Journalismus in Kriegszeiten Was wir wissen. Was nicht. Und wie wir es berichten: So arbeitet der stern in Israel

Katharina Kunert in Israel
Stern-Reporterin Katharina Kunert im Dizengoff-Center in Tel Aviv, wo Hunderte Hilfe für Soldaten und Opfer der Hamas-Überfälle organisieren
© stern.de
Wie wählt die stern-Redaktion aus, welche Ereignisse und Geschichten wir aus dem Kriegsgebiet von Gaza berichten? Wie versuchen unsere Reporterinnen und Reporter vor Ort in Israel zu klären, was Fakt, was Propaganda ist, und wie erklären wir das? Ein Einblick in unsere Arbeit.

Der Krieg in Gaza ist auch ein Kampf um Meinungen und er wird auch außerhalb des Kampfgebiets geführt. Im Netz, auf Social Media, im Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften. Er wird auch innerhalb unserer Redaktion geführt. Hat Israel das Recht, sich nach dem Terror-Angriff der Hamas mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren – auch wenn dabei mehrere tausend Zivilisten sterben? Oder werden hier Kriegsverbrechen begangen, weil selbst 1400 Tote durch die Hamas nicht rechtfertigen, dass nun in Gaza auch hunderte unschuldige Kinder sterben?

Uns Journalisten fällt dabei eine wichtige Verantwortung zu, gerade in Deutschland mit seiner Geschichte des Holocaust. Welche Schicksale erzählen wir? Wessen Leid thematisieren wir? Wie schaffen wir es, Ihnen, den Leserinnen und Lesern, den Zuschauerinnen und Zuschauern, zu vermitteln, dass auch wir Journalisten gerade in Kriegszeiten der Gefahr unterliegen, von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert zu werden?

Bei Raketenalarm ins Fitnessstudio – das ist der Schutzraum

Der stern ist seit Beginn des Krieges mit drei Journalistinnen und Journalisten vor Ort in Israel präsent, dazu kommen Fotografen, die für uns arbeiten, und lokale Helfer, die wir "Stringer" oder "Fixer" nennen, oft sind das Lokalreporter, die mit ihrer Sprach- und Ortskenntnis unterstützen. 

Einwohner von Sderot verlassen ihre Stadt and der israelischen Grenze zum Gazastreifen aus Angst vor den Luftschlägen der israelischen Armee. stern-Reporterin Katharina Kunert berichtet vor Ort über die Lage. 
Einwohner von Sderot verlassen ihre Stadt and der israelischen Grenze zum Gazastreifen aus Angst vor den Luftschlägen der israelischen Armee. stern-Reporterin Katharina Kunert berichtet vor Ort über die Lage. 
"Alle paar Minuten Luftschläge": stern-Reporterin über die Lage in Sderot

Reporterin Marina Klimchuk erzählt: "Unsere Basis ist derzeit ein Hotel am Strand von Tel Aviv. Aber wir gehen nie zum Strand, dafür ist keine Zeit. Im Hotel leben außer uns evakuierte Israelis aus dem Norden des Landes, an der Rezeption arbeiten Israelis, Ukrainer und Russen, die Putzkraft ist aus Belarus. Wir reden viel mit ihnen, weil sonst niemand im Hotel lebt und sie viel Zeit haben . Bei Raketenalarm treffen wir uns im Fitnessstudio, das gleichzeitig Schutzraum ist. Von unserer Basis aus fahren wir mit dem Auto oder Zug auf Recherchen, nach Jerusalem, in den Süden oder Norden des Landes, ins Westjordanland nach Bethlehem, Ramallah, oder, so wie ich jetzt gerade, in die israelischen Siedlungen, wo ich zum Thema der Siedlergewalt recherchiere." 

Vor Ort sein, mit Israelis wie mit Palästinensern sprechen, unterschiedliche Meinungen einzuholen, das ist in diesen Zeiten wichtiger denn je. Genauso wichtig: die eigene Sicherheit. Keiner unserer Reporterinnen und Reporter arbeitet derzeit von Gaza aus – dort kamen schon mehr als ein Dutzend Journalisten ums Leben. Das stern-Team ist allerdings in Kontakt mit Menschen vor Ort, mit Ärzten, Helfern, aber auch mit Familien, die täglich um ihr Leben fürchten. So versuchen wir zu vermitteln, was in Gaza vor sich geht. Bei der Zahl der dort ums Leben gekommenen Menschen sind wir, genauso wie andere Medien, auf die Daten angewiesen, die das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza veröffentlicht. Das versuchen wir, transparent dazustellen.

Auch außerhalb des Kampfgebiets selbst treffen unsere Reporterinnen auf Szenen, die sie aufrühren: Katharina Kunert erzählt: "Als ich im Kibbuz Be’eri stehe, erschüttern immer wieder Explosionen die leeren Gemäuer. Das Dorf, wo die Hamas besonders brutal wütete, liegt nur vier Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt. Auf dem Gehweg bei einem Spielplatz sieht man noch Blutspuren, auch einen breiten Fleck mit einem Fußabdruck darin. Die Bewohner hier, darunter Holocaust-Überlebende und Familien mit kleinen Kindern, wurden am frühen Morgen aus ihren Betten gerissen, viele versuchten barfuß und im Pyjama vor den Terroristen zu fliehen. Ich sehe zerschossene Autos, abgebrannte Häuser, Matratzen mit Löchern und getrockneten Blutflecken darin. Der Anblick der Tatorte und der noch immer durch die schwüle Luft wabernde Geruch von Blut sind schwer zu ertragen. Dennoch ist es mir als Reporterin wichtig, das selbst wahrgenommen zu haben. Nicht nur, um die Eindrücke beschreiben zu können. Sondern auch, um im Gespräch mit Interviewpartnern selbst erlebtes Hintergrundwissen parat zu haben."

Das Misstrauen beider Seiten ist groß

Die Atmosphäre in Israel ist aufgeheizt, das Misstrauen nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern sondern auch zwischen jüdischen und arabischen Israelis ist groß. Der stern versucht, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen, zum Beispiel sowohl den ehemaligen israelischen Generalstabschef – wie auch den Minister der Palästinensischen Autonomiebehörde, der für die palästinensischen Gefangenen in Israel zuständig ist. Reporterin Marina Klimchuk: "Einige Menschen wollen unbedingt sprechen, der Welt ihre Geschichte erzählen. Andere, vor allem palästinensische Interviewpartner, zögern oft. Sie haben Angst, welche Konsequenzen ein Interview für sie haben könnte. Manchmal versuchen wir klar zu machen, wie wichtig ihre Stimmen sind, immer aber respektieren wir ihre Entscheidungen. Nicht selten sagen Gesprächspartner Dinge, mit denen wir sie nicht zitieren können – Propaganda, Hass und ein verzerrtes Geschichtsverständnis sind weit verbreitet.”

Auch Reporterin Katharina Kunert berichtet von dieser Erfahrung: "Beide Seiten möchten mit den Informationen, die sie liefern, etwas Bestimmtes darstellen: Die eigene Stärke etwa oder die besondere Grausamkeit der Gegenseite. Wie Falschnachrichten auf beiden Seiten verfangen, merkt man bei vielen Gesprächen mit jüdischen und arabisch-muslimischen Menschen in Israel. In den Gesprächen, die wir führen, wollen wir sie nicht vom Gegenteil überzeugen, sondern herauszufinden: Warum möchten sie diese Nachricht glauben? Und welche Schlüsse ziehen sie aus den Nachrichten?"

Die Arbeit von Journalisten gleicht in diesem Krieg, wie häufig, dem Zusammensetzen eines Puzzles. Viele Teile, also viele Gespräche und Eindrücke, vermitteln einen mal mehr, mal auch weniger genauen Eindruck der Lage. Wir als stern sehen unsere Aufgabe darin, zu vermitteln, was wir wissen, welches Bild sich uns zusammensetzt – damit Sie sich Ihr eigenes machen können. Wir sehen unsere Aufgabe aber auch darin, Ihnen die fehlenden Puzzlesteine aufzuzeigen, zu erklären, was wir nicht wissen. Das eine, davon sind wir überzeugt, geht nicht ohne das andere.