Afghanistan Das verdächtige Schweigen der Kanzlerin

  • von Hans Peter Schütz
Warum wollte Kanzlerin Merkel nie genau wissen, was beim Angriff von Kundus geschehen ist? Möglich wäre es gewesen. Aber die Bundestagswahl stand bevor.

Die Berliner Journalisten saßen mit offenem Mund da und staunten. Einen Regierungssprecher wie den Neuling Christoph Steegmanns hatten sie noch nie erlebt. Der Mann, der auf FDP-Ticket ins Amt gekommen ist, sagte, dass er nichts sagen werde. Seine Begründung: "Schweigen ist noch nie falsch zitiert worden."

Unfreiwillig hat der Sprecher der Kanzlerin damit doch etwas gesagt: nämlich, dass die Aufarbeitung des Bombardements der Tanklastzüge in Afghanistan noch lange nicht beendet ist. 142 Menschen, darunter Kinder und Zivilisten, starben dabei. Der politisch verantwortliche Minister Franz-Josef Jung ist zwar inzwischen zurückgetreten. Aber das amtliche Schweigen der Regierung soll offenbar vertuschen, daß außer Jung noch viele andere ihrer Pflicht, sich zu informieren und aufzuklären, nicht nachgekommen sind. Dass da noch viele weitere Beteiligte wegen Vertuschung oder Verschlampung einer Staatsaffäre verantwortlich gemacht werden müssten.

Chronologie der Vertuschung

Der Kern des Skandals: Drei Monate wurde ein Vorgang schön geredet und abgestritten, der das bisher folgenschwerste Versagen der Bundeswehr seit ihrer Gründung darstellt.

Die Chronologie macht das überdeutlich.

4. September

: Die Taliban kapern im nordafghanischen Kundus zwei Tanklastzüge. Auf Anforderung der Bundeswehr bombardieren US-Jets die beiden Lastwagen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

4. September

: Verteidigungsminister Jung bezeichnet kurz danach die Bombardierung als "geboten", weil es für die Bundeswehr sehr gefährlich gewesen wäre, wenn die Taliban in den Besitz der beiden Tanklastwagen gekommen wären. Die Bundeswehr spricht von 50 getöteten Aufständischen, vermutlich seien keine Zivilisten umgekommen. Dem widerspricht die Zivilregierung vor Ort sofort.

5. September

: Die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft, ob gegen den verantwortlichen deutschen Oberst Georg Klein ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden soll.

8. September

: Die Nato meldet, es seien auch Zivilisten getötet worden. Kanzlerin Angela Merkel betont in einer Regierungserklärung, jeder unschuldig zu Tode gekommene Mensch "ist einer zuviel." Sie kündigt "lückenlose Aufklärung der Vorfalls" an. Man werde nichts beschönigen.

11. September

: Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan stellt sich voll hinter die Soldaten und erklärt, der Luftangriff sei nach "sorgfältiger Beurteilung der Lage erfolgt."

27. September

: Bundestagswahl.

29. Oktober

: Schneiderhan erklärt erneut, es sei von deutscher Seite "militärisch angemessen" gehandelt worden. Nato-Berichte wonach es 142 Tote gegeben haben soll, könne er nicht bestätigen. Ebenso wenig, dass Zivilisten getötet worden seien.

6. November

: Auch der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg erklärt, das Bombardement sei "angemessen" gewesen. Schneiderhan habe korrekt geurteilt. Noch immer wird geprüft, ob gegen Oberst Klein ein Verfahren eröffnet werden soll.

26. November

: "Bild" berichtet, das Verteidigungsministerium habe eindeutige Informationen über den Angriff zurückgehalten. Schon kurz nach der Attacke müsse laut Unterlagen der Bundeswehr und der Nato intern bekannt gewesen sein, dass Zivilisten und Kinder getötet worden waren. Schneiderhan und Verteidigungsstaatsekretär Peter Wichert werden in den Ruhestand strafversetzt, Jung verliert einen Tag später sein Amt als neuer Arbeitsminister.

Persilschein für die Bundeswehr

Diese Daten sind eindeutig - und sie lassen einen völlig unterentwickelten Willen zur Aufklärung erkennen. Bis heute ist das Kanzleramt offenbar nicht aktiv geworden, um Genaueres über den Tod von 142 Menschen zu erfahren. Zumindest ist dem Regierungssprecher Steegmanns nichts bekannt. Hat also die Kanzlerin bei ihrer Regierungserklärung und bei der Verteidigung der Aktion einfach mal ins Blaue hinein geredet? Muss man tatsächlich davon ausgehen, dass niemand aus dem Kanzleramt bei der Bundeswehr angerufen und um Akten gebeten hat? Im Verteidigungsministerium jedenfalls hat man zu diesem Zeitpunkt längst Bescheid gewusst. Die Nato hatte schließlich schon vier Tage nach dem Bombardement präzise Informationen über den Tod von Zivilisten geliefert.

Neben dem Kanzleramt schweigt sich das Auswärtige Amt bis heute darüber aus, welche Informationen vorlagen. Ob überhaupt irgendwo nachgefragt wurde, obwohl der Vorgang längst diplomatische und sicherheitspolitische Probleme bereitete, vor allem mit Blick auf die USA. Es waren schließlich US-Bomben gewesen, die Kinder getötet hatten.

Zumindest fahrlässig handelte auch der neue Verteidigungsminister zu Guttenberg, als er sich am 6. November Schneiderhan beipflichtete und erklärte, es sei ganz eindeutig, "dass die Militärschläge und die Luftschläge vor dem Gesamtbedrohungshintergrund als militärisch angemessen zu sehen sind." Zu Guttenberg hätte sich auf jeden Fall penibel um Aufklärung in seinem Ressort kümmern müssen, ehe er der Bundeswehr einen Persilschein aushändigte.

Guttenberg, Merkel und der Ausschuss

Es gibt unterm Strich nur eine Erklärung für das Abtauchen desn Außenministeriums und des Kanzleramtes: So kurz vor der Bundestagswahl mochte sich niemand mit dem Fall befassen. Afghanistan schreckt die Wähler seit langem ab. Weder die CDU-Kanzlerin noch SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier wollten ihren Wahlkampf mit diesem Thema belasten. Gut möglich, dass sie die Wahrheit schon vor der Wahl gewusst, sie aber nicht öffentlich gemacht haben. Das wäre dann noch viel skandalöser als das Verhalten von Jung, der angeblich die entscheidenden Akten nicht gelesen hat. CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder hält dennoch den kommenden Untersuchungsausschuss für rundum überflüssig. Zu Guttenberg werde alles ohne Vorbehalte aufklären. Auch wenn er dabei die eigene Kanzlerin wegen Verdrängung ihrer Amtspflichten in Mitverantwortung nehmen müsste? Wohl kaum.