Es ist noch nicht mal 18 Uhr, und der Präsident liegt schon klar in Führung: 102 zu 77 Wahlmännerstimmen zählt CNN. Wie soll da Stimmung aufkommen bei John Kerrys offizieller Wahlparty im "Jillian's", einem schnieken Lokal in San Franciscos Innenstadt?
Andererseits: Der Abend ist noch jung, und bisher sind nur wenige Kerry-Anhänger aufgetaucht, hundert vielleicht, viel mehr nicht. Platz wäre für vier- oder fünfmal so viele. Einige sitzen an großen runden Tischen, die meisten drängen sich vor dem "Jumbotron" an der Bar, einem Riesenbildschirm, der fünf Sender gleichzeitig überträgt. Neben Kerry und Bush laufen die Basketballer von Houston und Detroit über die Mattscheibe. Politik ist ja nicht alles im Leben, nicht mal heute.
Die meisten hier blicken zurück in ein fremdes Land
Der Blick aus dem "Jillian's", durch den Jumbotron hindurch, geht nach Osten, drei Zeitzonen zurück - und in vielerlei Hinsicht ist es für die meisten hier ein Blick in fremdes Land. San Francisco versteht sich als eine der liberalsten Städte der USA. Die Demokratische Partei holt regelmäßig 80 bis 85 Prozent der Stimmen und natürlich ist man, keine Frage, für so ziemlich alles, was George W. Bush und die Konservativen aus dem Mittleren Westen und den Südstaaten auf die Palme treibt: Homosexuellen-Ehe, das Recht auf Abtreibung, Stammzellenforschung und gern auch die Legalisierung von Marihuana. Für medizinische Zwecke, versteht sich. Im Vergleich zum Rest der USA steht San Francisco so weit links, dass es auf der Landkarte eigentlich als eigene Insel im Pazifik schwimmen müsste.
So können sie hier nur ungläubig den Kopf schütteln bei jeder neuen Hochrechnung und aus Frust herzhaft buhen, wann immer ein Republikaner auf dem Bildschirm auftaucht. Um 18:34 Uhr steht der Zähler bei 170 zu 112 Wahlmännerstimmen, und der Präsident braucht nur noch 100 mehr, um seine Wiederwahl zu sichern.
"Wir hoffen und beten für Kerry"
Die Traube vor dem Jumbotron ist größer geworden. Mittendrin steht Ken Hoegger und drückt seinem Kandidaten die Daumen - für sein eigenes Wohl und für das der ganzen Welt: "Wir hoffen und beten für Kerry", sagt der 58-jährige Immobilienmakler aus San Francisco. "Wir hoffen und beten, dass wir unsere Ehre wiederfinden, denn wir sind tief gefallen und haben den Respekt der Welt verloren." Er meint das ganz ernst, und er hat es selbst erfahren, gerade neulich erst, als er in Spanien und England war. "Die Leute schauen uns an, als wären wir Fremde", sagt Hoegger, ein schmaler Mann mit eisgrauem Vollbart, "und wir sind auch nicht mehr dieselben. Ich habe Angst davor, was passiert, wenn Bush noch vier Jahre so weitermachen kann."
Wahrscheinlich würde ja alles noch schlimmer, noch radikaler, glaubt Hoegger, weil Bush in seiner zweiten Amtszeit freie Bahn hätte: Er müsste auf seine Wahlchancen keine Rücksicht mehr nehmen, weil er kein drittes Mal antreten darf, das verbietet die Verfassung, und so gäbe es wohl wenig, was ihn zurückhalten könnte. "Ich fürchte, seine Politik wird noch extremer werden. Es macht mir Angst, was aus unserem Land schon jetzt geworden ist." Wenn es ganz schlimm kommt, sagt Hoegger, "dann könnte ich mir sogar vorstellen auszuwandern - nach England oder Kanada".
Es ist noch früh und man muss ja nicht an Schlimmste denken
Aber noch muss man ja nicht ans Schlimmste denken. Es ist ja noch früh am Abend, alles ist möglich, solange nicht alle Stimmen ausgezählt sind - das wird zum Mantra der Kerry-Anhänger im "Jillian's": "Wir wissen ja noch gar nicht, was mit Ohio und Florida wird", sagt Rachel Arthur. "Es ist noch früh, und ich bin optimistisch." Den ganzen Tag hat Arthur, eine 38-jährige Sozialarbeiterin, für Kerry Wahlkampf gemacht, hat Wähler in Florida, Nevada und Hawaii angerufen und sie gebeten, ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen.
Warum? "Bush ist gefährlich", schimpft sie, "er zieht auf eigene Faust in den Krieg, er steckt mit der Wirtschaft unter einer Decke, und er hat Amerika in Misskredit gebracht." Nun schaut sie auf die Landkarte auf dem Jumbotron, die sich immer stärker rötet, der Farbe der Republikaner, und fragt sich, was die Welt wohl denken mag von ihrem Land. "Was die internationale Gemeinschaft immer zu Gesicht bekommt, sind die diese 'typischen Amerikaner' aus dem Mittleren Westen", sagt sie, "diese engstirnigen Typen, die nie über den eigenen Tellerrand hinausschauen." Es sei ihr geradezu "persönlich peinlich", denselben Pass zu besitzen wie diese Leute, sagt Arthur, denn: "Viele von uns sind ja gar nicht so."
Nicht in dieser Gegend jedenfalls, und wie zum Beweis meldet CNN um Schlag 20 Uhr, dass die 55 Wahlmännerstimmen von Kalifornien an John Kerry gehen. Zum ersten Mal an diesem Abend bricht im "Jillian's" echter Jubel aus. Es steht 207 zu 199. Bush liegt immer noch vorn, aber die Demokraten haben wieder Hoffnung.
Ein paar Schritte weiter im Marriott Hotel feiert die Partei diesen Sieg auf ihrer offiziellen Wahlparty. Man trägt Anzug oder Jeans, Abendkleid oder Minirock, Strickschals oder Filzhüte - es ist eine bunte Mischung vorwiegend junger Leute, die sich eingefunden hat, um im "Yerba Buena Ballroom" der kalifornischen Senatorin Barbara Boxer zuzujubeln, die sich als erste Demokratin in der Ära Schwarzenegger an diesem Tag zur Wiederwahl stellen muss.
"Wie viele von euch sind heute wählen gegangen?", ruft Boxers Sohn Doug in die Menge, und alle heben die Hand. "Es wird eine lange Nacht, und wir wissen nicht, was aus Florida oder Ohio wird", fährt Doug Boxer fort, "aber wir wissen, dass Kalifornien seine 55 Wahlmännerstimmen bei John Kerry abgeliefert hat!"
Die Menge johlt. Freispruch! An ihnen hat's nicht gelegen, wenn die Sache schief geht. Mitten zwischen den Zwanzig-, Dreißig- und Vierzigjährigen steht ein sommersprossiges blondes Mädchen, klatscht, schreit und jubelt sich zusammen mit allen anderen die Lunge aus dem Leib. Warum sie das macht, warum sie hier ist? "Ich will einfach nur, dass Bush verschwindet", sagt Andrea Bruce, elf Jahre alt, Schülerin aus Boulder Creek in der Nähe von Santa Cruz.
Bush, der Tunichtgut, muss weg
Santa Cruz liegt anderthalb Autostunden südlich von San Francisco, aber Andreas Mutter fand, dass so ein Abend bei der Wahlparty wichtiger ist, als früh ins Bett zu gehen: "Es gibt nichts Wichtigeres in einer Demokratie als die Macht, die man mit seinem Stimmzettel ausüben kann", sagt sie. Dass Bush ein Tunichtgut ist, der weg muss, zu diesem Ergebnis sind Andrea und ihre Klassenkameraden an der Boulder Creek Elementary School schon längst gekommen. Neulich haben sie die Präsidentschaftsdebatten nachgespielt - Andrea durfte die Rolle von John Kerry übernehmen, zum Glück - und anschließend haben sie über den nächsten Präsidenten abgestimmt. "John Kerry hat mit weitem Abstand gewonnen", erklärt Andrea. "Es gab nur vier oder fünf Republikaner in meiner Klasse."
An diesem Abend aber scheint niemand mit weitem Abstand zu gewinnen. Bush liegt vor Kerry, auch um 21 Uhr, auch um 22 Uhr, auch um 23 Uhr, auch noch weit nach Mitternacht - Amerika wartet und San Francisco zittert. Nur ein Sieg ist den Demokraten im Marriott sicher, einer, bei dem kein Farmer aus Ohio dazwischenfunken kann und kein bibelfester Christ aus Alabama: Barbara Boxer hat es geschafft, ihren republikanischen Konkurrenten mit weitem Abstand hinter sich zu lassen, und darf sechs weitere Jahre im Senat in Washington sitzen und Kalifornien gegen die Hinterwäldler verteidigen. "Meine Freunde", sagt Boxer in ihrer Dankesrede, "dies ist das großartigste Land auf Erden. Es ist unser Land." Auch wenn es sich vielleicht nicht immer so anfühlt.