Ukraine-Krieg Vier Wochen Krieg und wie sie die Welt verändert haben

Eine weiße Frau in brauner Winterjacke sitzt in einem Bus und streichelt den Kopf eines Mädchens, das auf ihrem Schoß schläft
Diese Frau und ihr Kind haben es aus der Ukraine in die Schweiz geschafft. Sie sind zwei von Millionen Menschen, die seit Kriegsbeginn aus der Ukraine geflohen sind.
© Fabrice Coffrini / AFP
Einen Monat tobt der Krieg in der Ukraine. Der Angriff Russlands zerstört nicht nur die Ukraine, sondern auch einige Gewissheiten Deutschlands und des Westens insgesamt. Einige Erkenntnisse nach vier Wochen Ukraine-Krieg.

Am 24. Februar passiert das, was viele befürchtet, aber wohl die wenigsten wirklich erwartet hatten: Russland marschiert in die Ukraine ein. Nach Wochen des Aufmarsches russischer Truppen an der Grenze und Beschwichtigungen aus Moskau hatte Präsident Wladimir Putin drei Tage zuvor die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten anerkannt und die Entsendung von Soldaten dorthin angekündigt. Den letzten Vorwand liefern die Separatisten in Luhansk und Donezk: Sie bitten Russland um Militärhilfe.

Schon in den Tagen vor der russischen Invasion hatte die EU Sanktionen gegen Russland verhängt und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Teilmobilmachung und den Ausnahmezustand für 30 Tage angekündigt. Am Tag des Einmarsches dann aktiviert die Nato Verteidigungspläne für Osteuropa, schließt aber eine militärische Unterstützung der Ukraine aus. Die Befürchtung im Westen: Der Krieg in der Ukraine könnte sich zu einem Krieg zwischen Russland und China auf der einen und Ukraine und Nato-Staaten auf der anderen Seite ausweiten. Und einen Dritten Weltkrieg gilt es – auch angesichts von Atomwaffen auf beiden Seiten – zu verhindern.

Wladimir Putin

In Russland haben die kreml-treuen Staatsmedien seit Jahren Putins Narrativ verbreitet: Die Ukraine betreibe einen Völkermord an der russischen Minderheit im Land und müsse entnazifiziert werden. Dass vor allem letzterer Vorwurf absurd ist angesichts eines jüdischen Präsidenten, scheint in Russland nur die wenigsten zu stören. Dennoch gibt es auch dort Proteste gegen den "Sondereinsatz" der russischen Armee – obwohl Putin und die Duma mit immer strengeren Gesetzen versuchen, die Informations- und Deutungshoheit über den Krieg, den in Russland niemand Krieg nennen darf, zu behalten und jede Kritik hart zu bestrafen.

Wladimir Putin hat endgültig seine Maske fallen lassen. Er ist ein enthemmter Diktator, der nicht einmal mehr den Anschein erwecken will, sich an irgendwelche Regeln zu halten. 

Je länger der Krieg dauert, desto brutaler greift die russische Armee Wohngebiete an, beschießt Krankenhäuser, Kindergärten und Gebäude, in den Zivilisten Schutz suchen. Dörfer und Städte werden zerbombt. Immer wieder droht Putin dem Westen mehr oder weniger deutlich mit dem Einsatz von Atomwaffen als Mittel der letzten Wahl, falls dieser sich militärisch aktiv einmische. Mehr noch als einem militärischen Zweck dient der Einsatz russischer Hyperschall-Raketen der psychologischen Einschüchterung.

Lage in der Ukraine

Mariupol etwa wird belagert und beschossen, obwohl dort nach Behördenangaben noch mehr als 200.000 Menschen eingeschlossen sind – ohne Wasser, Nahrungsmittel und Medikamente. Allein dort gehen UN-Schätzungen bereits von 3000 Todesopfern und 20.000 verletzten Zivilisten aus. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit dem Einmarsch am 24. Februar in der Ukraine den Tod von 977 Zivilisten dokumentiert. Das Hochkommissariat gibt allerdings nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat - die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen.

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Gleich mehrere Fehleinschätzungen unterlaufen Putin allerdings. Zum einen scheint er den Widerstand der Ukraine unter- und die Kampfkraft seiner Armee überschätzt zu haben. Nach einem schnellen Vormarsch bis kurz vor Kiew kämpft die russische Armee nicht nur gegen 200.000 Soldaten der regulären ukrainischen Armee sowie vielleicht 200.000 Freiwilligen, sondern offenbar auch mit Treibstoffmangel und Versorgungsproblemen. Putins Plan, die Ukraine binnen weniger Tage zu erobern, ist jedenfalls nicht aufgegangen. Stattdessen ist eine Patt-Situation entstanden, in der niemand genau sagen kann, für wen die Zeit läuft. Hält der ukrainische Widerstand länger als der Nachschub der russischen Armee?

Die zweite Fehleinschätzung Putins betrifft die Entschlossenheit des Westens. Hatte der die russische Annexion der Krim noch mit vergleichsweise milden Sanktionen und den Minsker Friedenverhandlungen hingenommen, reagieren EU, die USA und zahlreiche weitere westliche Staaten  mit harten, wirtschaftlichen Sanktionen. Von der Geschlossenheit des Westens angesichts der russischen Aggression sind auch im Westen viele überrascht.

Sanktionen

Die EU schließt drei russische Banken vom Zahlungsverkehr aus und friert die Vermögenswerte ein. Sieben russische Banken bleiben beim Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift außen vor. Ein Verbot gilt für Transaktionen mit bestimmten staatseigenen Unternehmen Russlands. Die USA verhängen ein Importverbot für Öl aus Russland. Deutschland legt die geplante Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis.

Die EU sperrt den Luftraum für alle russischen Maschinen und erlässt ein Ausfuhrverbot für Güter, Technologien und Dienstleistungen für die Luft- und Raumfahrtindustrie. Außerdem verbietet sie Verkauf, Lieferung, Weitergabe oder Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien für die Ölveredelung. Ebenso friert sie die Vermögenswerte von 862 Personen (Stand: 23. März) ein und beschränkt deren Reisefreiheit. Darunter befinden sich russische Oligarchen und Mitglieder der russischen Regierung. Die größten Kreditkartenanbieter der Welt - Visa, Mastercard und American Express - setzen ihre Arbeit in Russland aus.

Einen Monat nach Kriegsbeginn: Selenskyj ruft zu weltweiten Protesten auf: "Es bricht mir das Herz ... kommt im Namen des Friedens"
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Selenskyj ruft zu weltweiten Protesten auf: "Es bricht mir das Herz ... kommt im Namen des Friedens"

Wolodymyr Selenskyj

Wolodymyr Selenskyj wurde von vielen als ehemaliger Komiker belächelt, der eher durch Zufall ins oberste Staatsamt der Ukraine kam. Seit dem russischen Angriff ist das vorbei – nicht nur in Moskau. Denn der ukrainische Präsident ist nicht etwa aus Kiew geflohen, sondern spricht mit täglichen Videobotschaften seiner Bevölkerung Mut zu. Er hat großen Anteil daran, dass die ukrainische Armee und Bevölkerung den militärisch eigentlich überlegenen Russen so hartnäckig Widerstand leisten.

Weltweit hat sich Selenskyj zu einer Freiheitsikone entwickelt. Diese Symbolik weiß der 44-Jährige für sein Land zu nutzen. Sein Volk verteidige nicht nur sein eigenes Land, sondern auch "die Werte, von denen in Europa so viel gesprochen wird". Er wird nicht müde, von der Nato die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine zu fordern und mit Video-Ansprachen in den Parlamenten sich direkt an Regierungen und Abgeordnete zu wenden.

Deutschland

Seit Kriegsbeginn hat es drei Ereignisse gegeben, die in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen werden: Am 26. Februar sagt die Bundesregierung doch zu, Waffen aus Bundeswehr-Beständen an die Ukraine zu liefern. Einen Tag später kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, der Bundeshaushalt 2022 werde ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Investitionen und Rüstungsvorhaben der Bundeswehr beinhalten. Zugleich sagt er zu, Deutschland werde "von nun an - Jahr für Jahr - mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren". Immer wieder fällt in der Rede des Bundeskanzlers das Wort "Zeitenwende".

Wie ernst es Scholz mit dieser Zeitenwende meint, zieht er allerdings keine drei Wochen später selbst in Zweifel. Denn nach Selenskyjs Videobotschaft im Bundestag verhindert seine Ampel-Koalition die von der Union beantragte Aussprache über die Selenskyj-Forderungen nach mehr Hilfe. Eine knappe Woche später gesteht der Kanzler nach massiver Kritik ein, dass der Übergang zur Tagesordnung des Bundestages ein Fehler war. Dies sei "nicht richtig" gewesen, sagte Scholz der Wochenzeitung "Die Zeit". Deutschland sucht eine neue Rolle in der sich ändernden Weltordnung und tut sich noch schwer damit.

Wirtschaftlich hat der Krieg vielen Deutschen klargemacht, dass die Abhängigkeit der Bundesrepublik von fossilen Brennstoffen zu groß ist – ganz allgemein und aus Russland im Besonderen. Mehr Tempo beim Ausbau von Wind- und Solarkraft - aber auch mehr Gas-Importe aus anderen Erdteilen und Kohlekraftwerke als Backup: das ist der Plan der aktuellen Bundesregierung. Akut steuert die Bundesregierung bei hohen Preisen an Tankstellen und für Energie dagegen.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte am Sonntag in Begleitung einer Wirtschaftsdelegation in Katar versucht, Geschäfte deutscher Firmen zur Versorgung Deutschlands mit Flüssigerdgas (LNG) anzubahnen, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Dabei gehe es nicht so sehr darum, "das Herkunftsland zu wechseln", sondern vor allem um eine breitere Aufstellung. "Wir dürfen uns nie wieder in Abhängigkeit von einem Lieferanten allein begeben", sagte Habeck.

Flüchtlinge

Viel höher als die Zahl der Kriegstoten ist die Zahl derer, die aus der Ukraine geflohen sind. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks haben seit Kriegsbeginn rund 3,6 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Kein anderes Land hat bisher so viele Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen wie das Nachbarland Polen, wo nach Angaben des Grenzschutzes mehr als 2,17 Millionen Flüchtlinge eingetroffen sind.

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Wie das Bundesinnenministerium Mittwoch mitteilte, hat die Bundespolizei seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine die Ankunft von 238.932 Kriegsflüchtlingen in Deutschland festgestellt. Die Hilfsbereitschaft durch Freiwillige ist wieder so hoch wie 2015 – wenn nicht sogar höher. Ob es daran liegt, dass dieses Mal vor allem Frauen und Kinder nach Deutschland kommen? Oder daran, dann es christliche Europäer sind?

Fazit

Nach vier Wochen Krieg steht fest, dass Putin kaum ein Preis für die Eroberung der Ukraine zu hoch ist. Der Westen versucht, seine Werte und die Ukraine so gut es geht zu verteidigen, ohne einen Weltkrieg heraufzubeschwören. Deutschland sucht eine aktivere Rolle in der Welt. Das sichere Gefühl, dass ein Krieg in Europa nicht mehr möglich ist, ist zerstört. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass das Leiden und Sterben der Menschen in der Ukraine bald ein Ende findet.

Weitere Quellen: UN Hochkommissariat für Menschenrechte, DPA, AFP.

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