Es gehört dazu, den Mund vollzunehmen, wenn man gerade eine Wahl gewonnen hat. Und doch sollte uns das Triumphgeheul der Populisten Anlass zu Sorge sein. "Wir stimmen für eine neue Machtstruktur in einem Europa, das am Scheideweg steht", hat Alexander Tsipras, Führer von Syriza, Griechenlands stärkster Partei, gesagt. Schlicht ein "Erdbeben" nennt Nigel Farage seinen Wahlsieg mit UKIP in Großbritannien: ein Mandat, das Land aus der EU rauszuführen. Und für Marine Le Pen, die Siegerin in Frankreich, ging es noch nie um Europa, sie will jetzt die Macht in Paris via Brüssel.
Wir ahnten, dass das EU-Projekt in der Krise ist. Nun haben wir die Zahlen dazu. Denn eine wachsende Zahl von Menschen in den 28 Ländern, die gewählt haben, zweifelt an einer besseren Zukunft mit Hilfe der EU - am rechten wie am linken Rand. Für die einen ist das Ganze ein Zusammenschluss, der ans Eingemachte geht: Einwanderer, die angeblich Jobs wegnehmen, und Schmarotzer, die sich Sozialleistungen erschleichen. Für die anderen ist die EU eine Veranstaltung zum Wohl der großen Banken und Konzerne. Aus ihrer Perspektive muss der Bürger bluten, damit es den Bonzen gut geht.
Man muss solche Haltungen nicht teilen, um zu begreifen, dass da etwas Großes im Gang ist. Man kann solche Politik zu Recht als Angstmache und Simplifizierung abtun, um trotzdem zu verstehen, dass es zu einfach wäre, all die Menschen, die Syriza oder Front National, die UKIP oder AfD gewählt haben, nur für Radikale oder Spinner zu halten.
Friedensprojekt Europa
Statt den Schulterschluss der Demokraten zu predigen, wie es etwa Deutschlands Politiker bei CDU oder SPD fordern, wird es Zeit, dass eben diese Politiker erkennen, wie sehr sie Teil des Problems sind. Mehr denn je ist Europa zu einem Projekt der Eliten geworden. Sechs Jahre nach Beginn der Finanzkrise und hoher Arbeitslosigkeit hat eine wachsende Zahl von Menschen das Vertrauen in eine anonyme Bürokratie und in die gewählten Repräsentanten verloren, Europas Probleme zu lösen.
Man kann es in den Umfragen schon seit einer Weile beobachten: Die Bürger vieler Staaten - in Italien, in Spanien, in Frankreich oder Griechenland vor allem - halten ihre Politiker für eine abgehobene Kaste, mehr am eigenen Wohlergehen interessiert als am Gemeinwohl. Solchen Repräsentanten mag niemand abnehmen, dass Einschnitte und Kürzungen bei den Sozialausgaben erstens gerechtfertigt sind und zweitens zur Lösung des Problems beitragen. In dieser Stimmung wirkt etwa ein Freihandelsabkommen mit den USA nicht als Versuch, dem internationalen Handeln verbindliche Regeln und Standards zu geben, sondern als Kungelei derer da oben zu Lasten der Bürger da unten.
Da gerät dann schnell in Vergessenheit, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, demnächst in die Sommerferien zu fahren, ohne den Ausweis bei der Grenzkontrolle zu zeigen oder Geld wechseln zu müssen. Da nehmen wir als selbstverständlich, wenn inzwischen mehr als 250.000 europäische Studenten dank des Erasmus-Programms Jahr für Jahr ein Semester in einem Nachbarland verbringen.
Dass wir Europa längst leben, aber keinen Grund sehen, es zu lieben - auch das ist Schuld der traditionellen Politiker. Wann immer ihnen was nicht passt oder wann immer sie etwas womöglich Unpopuläres tun, freuen sie sich, in Brüssel einen Sündenbock zu haben, der von der eigenen Unzulänglichkeit ablenkt. Sie haben es versäumt, ein Bild von Europa zu zeichnen, das die Errungenschaften der Gemeinschaft feiert oder doch zumindest betont: den Wohlstand, den dieser größte Binnenmarkt der Welt fast einer halbe Milliarde Menschen gegeben hat. Die Transferzahlungen, durch die Spanier oder Portugiesen eben nicht bloß wunderbare Straßen bekommen haben. Ihre Länder sind zu demokratischen Staaten geworden, in denen nicht mal im Moment der großen wirtschaftlichen Krise eine neue Diktatur droht.
Europas größte Hoffnung im Moment ist darum ein Politiker außerhalb der EU: Wladimir Putin. Wer sieht, wie er Konflikte mit seinen Nachbarn meint regeln zu können, kann sich darüber freuen, dass Griechen und Deutsche ihre Auseinandersetzungen ohne Waffen austragen werden. Bei aller Unzulänglichkeit, bei allem fragwürdigen Gekungel zwischen EU-Parlament, EU-Kommission und den Staatschefs der Länder bei ihren Ratssitzungen - die Europäische Union mag kein Vorbild an Transparenz sein, kein Sozialprojekt. Sie ist das größte Friedensprojekt der Geschichte - und manchmal auch das aufregendste.