auf die EU stärken und zur gleichberechtigten Weltmacht neben den USA und China führen. Das Gegenteil hat er erreicht", sagt der Experte. Der russische Präsident habe sein Land geschwächt, international sowohl wirtschaftlich als auch politisch isoliert. Darüber hinaus habe er sich von Kräften im Innern abhängig gemacht, die er beherrschen wollte. "Das wird im Verlauf der Zeit immer weniger gelingen."
EU-Ratspräsident Charles Michel bestätigte am Dienstag die Einigung bei einer Pressekonferenz und nannte sie einen Erfolg für sich. Der Gipfel sei einer der schwierigsten in der Geschichte der G20. Für Deutschland nimmt Kanzler Olaf Scholz (SPD) teil, Russlands Präsident Putin ist nicht auf Bali und lässt sich von seinem Außenminister Sergej Lawrow vertreten.
Nach Scholz' Ansicht hätte Putin zu dem G20-Gipfeltreffen kommen sollen. "Dann hätte er sich allerdings all den Fragen und all der Kritik aussetzen müssen, die von vielen Ländern der Welt formuliert worden ist", sagte der Kanzler im Vorfeld des Treffens. "Vermutlich ist er deshalb nicht da."
Quellen: Reuters, Associated Press, "The Guardian", "The Financial Times", Deutsche Presse-Agentur