Katastrophe von Kachowka "Wenn Russland davon profitiert, was ist schlimm daran?" – Zerstörung des Staudamms sorgt unter Kreml-Propagandisten für Eklat

Zerstörung des Kachowka-Staudamms: In der Sendung "Treffpunkt" sorgte die Offizielle Kreml-Version für einen Eklat
Die Gäste im Studio der Sendung "Treffpunkt": Gleich vier Gäste zogen die offizielle Darstellung des Kremls zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms in Zweifel. 
© Screenshot NTW
Kaum war die Nachricht von der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Welt, begann die Kreml-Propaganda unisono der Öffentlichkeit die Version aus Moskau einzutrichtern – wären da nicht einige Querulanten und ein Bürgermeister, der das Handbuch zu spät bekam. 

Am frühen Morgen des 6. Juni tauchten die ersten Meldungen über schwere Beschädigungen am Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine auf. Es drohe unmittelbar eine Flutkatastrophe, lauteten die alarmierenden Nachrichten. Der von Moskau ernannte Bürgermeister der Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, dementierte jedoch lautstark die Informationen über Beschädigungen des Wasserkraftwerks. "Das ist Unsinn! Alles ist gut, alles ist überall gut. Überall in der Stadt ist alles in Ordnung, alles ist ruhig und friedlich", erklärte Leontjew der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Um 6.08 Uhr morgens wurde seine Stellungnahme veröffentlicht. 

Zu diesem Zeitpunkt kursierten im Netz bereits Videoaufnahmen von Wasserfluten, die sich über den zusammengebrochenen Damm ergießen. Auch die sogenannten "Kriegskorrespondenten", kremltreue Propaganda- Sprachrohre, wussten bereits um 2 Uhr morgens über einen "möglichen Angriff der Streitkräfte der Ukraine" auf den Staudamm zu berichten. Das Wasserkraftwerk sei zerstört, meldete etwa der Telegram-Kanal "Militärkorrespondenten des Russischen Frühlings" – um 2.18 Uhr

Während der Bürgermeister der Stadt, die unmittelbar am Staudamm liegt, nichts von einer Katastrophe wissen wollte, benannten die selbsternannten Kriegskorrespondenten bereits die Schuldigen. 

Bürgermeister von Nowa Kachowka schwenkt auf Kreml-Kurs um 

Dass dies nicht zusammenpasst, leuchtete Leontjew aber schnell ein. Kurze Zeit später hieß es auch von seiner Seite: "Gegen 2 Uhr morgens kam es zu einer Reihe mehrfacher Angriffe auf das Wasserkraftwerk Kachowka", bei denen die Ventile zerstört worden seien. "Infolgedessen begann das Wasser aus dem Kachowka-Reservoir unkontrolliert stromabwärts zu fließen", sagte er gegenüber Reportern.

Ihm zufolge wurden Oberflächenstrukturen zerstört. Eine Notwendigkeit für eine Evakuierung der Einwohner von Nowa Kachowka sah er zu diesem Zeitpunkt aber nicht. Obwohl Leontjew nur wenig früher überhaupt nichts von einem Problem am Staudamm gewusst hatte, war er nun fest davon überzeugt, die Ursache benennen zu können. "Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich um einen sehr schweren Terroranschlag handelt", erklärte er. 

Dieselben Worte wiederholte er wenige Stunde später in der Vormittagsausgabe der Sendung "60 Minuten". Entgegen ihrem Titel wird die Show zwei Mal am Tag rund fünf Stunden auf dem Staatssender Rossija 1 ausgestrahlt. Die Moderatorin Olga Skabejewa gehört zu den glühendsten Propagandisten und Verfechtern der Kreml-Politik. "Aus der Region Cherson erreichen uns maximal alarmierende Nachrichten", verkündete sie gegen 12 Uhr Moskauer Zeit. "Wahnsinnige Bilder. Der Wasserpegel ist bereits um zehn Meter gestiegen. Die Stadt Nowa Kachowka ist praktisch überflutet, wenn man den Aufnahmen glauben kann. Vor dem Gebäude der lokalen Administration sind Schwäne aufgetaucht", kommentierte sie die entsprechenden Bilder aus der Stadt am Staudamm. 

Eine Vokabel, viele Sprecher  

"Die Ukrainer haben einen Terror-Akt veranstaltet und den massiven Bau unglaublichen Ausmaßes zerstört, der in den 50er-Jahren von 12.000 sowjetischen Bürgern errichtet wurde", lautete das Urteil von Skabejewa. 

"Was die Ukraine da gemacht hat, kommt in der Auswirkung der Anwendung einer taktischen Nuklear-Waffe gleich", setzte ihr Studio-Gast Igor Korotschenko einen drauf. Dem Publikum von Skabejewa wird er als Chefredakteur der Zeitschrift "Nationalverteidigung" vorgestellt. Außerdem ist er Mitglied des Öffentlichen Rates des russischen Verteidigungsministeriums, Oberst in Reserve – und Dauergast bei Skabejewa. "Das ist ein Kriegsverbrechen. Der Schlag wurde mit einem ukrainischen Salvengeschütz ausgeführt, wahrscheinlich vom Typ Alpha", deklarierte er nur wenige Stunden, nachdem die Katastrophe ihren Lauf genommen hatte. 

"Die Stadt steht unter Wasser", erklärte im Anschluss der ins Studio zugeschaltete Bürgermeister von Nowa Kachowka, der den überfluteten Platz vor seiner Administration präsentierte. Auch Leontjew wusste inzwischen zu berichten: "Die Ereignisse von heute Nacht sind ein Fakt und sie stellen den Höhepunkt des barbarischen Terrorakts dar, der seit dem Sommer letzten Jahres durchgeführt wurde. Der Kochowka-Staudamm wird seit dem letzten Sommer beschossen. Wir hatten einen Tag, an dem der Staudamm von 70 Himars-Geschossen getroffen wurde", leierte er offenbar den ihm ausgeteilten Leitfaden des Kremls herunter. "Das ist ein furchtbarer Terrorakt", wiederholte er immerzu – eine Vokabel, auf die sich die Kreml-Propaganda schnell eingeschossen hatte und dem offiziellen Kurs entspricht. 

Skabejewa gegen "Bild" 

Dabei kamen diese Worte aus dem Mund eines Mannes, der nur wenige Stunden zuvor verkündet hatte: "Überall in der Stadt ist alles in Ordnung, alles ist ruhig und friedlich." Aber das wird den russischen Zuschauern erwartungsgemäß nicht verraten. 

"Es ist offensichtlich, dass hinter dem Terrorakt die ukrainischen Streitkräfte stecken", wiederholte Skabejewa aber zur Sicherheit das vorgegebene Narrativ. Die westlichen Medien würden aber "ohne abzuwarten, ohne Informationen, und sogar ohne Videoaufnahmen" umgehend Russland und Putin beschuldigen. Allen voran störte sich Skabejewa an der Aufmachung der "Bild-Zeitung", die es gewagt hatte "den Namen unseres Landes auf das Titelblatt zu packen", echauffierte sich die Propagandistin. 

Die Qualität der Berichterstattung der "Bild"-Zeitung ist in der Tat oft fraglich. Aber eine Propagandistin, die zehn Sekunden zuvor sich rausnahm, nicht nur von einem Terrorakt zu sprechen, sondern auch die Schuldigen zu benennen, ist keine qualifizierte Kritikerin.

Aber was die Kreml-Propaganda darf, darf in der Vorstellung Skabejewas niemand sonst. "Das Handbuch ist altbekannt – und verursacht ehrlich gesagt Übelkeit: Russen haben sich selbst gesprengt. Die Russen haben sich selbst beschossen. Die Russen haben sich selbst vernichtet", schoss sie weiter gegen die "Bild" – ohne die Absurdität ihrer Worte zu verstehen. Denn sie und ihre Propaganda-Kollegen behaupten seit neun Jahren, die Ukraine würde sich selbst beschießen, zerstören und sprengen. Skabejewa entgeht aber das Paradoxon – genauso wie die Tatsache, dass nicht alle nach einem Handbuch arbeiten wie sie selbst. 

Eklat in Propaganda-Show 

Während aber Skabejewa wie eine Dompteurin ihr Studio im Griff zu behalten weiß, entgleitet ihrem Kollegin Andrej Norkin vom Sender NTW regelmäßig die Kontrolle. So geschehen in der letzten Ausgabe seiner Sendung "Mesto Wstretschi" ("Treffpunkt"). "Auch wenn man nicht daran erinnern muss, erinnere ich doch daran: Die ukrainischen Streitkräfte haben den Kachowka-Staudamm seit dem letzten Sommer beschossen", stimmte Norkin in das Unisono der Kreml-Propaganda ein. "Wir helfen aber bedauerlicherweise den Ukrainern", schaltete sich an dieser Stelle aber der ehemalige stellvertretende Außenminister Andrej Fedorow ein. "Ich lese Ihnen gleich etwas vor", kündigte er an und kramte sein Handy aus der Tasche. 

Bereits etwas Böses ahnend versuchte Norkin zu intervenieren: "Was haben sie da für ein blödes Smartphone? Schalten sie es aus. Wahrscheinlich auch noch ein iPhone", giftete der Moderator. Doch Fedorow ließ sich nicht beirren und las vor: "Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson verleiht den russischen Streitkräften einen militärisch-taktischen Vorteil". Das Zitat stammt von keinem anderen als dem von Moskau ernannten Gouverneur der Region Cherson Wolodymyr Saldo, der seit dem 26. April 2022 die russisch besetzten Gebiete kontrolliert. "Mit solchen Statements arbeiten wir selbst zugunsten der Ukraine". 

"Wenn Russland davon profitiert, was ist schlimm daran?" 

"Ist es denn nicht offenbar, wem die Zerstörung des Staudamms dient?", versuchte der Co-Moderator Ivan Truschkin das Ruder wieder herumzureißen. Doch plötzlich kam auch vom Politik-Analyst Wiktor Olewitsch Gegenwind. "Hier war der Begriff Verbrechen gefallen. Dabei ist dies keineswegs ein Einzelfall. Zu den Zeiten des Zweiten Weltkrieges haben wir den Istra-Stausee gesprengt", erinnerte er. "War das etwa ein Verbrechen? Nein, es war kein Verbrechen. Die sowjetische Armee profitierte davon bei der Verteidigung von Moskau, in einem kritischen Moment im November des Jahrs 1941. Das hat man lange verschwiegen. (...) Aber es war kein Verbrechen", stellte Olewitsch eine waghalsige Behauptung auf. Wenn also Russland nun von der Zerstörung des Kachowka-Staudamms profitiere, wäre auch nichts schlimmes daran, wagte er sich noch weiter vor. "Wenn uns das nützt, warum ist das dann schlimm?" 

Den Moderatoren ging das sichtlich zu weit. Panisch versuchten sie ihn zu unterbrechen. Da sprang ein weiterer Studio-Gast den Zweiflern bei. Alexej Leonkow, der als Militärexperte vorgestellt wird: "Diesen Staudamm zu sprengen, ist nicht einfach. Das geht mit keinem Geschoss. Da braucht man eine große Menge an Sprengstoff, der so gelegt werden muss, dass bei einer Explosion die Wassermengen, die auf die Schleusen drücken, den Rest erledigen", gab er zu bedenken und widersprach damit der offiziellen Version des Kremls. "Die Explosion reißt erste Risse, den Rest erledigt das Wasser", erklärte er das Prinzip. "Es gab keine Explosion an der Oberfläche." Der Staudamm sei so gebaut worden, dass jeder Attacke von oben standhalten würde. "Während der Kampfhandlungen, hat der Staudamm keinerlei Schaden von den Beschüssen genommen", postulierte Leonkow. Taucher müssen den Sprengstoff platziert haben, um solch eine Zerstörung herbeizuführen. 

Doch der Staudamm befindet sich unter russischer Kontrolle. Eine Operation von feindlichen Tauchern auf okkupiertem Gebiet kann und will der Kreml nicht eingestehen. Das wissen auch die beiden Moderatoren der Show, die nun gleich drei Gästen den Mund verbieten wollten. Doch die offizielle Version ging auch Alexej Naumow, der dem Russischer Rat für internationale Angelegenheiten angehört, gegen den Strich. "Der Staudamm ist für einen Atom-Krieg ausgelegt, Freunde! Was für eine Einwirkung von außen!", fuhr er aus der Haut. 

"Ich verstehe gar nicht mehr, was hier geschrien wird. Das ist dich purer Wahn", fuhr Norkin schließlich dazwischen und läutete eine Pause ein, bevor seine Gäste sich weiter in die Bredouille bringen konnten – und vor allem ihn selbst.