Krieg in der Ukraine Vereint in der Vorsicht: Warum Biden und Scholz bei Waffenlieferungen zögern

US-Präsident Joe Biden (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz
US-Präsident Joe Biden (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz
© Martin Meissner/ / Picture Alliance
Niemand weiß, zu welchen Mitteln Russlands Präsident unter zunehmendem Erfolgsdruck noch greifen könnte. US-Präsident Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz befürchten offenkundig eine drastische Eskalation. 

Wie wird er reagieren? Die einen sagen so, die anderen so. Wladimir Putin sagt: "Wir reagieren zwar eher zurückhaltend, aber das ist vorerst so."

Russlands Präsident hat in den vergangenen Tagen und Wochen eine Reihe von Rückschlägen auf seinem Feldzug gegen die Ukraine hinnehmen müssen. Die russische Armee hat sich infolge einer Gegenoffensive aus zahlreichen umkämpften Gebieten zurückgezogen. Die Kritik an Putins Kriegsführung im eigenen Land wächst. Zuletzt sind sogar die Staatsoberhäupter Chinas und Indiens – die beide entscheidend dazu beigetragen haben, dass die russische Wirtschaft nicht unter den westlichen Sanktionen kollabiert – auf Distanz gegangen

Und einmal mehr stellt sich die Frage, welche unheilvollen Konsequenzen der Kriegstreiber aus dem Kreml daraus ziehen könnte.

"Wenn sich die Situation weiterhin so entwickelt", sagte Putin am Freitag bei einem Gipfeltreffen in Usbekistan, "dann wird die Antwort ernster ausfallen". Die russischen Angriffe auf Kraftwerke und einen Staudamm als Reaktion auf die ukrainische Gegenoffensive seien "Warnungen" gewesen.

Am selben Tag sagte der stellvertretende Direktor der CIA, David S. Cohen, auf einer Konferenz in Washington, dass mehr oder weniger mit allem zu rechnen ist. "Ich denke nicht, dass wir Putins Festhalten an seinem ursprünglichen Ziel unterschätzen sollten, nämlich die Kontrolle der Ukraine", so Cohen. "Wir sollten seine Risikobereitschaft nicht unterschätzen."

Joe Biden sieht das offenbar ähnlich. Der US-Präsident will vermeiden, Russland in einer Phase des Krieges zu provozieren, die sich alles andere als optimal für Putin darstellt – und ihn zu einer drastischen Eskalation der Kampfhandlungen veranlassen könnte.

Joe Biden und die "rote Linie"

Ermutigt durch die Erfolge im Nordosten der Ukraine, drängt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die USA auf eine neue und mächtige Waffe: das Army Tactical Missile System, oder ATACMS, ein Raketensystem mit einer Reichweite von 300 Kilometern – das somit weit in russisches Territorium reichen könnte.

Selenskyj versichert, dass die Ukraine nicht die Absicht habe, russische Gebiete anzugreifen. "Uns interessiert nicht, was in Russland passiert", sagte er Ende Mai in einem Interview. "Uns interessiert nur unser eigenes Territorium in der Ukraine."

Das Raketensystem ist aber aus ukrainischer Sicht entscheidend für den Erfolg einer Gegenoffensive, die womöglich Anfang 2023 beginnen soll – so lässt sich jedenfalls ein Wunschzettel aus Kiew lesen, über den das "Wall Street Journal" berichtete. Darin werden zahlreiche Waffen von Washington gefordert, auch das ATACMS wird aufgelistet. 

Präsident Biden lehnt das bislang ab. "Wir werden keine Raketensysteme an die Ukraine schicken, die Russland treffen", sagte er am Dienstag, jedoch ohne den Waffentyp zu spezifizieren.

Der Ukraine zu ermöglichen, russisches Territorium anzugreifen, könnte das Kriegsgeschehen dramatisch eskalieren. Unlängst hat Moskau vor einer entsprechenden Waffenlieferung gewarnt. Die USA würden eine "rote Linie" überschreiten und zur Kriegspartei werden, teilte das russische Außenministerium mit. Das will Präsident Biden verhindern, der immer wieder die Botschaft sendet, keinen Krieg mit Russland führen zu wollen, der Ukraine durch militärische Unterstützung aber solange zur Seite zu stehen, bis sich die russischen Streitkräfte zurückziehen. 

"Amerikas Ziel ist klar", schrieb Biden Ende Mai in einem Gastbeitrag für die "New York Times". "Wir wollen eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine mit den Mitteln, um weitere Aggressionen abzuwehren und sich gegen sie zu verteidigen." Aber: "Wir streben keinen Krieg zwischen der Nato und Russland an." Weder werde man Putins Sturz herbeiführen, noch sich direkt in den Konflikt verwickeln lassen. Und: "Wir ermutigen oder befähigen die Ukraine nicht, über ihre Grenzen hinaus zu schlagen. Wir wollen den Krieg nicht verlängern, nur um Russland Schmerzen zuzufügen." 

"Ein sehr, sehr wichtiger Text", findet Olaf Scholz

Wer verstehen will, warum Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) derzeit keine Kampfpanzer an die Ukraine schicken und schon gar nicht einen "deutschen Alleingang" machen will, sollte Bidens Gastbeitrag lesen – sagt Bundeskanzler Olaf Scholz. "Ein sehr, sehr wichtiger Text, wie ich finde", sagte er nun im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "In dem er sehr klar gesagt hat: Wir werden die Ukraine unterstützen, auch mit sehr effizienten Waffen – so wie die USA und wir das jetzt ja auch tun (…) – und gleichzeitig ist es so, dass wir natürlich immer darauf achten, dass es nicht zu einer Eskalation des Krieges kommt."

Scholz und Biden eint die Sorge vor einem russischen Präsidenten, der sich mit dem Rücken zur Wand wähnt – und in einer weiteren irrationalen Entscheidung den Weltenbrand herbeiführt.

Unter zunehmendem (Erfolgs-)Druck und ohne Aussicht auf einen Sieg könnte Putin zu taktischen Nuklearwaffen greifen – ein Schreckensszenario, mit dem Russland schon abermals gedroht hat. "Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben", erklärte Bundeskanzler Scholz sein zögerliches Handeln Ende April in einem Interview mit dem "Spiegel". Die Welt müsse einen Dritten Weltkrieg verhindern, sagte auch Präsident Biden wiederholt.

In einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS, das am Sonntag ausgestrahlt werden soll, wurde Biden gefragt, was er Putin sagen würde, sollte dieser unter dem Eindruck der jüngsten Rückschläge den Einsatz von chemischen oder taktischen Nuklearwaffen in Erwägung ziehen. "Nicht. Nicht. Nicht", antwortete Biden laut einer Vorabmeldung. "Sie werden das Gesicht des Krieges verändern, wie nichts anderes seit dem Zweiten Weltkrieg." Die US-Reaktion wäre "folgenreich", so Biden, ohne Details nennen zu wollen. Aber: "Sie würden in der Welt noch mehr zum Ausgestoßenen werden, als sie es je waren." 

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