In Moskau, in den Küchen der großen Stadt, hatten viele schon vor Wochen befürchtet, es werde etwas Schlimmes passieren, "poslje Sotschi", nach den Olympischen Spielen in Sotschi. Dann werde Putin abrechnen mit seinen Kritikern, mit der kleinen Opposition im eigenen Land, dann würden bestellte Gerichtsurteile auch gegen jene Demonstranten fallen, die vor zwei Jahren friedlich gegen Putin demonstriert hatten. Und dass er wohl auch etwas unternehmen würde gegen die Demonstranten auf dem Majdan in Kiew.
Dass es so schlimm kommen würde, dass Putin einen Krieg riskieren würde, hätte noch vor wenigen Wochen niemand erwartet. Weder in den Moskauer Küchen noch im Weißen Haus in Washington.
Doch nach allem, was man im Moment weiß, hatten Präsident Wladimir Putin und seine "silowiki", die starken Männer des Sicherheitsapparates im Kreml, schon vor Wochen beschlossen, gegen die Ukraine vorzugehen, zur Not auch militärisch. Anfangs ging es offenbar noch darum, Präsident Janukowitsch loszuwerden, den ehemaligen Kleinkriminellen, der Putin längst zu unberechenbar geworden war und eine neue Ordnung nach Putins Geschmack in Kiew zu etablieren.
Fakten schaffen mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts
Doch dann ließ Janukowitsch seine Spezialeinheiten auf die Demonstranten schießen, starben mehr als 80 Menschen. Dann kam ihm der Majdan zuvor. Der Majdan und diese drei europäischen Außenminister, die ein Abkommen verhandelt hatten, das der Ukraine einen Weg in die Zukunft hätte eröffnen können, vielleicht gar einen Weg Richtung Europa. Ein Abkommen, das auch den alten Machteliten Teilhabe ermöglicht hätte. Doch noch bevor die Tinte auf diesem Abkommen trocken war, floh Janukowitsch vor seinem eigenen Volk.
Und Putin entschied sich, blankzuziehen. Seine faktische militärische Besetzung der Krim folgt einem ebenso brutalen wie kühlen Kalkül, den geostrategischen Interessen seines Russlands.
Er schafft Fakten mit Mitteln des 19. Jahrhunderts, und er glaubt, er kann nur gewinnen.
Sein Land aber, es wird verlieren.
Monströse Propagandamaschinerie
Es geht nur vordergründig um die angeblich "heilige russische Erde" des slawischen Siedlungsgebietes der mittelalterlichen Kiewer Rus. Es geht auch nur vordergründig um den Schutz der Schwarzmeerflotte, des großen Hafens auf der Krim – der Pachtvertrag mit der Ukraine gilt noch gut 30 Jahre. Es geht vielmehr um eine Ukraine als Pufferzone gegen die immer weiter nach Osten vorrückende Nato. Es geht um eine Ukraine von Putins Gnaden, der auch Oligarchen wie Schachfiguren einsetzen kann, die das Land nach seinen Regeln regieren.
Die angeblich bedrohten Russen auf der Krim und im Osten des Landes sind Opfer der ebenso perfiden wie monströsen russischen Propagandamaschinerie. Auf Russen werde herumgetrampelt, erregte sich der russische UN-Botschafter Vitalij Tschurkin. Von der Wahrung der Menschenrechte sprach der russische Außenminister Lawrow, von extremistischen, antisemitischen "Orgien" gegen Russen in der Ukraine gar Präsident Putin selbst. Wer sich, wie die Journalistin Abby Martin vom Propagandasender Russia Today eine eigene, gar kritische Meinung leistet, der fliegt.
Jetzt will Putin ein Referendum auf der Krim abhalten lassen und damit durch ein "demokratisches" Verfahren die faktische Abspaltung der Krim besiegeln. Zugleich lässt er im Osten der Ukraine zündeln, die russischen Fernsehsender schüren erfolgreich die Urängste vor einem Bürgerkrieg, vor Pogromen gar, vor Faschisten.
Denn all das, es sitzt tief in der russischen Seele. Denn all das haben die Menschen der ehemaligen Sowjetunion erlebt, und es ist noch gar nicht so lange her. So sagt es die herzenskluge Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in einem Gespräch mit dem stern: "Wir, die Menschen mit den roten Seelen, wir leben immer noch auf den Trümmern des Sozialismus. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, die Ideologie wurde abgeschafft, Kommunismus, Sozialismus. Eines Morgens wachten wir in einem anderen Land auf. Aber der Mensch, den diese Ideologie schuf, dieser Mensch lebt immer noch, auch jetzt noch, nach mehr als 20 Jahren. Dieser Mensch ist noch lange nicht frei. Es sind Sowjetmenschen, wie Wladimir Putin."
Demokratische Ukraine eine Bedrohung für die "Kreml Inc."
Ein russischer Nationalismus im Osten der Ukraine, so Putins Kalkül, würde Reaktionen der rechten ukrainischen Nationalisten im Westen des Landes hervorrufen. Dort, wo es immer noch Menschen gibt, die auch Stepan Bandera verehren, den umstrittenen Kämpfer gegen Stalin, der eine unabhängige, nationalistische Ukraine ausrief und 1950 in München vom KGB ermordet wurde. Und so würde sich der Virus der Spaltung im Land verbreiten. So kurzsichtig es sein mag: Eine instabile Ukraine schafft Putin einen taktischen Vorteil. Eine neue Regierung in Kiew soll eine Regierung nach seinem Willen sein.
"Es geht Putin allerdings nicht um die Wiederherstellung der Sowjetunion. Es geht ihm nicht um territoriale Expansion", sagt die Putin-Expertin Lilia Schewzowa vom Moskauer Carnegie-Zentrum. "Die Krim ist ihm in Wahrheit gar nicht von entscheidender Bedeutung. Ihm geht es darum, die Ukraine soweit zu zerstören, dass sie gar nicht mehr Richtung Westen gehen kann, gar Mitglied der Nato wird." Und er weiß genau: Eine demokratische, gar westlich orientierte Ukraine bedroht letztlich sein eigene Herrschaft. Die der "Kreml Inc.", der Herren im Kreml, die sich die Macht teilen und die Milliarden.
Auch wenn ukrainische Politiker jetzt militärischen Beistand des Westens fordern - der Westen, die Nato, würde nicht militärisch eingreifen. Zwar garantierten die USA, Großbritannien und Russland im sogenannten Budapester Memorandum von 1994 die territoriale Integrität der Ukraine – im Gegenzug gab die Ukraine damals ihre Nuklearwaffen ab. Doch es ist umstritten, ob dieses Memorandum als völkerrechtlich verbindlicher Vertrag gilt. Die rote Linie der Nato ist klar: Sie verläuft entlang der Grenzen der Nato-Mitglieder, zu denen auch die baltischen Staaten gehören.
Deutscher Schmusekurs
Die Ukraine aber ist nicht Mitglied der Nato, und sie sollte es vor allen Dingen auf deutsches Drängen hin eigentlich auch nicht werden. Noch vor sechs Jahren wollte US-Präsident George W. Bush seine zweite Amtszeit mit einer Zusage an die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine krönen, sie könnten sich auf den Weg Richtung Nato begeben. Das Verfahren heißt Membership Action Plan (MAP), eine Art Regelwerk für demokratisches Benehmen, an dessen Ende Jahre später die Aufnahme in die Nato steht.
Auch auf Drängen der deutschen Kanzlerin lehnte der Nato-Gipfel von Bukarest den MAP für Georgien und die Ukraine ab. Die beiden Länder seien noch nicht so weit, hieß es damals, man wolle Russland nicht verprellen, seinen Präsidenten. All das war richtig, und es war falsch zugleich. Denn auch damals schon hatte Putin kühl und rasch reagiert: mit Manövern an der georgischen Grenze, mit nationalistischem Zündeln in zwei eher russischsprachigen Gebieten in Georgien. Der damalige Präsident Saakaschwili ließ sich provozieren, setzte Panzer in Marsch – und verlor den Krieg, die beiden autonomen Gebiete stehen heute als faktische Protektorate unter russischer Kontrolle. So wie die Krim.
Immer wieder hatte es geheißen, man dürfe Putin nicht verprellen. Müsse Russland doch an den Westen binden. Deutschland bot ihm die Modernisierungspartnerschaft an. Die deutsche Großindustrie ging auf Schmusekurs mit Putin, zu verlockend die Großaufträge. Wandel durch Handel, propagierte der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft. Zu beschäftigt mit seinen eigenen Krisen, unterschätzte Europa die wahre Bedrohung, die von einem Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine für Putin ausgehen musste.
Eine Tragödie für die Menschen in Russland
Und vielleicht ist es Zeit für eine bittere Erkenntnis: Putin sieht den Westen gar nicht als Partner, Frau Merkel, Herrn Obama, wie sie alle heißen. Der Westen ist eine Bedrohung für ihn. Für einen, der mittlerweile offenbar glaubt, er herrsche aus sich selbst heraus.
Es ist eine Tragödie für die Menschen in der Ukraine. Es ist eine Tragödie für die Menschen in Russland.