Bei der Aufklärung der mysteriösen Explosionen an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 sind deutsche Ermittler zwar mit dem Aufspüren einer Jacht, mit dem die Täter den Sprengstoff transportiert haben, offenbar einen wichtigen Schritt vorangekommen. Doch nach wie vor liegen viele Details im Dunkeln. Das bleibt auch von der deutschen Presse nicht unbemerkt. Eine Presseschau.
"Weser-Kurier" (Bremen): Noch liegen zur Sabotageaktion an den Ostseepipelines wenig gesicherte Fakten vor. Die Tatsache, dass die polnische Firma, die die Jacht gechartet hatte, zwei Geschäftsleuten aus der Ukraine gehören soll, beweist nichts. Erstens steht bisher weder fest, ob die Aktion tatsächlich vom fraglichen Boot ausgeführt wurde, zweitens ist zu den angeblichen Firmeninhabern wenig bekannt. (…) Daher tut die Bundesregierung gut daran, sich zum jetzigen Zeitpunkt zu dieser Frage nicht weiter zu äußern. Stattdessen sollte der Generalbundesanwalt weiter gründlich ermitteln – in alle Richtungen. Welche Konsequenzen zu ziehen sind, kann nach der endgültigen Aufklärung des Falls entschieden werden.
"Badische Zeitung" (Freiburg): Als Verantwortliche für die Sabotage-Aktion kamen damals – und kommen bis heute – mehrere Parteien in Betracht. Am naheliegendsten erscheint weiterhin der Verdacht gegen das Regime in Russland. (…) Aber natürlich könnten auch pro-ukrainische Kräfte – oder gar die Regierung in Kiew selbst – versucht gewesen sein, Europa die Hoffnung auf ungehemmten Gasfluss zu nehmen. (…) Bleiben die jüngsten Ermittlungserkenntnisse. Sie scheinen in die ukrainische Richtung zu deuten – und verweisen damit indirekt genauso in Richtung Moskau. Wladimir Putin wäre der Profiteur, würde als Folge des Verdachts die Sympathie im Westen für die Ukraine schwinden und die Unterstützung bröckeln. Deshalb sollte eines – Nord-Stream-Explosionen hin oder her – nicht vergessen werden: Schuld am Krieg ist und bleibt der menschenverachtende Größenwahn Putins. Das Überleben der Ukraine zu sichern und Russland Grenzen zu setzen, bleibt oberstes Ziel westlicher Politik.
"Leipziger Volkszeitung": Zwar wäre durch die Pipelines auch ohne Sabotageakte auf absehbare Zeit kein Gas geflossen, aber trotzdem ist es wichtig, die Hintergründe aufzuklären. Denn erstens geht es um die Sicherheit der europäischen Energieinfrastruktur, und zweitens bietet die Ungewissheit Verschwörungsideologen und Kriegspropagandisten derzeit viel zu viel Raum für das Verbreiten ihrer kruden und interessengeleiteten Botschaften. Eine Aufklärung der Tat wäre zumindest ein kleines Happy End in diesem großen Drama.
"Badische Neueste Nachrichten" (Karlsruhe): Das erste Opfer im Krieg ist bekanntlich immer die Wahrheit. Das ist derzeit auch in der Ukraine nicht anders. Deshalb müssen die Spekulationen über die Verantwortung für den mutmaßlichen Sabotageakt gegen die Pipeline Nord Stream 2 mit überaus spitzen Fingern angefasst werden. Das gilt sowohl für die neuen Erkenntnisse der US-Geheimdienste als auch für die Ergebnisse des deutschen Recherche-Teams.
"Wer die Täter waren ist zwar interessant, aber nur im Rückblick wichtig"
"Märkische Oderzeitung" (Frankfurt/Oder): Wer die Täter waren, ist zwar interessant, aber nur im Rückblick wichtig. Denn die Wahrheit werden wir möglicherweise nie erfahren – auch wenn es durchaus ein Geschmäckle hätte, wenn sich Verbündete als Schuldige entpuppen würden. Viel wichtiger ist, was die Sprengungen für die Zukunft bedeuten. Sie haben nämlich die Verwundbarkeit der europäischen Energie-Infrastruktur offengelegt. Es gibt also allen Grund, andere Leitungen nicht nur in der Ostsee besser zu schützen. Darauf muss nun viel Kraft gerichtet werden. Denn von Energie hängen unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft ab wie sonst von kaum etwas anderem.
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Die Ostsee gibt ihre Geheimnisse nicht gerne preis. Das gilt auch für die Frage, wer die Rohre der Nord-Stream-Pipelines sprengte. Den jetzt bekannt gewordenen Ermittlungsergebnissen nach könnte es eine Handvoll von Saboteuren auf einer Yacht gewesen sein. (…) Da müssen Profis am Werk gewesen sein, etwa gelernte Kampfschwimmer – wenn denn die Gasleitungen tatsächlich von den Leuten zerstört worden sind, von denen es jetzt heißt, es könnte sich um proukrainische Saboteure gehandelt haben. (…) Gewesen sein will es jedenfalls keiner der bisher Verdächtigten: nicht Moskau, nicht Washington, nicht Kiew, nicht Warschau. Motive dafür, die Leitung zu kappen, hätte es jedoch einige gegeben. (…) Die Sprengung hat aus ihr endgültig ein Mahnmal gemacht: für eine Politik der Naivität und Blindheit.
"Stuttgarter Zeitung": Die angebliche "Spuren in die Ukraine" lassen vielerlei Spekulationen zu. Gegen eine Aktion in staatlichem Auftrag sprechen die begrenzten Möglichkeiten des von westlicher Waffenhilfe existenziell abhängigen Sicherheitsapparats. Warum sollte Präsident Selenskyj durch solch einen Piratenakt ein Zerwürfnis mit dem wichtigsten Unterstützer in Europa riskieren? Aus vergleichbarem Grund ist es unwahrscheinlich, die Urheber im Westen zu vermuten. Warum sollten etwa die USA sich zu einer solchen Zerstörungsaktion hinreißen lassen, die geeignet wäre, die Solidarität gegen den Kriegstreiber Putin zu sprengen? Da erscheint es plausibler, dass einer der vermögenden Gegner Selenskyjs die Finger im Spiel hatte, um diesen bloßzustellen. Putin wäre ein solches Korsarenstück allemal zuzutrauen. Er verfügt über die technischen, finanziellen und militärischen Erfordernisse – und die nötige Ruchlosigkeit.
Angriffe, Flüchtende, Gas-Lieferungen: Grafiken zum Konflikt in der Ukraine

"Rhein-Zeitung" (Koblenz): Klar, es sollen die Russen gewesen sein, die drei der vier Nord-Stream-Röhren in der Ostsee sprengten. Oder doch eher die Briten? Sicherlich aber die Amerikaner? Dabei führen die Spuren doch nach Deutschland? Letztlich aber zu pro-ukrainischen Gruppen? Die Spekulationen um die Pipelinesabotage in der Nacht zum 26. September 2022 drehen sich wie eine Kompassnadel unter Annäherung eines Magneten. Tatsächlich hat die teils aufgeregt geführte Debatte viel mit den jeweiligen Orientierungsmustern zu tun. Sie ist also typisch für die Wahrnehmung eines Krieges, wie man sie sich derart gespalten vor dessen Beginn kaum hätte vorstellen können.
"Junge Welt" (Berlin): Es ist offenkundig, dass das erste Ziel dieser Berichte die im Januar veröffentlichte Recherche von Seymour Hersh ist. Seine These, die Anschläge seien auf direkte Anordnung von Präsident Joseph Biden von einer Arbeitsgruppe des US-Sicherheitsrates vorbereitet und in Kooperation zwischen den USA und Norwegen im Schatten eines NATO-Marinemanövers ausgeführt worden, soll nicht entkräftet (dazu taugt das Material nicht annähernd), sondern durch eine parallele Theorie relativiert werden. Es ist genau jene Desinformationstaktik, die westliche Geheimdienste ständig Russland vorwerfen: beliebige "Narrative" in die Welt zu setzen, um die Darstellung des Gegners in einem Meer widersprüchlicher Details zu ersäufen. Putins gelehrige Schüler.
"So lange Beweise fehlen, scheint alles möglich gewesen zu sein"
"Volksstimme" (Magdeburg): Es klingt verrückt: Da setzen sich sechs ukrainetreue Saboteure in Rostock heimlich in ein Boot, packen noch mehrere hundert Kilo Sprengstoff ein und stechen im Stil von DDR-Flüchtlingen in See. Um dann, na klar, vor Bornholm Löcher in die Nord-Stream-Pipeline zu sprengen. Als leicht verrückt und senil wurde allerdings auch der US-Journalist Seymour Hersh eingestuft, als er jüngst darlegte, dass die Amerikaner hinter dem Anschlag in der Ostsee stecken würden. Solange Beweise für die Tat und Täter fehlen, scheint alles möglich gewesen zu sein. Dass nun aber die nicht staatsferne ARD mitrecherchiert hat, lässt aufhorchen. Denn sollten tatsächlich Ukraine-Freunde in der Ostsee am Werk gewesen sein, würde erstens Deutschland zur Kriegspartei werden. Zweitens wäre es ein Schuss vor den Bug der westlichen Ukraine-Hilfe. Wenn Kiew jede Verwicklung bestreitet, ist dies mit Vorsicht zu genießen: Im Krieg sind Lügen eine Waffe.
"Rheinpfalz" (Ludwigshafen): Letztlich haben die Berichte also kaum gesicherte Erkenntnisse zutage gefördert. Es empfiehlt sich daher abzuwarten, bis die Ermittler ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentieren. Das lohnt sich schon deshalb, weil der Generalbundesanwalt seine Schlussfolgerungen nicht auf Grundlage von Spekulationen zieht, sondern von Beweisen.
"Neue Presse" (Coburg): Die faktisch nicht vorhandene öffentliche Kommunikation der Ermittlungsbehörden und auch der betroffenen Regierungen muss so schnell wie möglich ein Ende finden. Sonst beschädigen sich die westlichen Demokratien einmal mehr selbst.
"Mitteldeutsche Zeitung" (Halle): Ach, wenn es doch nur eine Serie wäre. Dann könnte man den Fernseher ausstellen und sagen: „Gute Geschichte – bisschen übertrieben vielleicht.“ In der harten Realität hingegen muss man sich den Folgen des Pipeline-Desasters stellen. Und die sind schwerwiegend. Heute weiß man, dass Russland mit seiner Pipeline-Politik systematisch zwei Ziele verfolgt hat: Zum einen ging es dem Kreml darum, Lieferwege nach Westeuropa unter Umgehung der Landleitungen durch die Ukraine und Polen zu schaffen, um widerspenstigen Osteuropäern den Hahn zudrehen zu können, wenn diese nicht spuren. Zum anderen ging es darum, die EU und vor allem Deutschland abhängiger von russischen Energielieferungen zu machen. Beide Ziele hat Russland erreicht. Ob Moskau den Krieg auch ohne die Ostsee-Pipelines begonnen hätte, bleibt zwar Spekulation. Sicher ist aber, dass der Kreml nicht mit einer derart entschlossenen Reaktion Europas gerechnet hatte.
"Frankfurter Rundschau": Bereits im Januar haben Ermittler der Bundesanwaltschaft eine zum Tatzeitpunkt vermietete Yacht durchsucht und dabei offenbar Sprengstoffrückstände entdeckt. Laut Medienberichten soll es Spuren geben, die zu einer polnischen Firma im Besitz ukrainischer Geschäftsleute führen. Selbst eine Crew, die mit falschen Pässen eingecheckt hatte, ist angeblich identifiziert. Das alles ist zwar mit größter Vorsicht zu genießen, es zeigt aber, dass die europäischen Ermittler ihren Job machen. Das ist eine gute Nachricht.
"Kölner Stadt-Anzeiger": Die Geschichte der Nord-Stream-Pipelines hat das Zeug für eine Netflix-Serie. Macht, Gier, Verblendung, Verrat – und am Ende kräftige Explosionen. In der harten Realität muss man sich den Folgen des Desasters stellen. Immerhin geht die Aufarbeitung voran. Zwar wäre durch die Pipelines auch ohne Sabotageakte auf absehbare Zeit kein Gas geflossen. Trotzdem ist es wichtig, die Hintergründe aufzuklären. Denn es geht um nicht weniger als die Sicherheit der europäischen Energieinfrastruktur. Zudem bietet die Ungewissheit Verschwörungsideologen derzeit viel zu viel Raum für das Verbreiten ihrer kruden Botschaften.
"Ludwigsburger Kreiszeitung": Gewöhnlich ist die Frage hilfreich, wer von einer Tat profitierte. Das sind die USA mit ihrem vermehrten Verkauf von Flüssiggas. Das ist aber auch die Ukraine, deren eigene Pipeline-Anbindung umso wichtiger wurde. Da ist zudem der Umstand, dass Russland die Gaslieferung bereits Wochen vorher einstellte, ein Interesse an einem Hochschnellen der Gaspreise in Europa hatte – und an einer Warnung, wonach da jemand die Fähigkeiten besitzt, jegliche Verbindungen im Meer zu jeder Zeit zu unterbinden. Zu viele Profiteure also, als dass Plausibilitäten in eine Richtung verdichtet werden könnten.