Wir erreichen Zeruya Shalev am Montag, zwei Tage nach dem Beginn der Angriffe der Hamas auf Israel, zuhause in Haifa. Ein Gespräch am Abend zuvor hatte sie wegen hohen Fiebers absagen müssen – Corona, sagt sie, das zweite Mal: "Aber das ist jetzt auch egal." In Haifa sei es ruhig bisher, erzählt sie.
Kurz vor unserem Gespräch habe sich ihre Tochter gemeldet, eine Freundin sei bei den Angriffen im Süden des Landes gestorben, deren Mann und die zwei Kinder wurden ebenfalls getötet. "Es ist so schrecklich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll", sagt die Autorin von Romanen wie "Liebesleben” (2000) oder "Schicksal" (2021), sie klingt dabei fast entschuldigend, "ich weiß nicht, ob ich geordnete Gedanken hinbekomme…"
Frau Shalev, vielen Dank, dass Sie sich trotz allem die Zeit nehmen. Die Welt ist geschockt von den Angriffen, von den Toten, von den grausamen Geiselnahmen. Wie erleben Sie die Atmosphäre gerade?
Wissen Sie, als Schriftstellerin hänge ich sehr an Wörtern. Aber in diesem Moment fehlt mir die Sprache. Es gibt keine Buchstaben, um diese Gefühle zu beschreiben. Den endlosen Schmerz. Die Wut. Die Angst. Es ist so ein Horror, das geht über jede Vorstellungskraft hinaus. Ich hätte niemals gedacht, dass so ein Desaster passieren könnte.
Die Angriffe kamen für Sie aus dem Nichts?
Ja, sicher. Es gab keine Warnung. Keine Geheimdienstinformationen. Nichts. Es traf uns völlig überraschend. So viele Tote und Verletzte. So viele Geiseln. Das alles ist passiert, weil sie uns überraschen konnten mit ihrer Attacke.
Ich frage das, weil Sie im Gespräch mit dem stern im April gesagt haben: "Netanjahu führt einen Privatkrieg mit dem Staat. Aber daraus kann sehr schnell ein Krieg im ganzen Nahen Osten werden." Das ist sechs Monate her.
Der konkrete Angriff kam überraschend. Aber ich habe – wie viele andere – immer wieder gesagt, seitdem Benjamin Netanjahu seine illiberale Regierungskoalition etabliert hat: "Das wird im Chaos enden". Es zeichnete sich ab.
Seit Jahren gibt es Demonstrationen gegen Netanjahu und seine rechts-religiöse Koalition. Zuletzt vor allem gegen die Reform, mit der er, so sehen es Kritiker, die Unabhängigkeit der Justiz aushebeln will. Den Rechtsstaat. Sie waren von Beginn an den Protesten beteiligt. Was werfen Sie ihm vor?
Netanjahu hat Israel für seine eigenen Interessen benutzt. Polizei und Justiz haben wegen Korruption gegen ihn ermittelt – also begann er, sie anzugreifen. Netanjahu war schon oft Ministerpräsident. Er hätte es besser wissen müssen. Aber er war bereit, den Staat und die Sicherheit Israels zu opfern. Auf allen Demonstrationen haben die Leute davor gewarnt: "Das Land wird durch diese Krise geschwächt". Israel ist nicht die Schweiz. Israel ist ein Land, das von vielen Kräften bedroht wird. Iran, Hamas, Hisbollah. In so einer Situation darf man den Staat nicht schwächen. Aber Netanjahu hat seine Spiele gespielt. Jetzt sehen wir die Konsequenzen.
Was genau meinen Sie? Was macht Netanjahus Politik so gefährlich?
Er hat die Gesellschaft gespalten – und nicht nur das. Er hat Hass gesät unter den verschiedenen Gruppen. Er hat aus persönlichen Gründen die wichtigsten Institutionen des Landes angegriffen, die Polizei, die Justiz und manchmal sogar die Armee. An den wichtigsten Stellen zerfiel deswegen alles in zwei Lager. Es gab in der Armee Menschen, Kampfpiloten, die gesagt haben, sie gehen nicht mehr zum Dienst, wenn Netanjahu und seine Koalition weitermachen. Er hat aber nicht aufgehört. Das Land wurde schwach und verletzlich.
Und die Feinde profitieren davon?
Es ist nichts Neues, dass Israel von Feinden umgeben ist. Die Frage ist immer nur: Geben wir ihnen die Gelegenheit, uns anzugreifen oder nicht. Wir haben ihnen eine Gelegenheit geliefert. Sie konnten nicht widerstehen. Aus ihrer Sicht war es das perfekte Timing.
Was ist Ihre größte Befürchtung, wie sich die Lage entwickeln könnte?
Wir haben alle Angst davor, dass es auch im Norden losgeht. Die Hisbollah ist viel stärker als die Hamas.
Denken Sie, dass die Angriffe dazu beitragen, die tiefe Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden?
Vielleicht für die Dauer des Krieges. Ich hoffe, dass die Leute, die die Regierung unterstützt haben, jetzt ihre Augen öffnen und sehen, wohin uns diese Regierung geführt hat. Ich hoffe, dass wir gemeinsam diese Machthaber aushebeln können und zu einem liberalen, moderaten Kurs zurückfinden. Zu Politikern, die sich um den Staat kümmern und nicht um ihre eigenen Interessen. Aber es ist zu früh, um etwas über die Konsequenzen zu sagen. Es ist erst der Anfang…
Der Anfang von was? Was befürchten Sie?
Ich weiß es nicht. Die Kämpfe im Süden werden weitergehen. Die Frage ist, ob wir eine zweite Front im Norden haben werden. Die Frage ist auch, ob und wie heftig wir im Inneren von Terroristen angegriffen werden. Die Bedrohungen sind so vielfältig, ich will mir das gar nicht ausmalen. Es gibt so viele Betroffene. So viele Geiseln.
Zu einer Konfrontation mit dem Iran sagte Netanjahu schon vor Jahren: "Besser jetzt als später." Hat er Öl ins Feuer gegossen mit solchen Sätzen?
Das denke ich nicht. Er hat oft martialisch geredet, aber währenddessen wurde der Iran stärker und stärker. Mit der Hamas war es so ähnlich. "Mit aller Härte gegen die Hamas" – das war einer von Netanjahus Slogans. Er dachte, dass es eine Logik im Umgang mit der Hamas geben kann. Aber der Hamas geht es nicht um das Wohlergehen der Palästinenser, hinter ihrem Vorgehen steckt kein logisches Handeln. Der Hamas geht es einzig darum, den israelischen Staat zu zerstören. Das ist kein Geheimnis.
Der selbsternannte Hardliner Netanjahu war also zu weich im Umgang mit der Hamas?
Ich denke, er hat sich überschätzt. Er glaubte, er könne mit der Gewalt der Hamas umgehen, indem wir einfach still nebeneinander Seite an Seite leben. Nach dem Motto: Ab und zu schießen sie ein paar Raketen ab, wir starten einen Gegenangriff – und dabei bleibt es dann. So wollte er den Konflikt managen. Dieses Konzept erweist sich jetzt als völlig gescheitert. Die Hamas muss ihre Angriffe gemeinsam mit dem Iran über Monate hinweg geplant haben.
Was genau war Ihrer Meinung nach Netanjahus Fehler im Umgang mit den Palästinensern?
Anstatt auf die Leute zuzugehen, die etwas moderater auftreten, hat er sich auf die Hamas konzentriert. Das hat die Hamas gestärkt. Er hat zwar keine Verhandlungen mit ihnen geführt, aber es war wie ein unausgesprochenes Abkommen, während er mit den anderen palästinensischen Autoritäten kaum in Kontakt getreten ist.
Man hört immer wieder Analysten, die sagen: "Man muss die palästinensischen Gebiete von der Hamas befreien, erst dann wird Frieden, werden Verhandlungen möglich sein". Was denken Sie darüber?
Schwer zu sagen. Wir wissen nicht, wie stark der Rückhalt für die Hamas unter den Palästinensern ist und wie viele unter ihr leiden. Fest steht, dass wir versuchen müssen, mit allen gemäßigten Kräften in Kontakt zu kommen. Wir müssen uns darüber einig werden, dass die Hamas eine Terror-Organisation ist und sie komplett von Gesprächen ausschließen. Davon würden auch die Palästinenser profitieren. Jedoch weiß ich nicht, wie das praktisch möglich sein soll. Nachdem Israel sich aus Gaza zurückgezogen hat, ist die Hamas der einzige Geldbringer. Sie bekommen viel Geld, um die Region aufzubauen. Aber sie nutzen es nur für Waffen. Sie benutzen das Geld nicht für das Leben. Sie benutzen es für den Tod. Das ist die große Tragödie der Israelis und der Palästinenser.
Unterstützt die internationale Gemeinschaft zu wenig? Sind wir zu gleichgültig im Kampf gegen islamistischen Terror, der nicht nur Israel, sondern die gesamte Region bedroht?
Der islamistische Terror ist kein Problem, das sich auf Israel beschränkt. Es gab die Anschläge in Paris, es gab den 11. September, um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist völlig egal, wie sich die jeweilige Organisation hinter den Anschlägen nennt – der fundamentalistische islamistische Terror ist eine Bedrohung für alle westlichen Demokratien. Darum denke ich, dass wir alle beieinander stehen müssen.
Netanjahu, sagten Sie, habe die israelische Gesellschaft gespalten. Hat er sie auch geschwächt? Wie erleben Sie die Zivilgesellschaft gerade?
Schon während der Proteste gegen die Regierung haben wir erlebt, wie stark die Bevölkerung sein kann. Ja, die Israelis leben in Angst und die Regierung hat einen manipulativen Kurs gefahren. Aber schon jetzt höre ich Geschichten, die wieder von dem anderen, dem mutigen Israel erzählen. Von ehemaligen Soldaten, die sofort losgefahren sind, sie haben so viele Menschen gerettet. Die Leute sind stark, sie haben Werte, sie trösten und sie stützen sich. Sie verdienen etwas besseres als diese Regierung.
Woran merken Sie diese Stärke?
Ich bemerke es an kleinen Dingen. Wir organisieren uns über WhatsApp-Gruppen, alle mobilisieren Hilfe, wo es geht, Reservisten schließen sich der Verteidigung des Landes an. Ich selbst werde gleich viele Kuchen backen für die Soldaten. Das ist nur ein winziger Beitrag, aber jeder tut, was er kann. Man lädt die Leute aus dem Süden ein, man bildet Netzwerke, das funktioniert alles ganz selbstverständlich. Die Solidarität und der Widerstandsgeist in Israel sind enorm.
Sie wohnen in Haifa. Eine Stadt, die Sie oft als "Idyll" beschrieben haben, weil Israelis – arabische und nicht arabische – Seite an Seite leben. Wie ist die Situation gerade in der Nachbarschaft?
Ich erlebe die arabischen Israelis ebenfalls als sehr solidarisch. Alle sind geschockt und versuchen zu helfen. Ich hoffe wirklich, dass es so bleibt.
Im Jahr 2004 haben Sie selbst einen Bombenanschlag nur knapp überlebt. Trotzdem haben Sie immer wieder gesagt: "Israel ist mein Land und ich werde es nie verlassen".
So ist es auch jetzt. Freunde aus Berlin haben uns sofort zu sich nach Hause eingeladen, als es losging. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich will hier sein. Ich will teilhaben an dem, was in meinem Land passiert. Hier ist mein Platz. Das ist vielleicht überraschend, aber ich habe viele israelische Freunde, die im Ausland sind, und die jetzt versuchen, so schnell wie möglich zurückzukommen. Sie wollen kämpfen. Das ist die Haltung jetzt gerade.
Was ist Ihre Hoffnung? Wie blicken Sie in die Zukunft?
Hoffnung? Das ist gerade schwer. Manchmal können Katastrophen die Dinge klarer erscheinen lassen. Man sieht dann besser: Wer ist ein Feind, wer ist ein Partner? Jeder Mensch weiß, dass das Leben unserer Kinder und Familien wichtiger ist als alles andere. Aber mitunter kommt es mir so vor, als liege ein Fluch über allem, der immer wieder die Extremisten an die Macht bringt. Vielleicht ist ein Neustart möglich. Vielleicht müssen wir alle noch härter dafür arbeiten, die moderaten Kräfte gegen den Terror im Nahen Osten zusammenzubringen. Ich gebe zu, das klingt wie eine Illusion. Vor allem heute.
Was werden Sie heute noch machen?
Ich werde meine Tochter zurückrufen. Ich werde Wasser, Essen und ein paar Bücher in unseren Sicherheitsraum bringen. Es geht jetzt erst mal darum, diesen Krieg zu überleben.