Einstufung als Verdachtsfall AfD-Verfahren in Münster: "Wann wird aus einer Handvoll Sandkörner ein Haufen?"

AfD-Parteichefs Tino Chrupalla und Alice Weidel im Bundestag.
AfD-Parteichefs Tino Chrupalla und Alice Weidel 
© dts Nachrichtenagentur / Imago Images
Ist die AfD ein rechtsextremistischer Verdachtsfall und darf auch mit Hilfe von V-Männern überwacht werden? Darüber entscheidet das Oberverwaltungsgericht Münster in einem Berufungsverfahren. Es steht viel auf dem Spiel.

Am Dienstag richten sich die Augen nach Münster. Genauer auf die Eingangshalle des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts. Es geht um die Sache: Alternative für Deutschland gegen die Bundesrepublik Deutschland, so sind zwei der insgesamt drei zur Verhandlung stehenden Fälle überschrieben. Weil es so viele Verfahrensbeteiligte, Zuschauer und angemeldete Journalisten gibt, wird nicht im eigentlichen Gerichtssaal, sondern in der Innenhalle verhandelt. 

Es ist ein großes Verfahren mit Brisanz. Denn es fällt in eine Zeit, in der die AfD gute Chancen auf herbstliche Wahlerfolge in Sachsen, Thüringen und Brandenburg hat und gleichzeitig über ein mögliches Verbot der Partei diskutiert wird. Worum geht’s in Münster? Und was steht auf dem Spiel? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Worüber wird verhandelt? 

Die Richter entscheiden in dem Verfahren über insgesamt drei Fälle. Die Entscheidung muss nicht direkt am Dienstag fallen, zwei Tage sind für die Verhandlungen angesetzt. Beim wohl wichtigsten der drei Verfahren geht es darum, ob der Bundesverfassungsschutz die Partei mit rund 30.000 Mitgliedern als sogenannten rechtsextremistischen Verdachtsfall einstufen darf. 2021 hatte die Behörde die AfD vom "Prüffall" zum "Verdachtsfall" hochgestuft. 

Diese Einstufung will die AfD vor Gericht verhindern – vor einem Jahr allerdings gab das Kölner Verwaltungsgericht dem Verfassungsschutz recht. In Münster findet nun das Berufungsverfahren statt. Weil der Verfassungsschutz in Köln sitzt, sind die Gerichte in Nordrhein-Westfalen zuständig.

Ebenso geht die AfD gegen die Einstufung ihrer Nachwuchsorganisation, der Jungen Alternative, als Verdachtsfall vor. Und gegen die Einstufung des formal inzwischen aufgelösten, völkischen "Flügels" zunächst als Verdachtsfall und dann als "gesichert rechtsextremistische Bestrebung". 

Wie wird es ausgehen? 

Die Entscheidung der Richter in Münster wird mit Spannung erwartet. Schließlich hängt von der Einstufung als Verdachtsfall auch ab, mit welchen Mitteln der Verfassungsschutz die Partei beobachten darf. Ob er etwa weiterhin verdeckte Ermittler einsetzen darf. Ob und in welchem Umfang das Bundesamt von diesen Möglichkeiten Gebrauch macht, ist nicht bekannt. "Die erbetenen Informationen berühren derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen, dass auch das geringfügige Risiko eines Bekanntwerdens nicht hingenommen werden kann", schreibt die Bundesregierung in der Antwort auf eine entsprechende Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion.

Der AfD werden in dem Berufungsprozess keine großen Chancen ausgerechnet: "Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die AfD gewinnt", sagte die Rechtswissenschaftlerin und frühere Richterin des Bundesverfassungsgerichts, Gertrude Lübbe-Wolff, dem stern. Zumindest die Kölner Richter legten in ihrer Urteilsbegründung im vergangenen Jahr dar, dass sie ausreichend Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen in der AfD sehen.

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Das Oberverwaltungsgericht in Münster ist dabei die letzte Tatsacheninstanz. Das heißt: Die AfD könnte zwar noch vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ziehen. Doch dieses prüft dann nur noch Rechtsfragen, klärt aber nicht mehr den Sachverhalt. In Münster ist das anders: Im Vergleich zum vorherigen Verfahren in Köln gibt es in Münster rund 9500 neue Seiten Akten, so eine Sprecherin des Gerichts. Weil so viel Material dazukam, musste sogar der Verhandlungstermin von Februar auf März geschoben werden.

Was folgt aus dem Urteil? 

Für den – unwahrscheinlichen – Fall, dass das Gericht der AfD recht gibt, müsste der Verfassungsschutz seine Beobachtung zurückfahren. Er dürfte dann keine nachrichtendienstlichen Mittel wie etwa V-Männer einsetzen.

Bestätigt das Gericht die Einstufung des Verfassungsschutzes, ändert sich an der aktuellen Situation für den Verfassungsschutz nichts – er könnte die AfD auch weiterhin als Verdachtsfall beobachten. Möglich ist allerdings auch, dass ein solches Urteil den Weg frei macht für die Hochstufung der AfD zur "gesichert extremistischen Bestrebung“ – als solche gelten bereits die AfD-Landesverbände in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Diese nach Prüf- und Verdachtsfall nächste Stufe würde einen noch breiteren Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel auch in der Bundes-AfD ermöglichen. 

Immerhin macht der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, auch öffentlich kein Geheimnis daraus, dass die Partei sich seiner Einschätzung nach zunehmend radikalisiere. Das Rechtsmagazin "LTO" berichtet, dass seine Behörde bereits ein neues Gutachten zur AfD vorbereitet habe – welches sie noch zurückhalte, um das jetzige Urteil abzuwarten. 

Schließlich könnte die Entscheidung in Münster auch der politischen Debatte über ein mögliches Verbotsverfahren gegen die AfD erneut Aufwind verleihen. Ein solches könnten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beim Bundesverfassungsgericht beantragen – offen ist allerdings, ob es dafür politische Mehrheiten geben würde. 

Auch gelten für ein mögliches Parteiverbot andere Bedingungen als für die Einstufung als Verdachtsfall. Für ersteres reicht es nicht, zu zeigen, dass eine Partei verfassungsfeindliche Ideen verbreitet. Hinzukommen muss eine aktiv kämpferische Haltung gegenüber der demokratischen Grundordnung, auf deren Abschaffung eine Partei abzielt – was schwerer nachzuweisen ist.

Trotzdem könnte am Ende auch das Münsteraner Urteil seinen Beitrag in einem Verbotsverfahren leisten, sagt der Verfassungsjurist Fabian Wittreck in einem Interview, das die Universität Münster veröffentlicht hat. Im Prinzip gehe es um die Frage: "Wann wird aus einer Handvoll Sandkörner ein Haufen?" Jede gerichtliche Entscheidung könne am Ende ein "Mosaikstein" sein – in einem Gesamtbild, über das das Bundesverfassungsgericht in einem Parteiverbotsverfahren urteilen könnte.

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