Es ist ein beispielloser Tag in Israel. Alle Augen sind auf das Parlament in Jerusalem gerichtet. Am Montagnachmittag verabschiedeten die Abgeordneten in der Knesset dort ein Kernelement der umstrittenen Justizreform. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung startete Präsident Isaac Herzog noch einen letzten Vermittlungsversuch zwischen der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der Opposition.
Während die Massenproteste gegen die Regierungspläne unvermindert weitergehen, wächst die Sorge vor einem erneuten Generalstreik. Aus den USA kommen mahnende Worte.
Die Antworten auf die wichtigsten Fragen im Überblick.
Worum geht es bei Israels Justizreform?
Seit mehr als einem halben Jahr spaltet die geplante Justizreform weite Teile der israelischen Gesellschaft. Die Pläne zielen darauf ab, die Befugnisse der Justiz und des Obersten Gerichts einzuschränken und die Stellung des Parlaments und des Ministerpräsidenten zu stärken. Gegner des Vorhabens fürchten, dass sich Israel fundamental verändern könnte, manche warnen gar vor der Einführung einer Diktatur. Befürworter argumentieren hingegen mit einer Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Gewaltenteilung. Sie werfen der Justiz vor, sich zu sehr in politische Entscheidungen einzumischen.
Die aktuelle Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu ist die am weitesten rechts stehende, die das Land je hatte. Alle bisherigen Verhandlungen zwischen der rechten Koalition und der Opposition blieben bislang ohne Erfolg. Netanjahus Likud-Partei hatte erst am Sonntag einen jüngsten Einigungsvorschlag vom Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) abgelehnt.
Was ist der aktuelle Stand der Regierungspläne?
Trotz massiven Widerstands hat Israels Parlament am Montag ein Kernelement der umstrittenen Justizreform verabschiedet. 64 von 120 Abgeordneten stimmten nach tagelanger Debatten am Nachmittag für die sogenannte Angemessenheitsklausel, die die Handlungsmöglichkeiten des Höchsten Gerichts einschränkt.
Damit könnte die Knesset dem Obersten Gericht künftig die Möglichkeit entziehen, Regierungsentscheidungen als "unangemessen" einzustufen und so außer Kraft zu setzen. Weitere Änderungen zielen darauf ab, dass die Regierung mehr Mitspracherecht bei der Ernennung von Richtern erhält. Die Klausel galt daher als einer der umstrittensten Bestandteile der Justizreform. Die Opposition boykottierte die Abstimmung.
Warum war Netanjahu kurzzeitig im Krankenhaus?
Sein Kompromissversuch in letzter Minute führte Präsident Herzog ins Krankenhaus. Der 73-jährige Netanjahu hatte dort in der Nacht auf Sonntag überraschend einen Herzschrittmacher eingesetzt bekommen. Nach Angaben der Ärzte überstand der Regierungschef den Eingriff gut. Anschließend traf sich Herzog mit Oppositionsführer Jair Lapid, später sollte er zudem mit Oppositionsmitglied Benny Gantz zusammenkommen. Am Montagmorgen wurde Netanjahu entlassen, so dass er bei der Abstimmung dabei sein konnte.
Israelis gehen am "Tag des Widerstands" gegen umstrittene Justizreform auf die Barrikaden

Warum gibt es so massiven Protest gegen die Reform?
Seit 29 Wochen protestieren die Israelis gegen die geplante Justizreform. Rund eine Million Menschen haben mindestens fünfmal an Protestveranstaltungen teilgenommen. Am Wochenende waren landesweit erneut Hunderttausende gegen die Justizreform auf die Straßen gegangen. Sie sehen in den Regierungsplänen eine Gefahr für die Demokratie, die Korruption und die willkürliche Besetzung wichtiger Posten und Entlassungen begünstigt. Während der Beratungen in der Knesset brach die Oppositionsabgeordnete Orit Farkasch-Hacohen in Tränen aus. "Unser Land steht in Flammen. Ihr habt das Land zerstört, ihr habt die Gesellschaft zerstört." Der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer, Amit Becher, kündigte an, bei einer Verabschiedung juristisch gegen das Gesetz vorzugehen.
Große Kritik gibt es auch an Netanjahu persönlich. Die Reform könnte dem Ministerpräsidenten in die Hände spielen, einen seit Längerem gegen ihn laufenden Korruptionsprozess abzuwenden. Auf Plakaten in Tel Aviv und Jerusalem waren Plakate mit Netanjahus Fahndungsfoto und der Aufschrift "Verbrecherminister" zu sehen.
Am Montagmorgen campierten in Jerusalem hunderte Demonstranten in Zelten vor der Knesset. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, um die Menschen auseinanderzutreiben, die den Eingang zum Parlament blockierten, berichtete ein AFP-Korrespondent.
Droht erneut ein Generalstreik?
Für Montag hat ein Zusammenschluss der 150 größten Unternehmen im Land zum Streik aufgerufen. Von der Arbeitsniederlegung betroffen sind auch einige große Einkaufszentren. Auch mehrere Hightech-Unternehmen wollen sich Berichten zufolge dem Streik anschließen. Die Start-up-Szene gilt als Zugpferd der israelischen Wirtschaft.
Der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) will zudem entscheiden, ob er einen Generalstreik ausruft. Gegner der Reform fordern dies schon lange. Der Gewerkschaftsbund mit 800.000 Mitgliedern hatte Ende März wegen der Entlassung des Verteidigungsministers Joav Galant durch Netanjahu schon einmal zum Generalstreik aufgerufen. Galant hatte zuvor den Umbau der Justiz kritisiert. Netanjahu setzte die Pläne dann vorübergehend aus, Galants Entlassung wurde rückgängig gemacht.
Welche Rolle spielt das Militär?
Aus den Reihen der Armee wächst der Widerstand gegen das Vorhaben der Regierung. Rund 10.000 Reservisten kündigten am Wochenende an, nicht mehr zum Dienst erscheinen zu wollen, sollte die Koalition ihre Pläne nicht stoppen. Berichten zufolge könnte dies die Einsatzbereitschaft des Militärs erheblich beeinträchtigen. Am Freitag hatten bereits mehr als 1000 Reservisten der Luftwaffe mit Dienstverweigerung gedroht. Daraufhin gab Verteidigungsminister Joav Galant bekannt, sich um einen "Konsens" zu bemühen.
Israels Institut für Nationale Sicherheitsstudien schrieb am Sonntag: "Der Schaden für die nationale Sicherheit Israels ist Realität geworden". Sollte das Gesetz nicht gestoppt werden, werde nicht nur dem Militär Schaden zugefügt, sondern auch der Wirtschaft und den Beziehungen zu wichtigen Bündnispartnern wie den USA.
Wie bewerten internationale Partner Israels Reformpläne?
Kurz vor der Abstimmung hatte US-Präsident Joe Biden die israelische Regierung zu Kompromissbereitschaft aufgerufen. "Es ergibt keinen Sinn für die israelische Führung, dies zu überstürzen – Ziel sollte sein, die Menschen zusammenzubringen und einen Konsens zu finden", mahnte Biden am Sonntag in einer zuerst vom Nachrichtenportal "Axios" veröffentlichten und später vom Weißen Haus an die Nachrichtenagentur AFP weitergegebenen Erklärung. "Aus Sicht von Israels Freunden in den Vereinigten Staaten sieht es so aus, als ob der derzeitige Vorschlag zur Justizreform zu mehr Spaltung führt, nicht zu weniger", erklärte Biden weiter.
Hinweis: Dieser Artikel wurde mit aktuellen Informationen überarbeitet.