Auch in den Augen von Olaf Scholz (SPD) geht "ein schweres Jahr" zu Ende. Explodierende Preise, Energieknappheit, Existenzängste, nicht zuletzt ein Krieg in Europa. "Diese Zeitenwende stellt auch uns und unser Land auf eine harte Probe", hielt der Bundeskanzler in seiner Neujahrsansprache fest.
Scholz führt seit zwölf Monaten das Ampel-Bündnis von SPD, Grünen und FDP an – unter historisch schwierigen Umständen. Folglich mussten die Koalitionäre ihren 177-seitigen Koalitionsvertrag, in dem sie "mehr Fortschritt" versprechen, mehrmals der Realität anpassen. Dennoch wurde vieles ins Werk gesetzt, und Fortschritte sind sichtbar.
Weder ein "heißer Herbst" noch "Wutwinter" sind eingetreten. Mehrere Entlastungspakete sollen die steigenden (Energie-)Preise erträglicher machen, ein "Sondervermögen" die Bundeswehr ertüchtigen. Mit dem Jahreswechsel sind bereits eine Reihe von Änderungen in Kraft getreten, darunter das Bürgergeld.
Dennoch: Auch das kommende Jahr dürfte sich für das Dreierbündnis als turbulent erweisen. Der Ukraine-Krieg, und die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland, dürften die Ampel weiter beschäftigen, ebenso drei Landtagswahlen (und eine Wahlwiederholung) und allerhand Reiz- und potenzielle Streitthemen unter den Koalitionären. Ein Überblick.
Energiekrise und Inflation
Zwar soll in diesem Jahr eine Preisbremse für Strom und Gas greifen, die viele Kunden entlasten soll, allerdings könnten je nach Lageentwicklung noch weitere Maßnahmen nötig werden.
"Das Jahr über werden wir höhere Preise noch aushalten müssen", sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen). Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) geht davon aus, dass die Energiepreise auf hohem Niveau bleiben, "aber ohne ruinöse Spitzen". Für 2023 rechne er mit einer Inflation von sieben Prozent, sagte er zur "Bild am Sonntag".
Aktuell sorgen zwar vergleichsweise milde Temperaturen für steigende Reserven in Deutschlands Gasspeichern, allerdings warnen Experten und Politiker vor einer möglichen Versorgungslücke im kommenden Winter. Kanzler Scholz geht davon aus, dass Deutschland auch durch den nächsten Winter kommt, "wenn nichts Unvorhergesehenes passiert". Folglich will er den Ausbau der Flüssiggas-Terminals weiter vorantreiben, der erste von sechs LNG-Anlegern ist nun an den Start gegangen.

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Langfristig sollen auch erneuerbare Energien die Abhängigkeit von russischem Gas tilgen, der Ausbau benötigt allerdings Zeit, kurzfristig sieht zumindest Finanzminister Lindner auch Fracking in Deutschland als Teil der Lösung – im Gegensatz zu den Koalitionspartnern. Auch die Abschaltung der verbleibenden drei Kernkraftwerke, die bis Mitte April im Streckbetrieb weiterlaufen, stellte er wiederholt infrage. Da ist Redebedarf in der Ampel programmiert.
Für die Deutschen zählen die Bekämpfung der Inflation (63 Prozent) und Sicherung der Energieversorgung (61 Prozent) jedenfalls zu den wichtigsten Themen im kommenden Jahr, wie eine aktuelle Insa-Umfrage für die "Bild am Sonntag" ergab.
Redebedarf bei Maskenpflicht, Sicherheitsstrategie, Waffenlieferungen – und weitere Vorhaben
Zuletzt hatte die Aussage des Berliner Virologen Christian Drosten, wonach die Corona-Pandemie in die -Endemie übergehe, die Debatte über die Corona-Schutzmaßnahmen befeuert. Finanzminister Lindner forderte "bei nächster Gelegenheit" die Maskenpflicht im Fernverkehr der Bahn zu beenden – das sehen SPD und Grüne wiederum skeptisch.
Auch bei der Arbeit an der "Nationalen Sicherheitsstrategie" Deutschlands gibt es offenkundig Diskussionsbedarf. Nach Informationen der "Welt" und des "Spiegel" lehnten das Bundeskanzleramt und das Bundesfinanzministerium einen Entwurf des Auswärtigen Amts für die Strategie ab – wegen Differenzen in einigen zentralen Punkten des Texts. Der ursprüngliche Zeitplan der Ampel sah vor, die Strategie vor der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar zu präsentieren. Dieser Zeitplan stehe nun infrage, da die Regierungspartner noch weit auseinander lägen, berichteten "Spiegel" und "Welt" unter Berufung auf Regierungskreise.
Auch bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine gibt es in der Koalition unterschiedliche Ansichten. Trotz der Bitten aus Kiew lehnt die Bundesregierung die Abgabe moderner Panzer vom Typ "Leopard" und "Marder" bisher ab. Zu den größten Kritikern dieser Entscheidung zählt auch die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. "Ich bin die Ausreden, warum wir keine Panzer liefern können, so was von leid", sagte sie zuletzt. Auch Grüne erhöhen den Druck auf Kanzler Scholz, die deutsche Waffenhilfe auszuweiten.
Weiterhin kontrovers dürfte ebenso die Modernisierung der Bundeswehr diskutiert werden, die mit einem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ertüchtigt werden soll – und nur schleppend vorankommt, wie Eva Högl, Wehrbeauftragte des Bundestag, monierte. Zuletzt ist ein "Totalausfall" beim "Puma"-Schützenpanzer bekannt geworden. Man habe "unglaublich viele Baustellen anzugehen", sagte Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann von der FDP, die 2023 mit wenig Besserung rechnet. Die Opposition wird deutlicher: "Wenn man sich über aktuelle Situation bei der Bundeswehr wundert, kann man festhalten: Der Fisch stinkt vom Kopf", sagte der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Florian Hahn, an Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) gerichtet.
Das sind indes Themen, die bereits im abgelaufenen Jahr für Gesprächsstoff sorgten. Die Ampel-Koalition, für die 2023 auch die Halbzeit ihrer Regierungszeit darstellt, hat sich im Koalitionsvertrag noch einiges vorgenommen – etwa die Reform des Wahlrechts und des Staatsangehörigkeitsrechts oder die Einführung der Kindergrundsicherung, deren Eckpunkte die Bundesregierung Anfang des Jahres vorstellen möchte.
Mehrere Bundesländer haben die (Wieder-)Wahl vor sich …
Nach exakt einem Jahr im Amt stand die Ampel-Koalition in Umfragen (wie hier und hier) ohne eigene Mehrheit dar. Das war Anfang Dezember. Wird sich die Stimmung im neuen Jahr wieder drehen? Das dürften SPD, Grüne und FDP unter anderem auch an den Ergebnissen von drei Landtagswahlen (und einer Wahlwiederholung) in diesem Jahr ablesen können.
Den Anfang macht Berlin (12. Februar), wo die Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksparlamenten nach einer Entscheidung des Landesverfassungsgerichts aufgrund zahlreicher Pannen wiederholt wird. Die grüne Verkehrssenatorin Bettina Jarasch ist zwar nicht so bekannt wie Franziska Giffey (SPD), könnte sie aber als Regierende Bürgermeisterin ablösen – die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.
Gewählt wird auch in Bremen (14. Mai), Bayern (8. Oktober) und Hessen (28. Oktober). In Bremen gilt es für die SPD, ihren Bürgermeisterposten zu verteidigen, wohingegen in Hessen und Bayern die CDU und CSU ihre Spitzenposition bewahren wollen.
Besonderes Augenmerk dürfte bei allen vier Wahlen auf das Abschneiden der FDP fallen. "Sollte sich der negative Trend der Liberalen bei den Wahlen 2023 fortsetzen, wird dies die Ampelkoalition im Bund erschüttern", prognostizierte der Politikwissenschaftler Uwe Jun im "Tagesspiegel". Die Wähler der Liberalen seien sogar unzufriedener mit der Ampel-Koalition als die der CDU. "Sie fühlen sich in der Ampel nicht wohl, weil sie zu wenig FDP in ihr erkennen", so Jun. Die FDP finde zu wenig statt, könne ihren Gestaltungsanspruch nicht deutlich machen. Sollte sich der Negativtrend fortsetzen, dürfte der Leidensdruck der Liberalen auf Bundesebene wachsen.
… und Kanzler Scholz eine Kabinettsumbildung?
Die Landtagswahl in Hessen könnte sich auch unmittelbar auf das Kabinett von Kanzler Scholz auswirken. Sollte Bundesinnenministerin Nancy Faeser zur Spitzenkandidatin gekürt werden – wovon auszugehen ist –, dürften sich einige Fragen aufdrängen: Was ist, wenn Faeser verliert? Geht sie dann nach Hessen in die Opposition, wo sie schon viele Jahre war? Oder bleibt sie in Berlin?
"Man muss sich Olaf Scholz als einen sturen Menschen vorstellen", schreibt stern-Politikchef Nico Fried. "Er wird sein Kabinett nur umbilden, wenn es nicht anders geht." Wolle Faeser Innenministerin bleiben, werde es an ihm nicht scheitern. "Und auch die viel kritisierten Minister Christine Lambrecht und (Bundesgesundheitsminister) Karl Lauterbach schmeißt der Kanzler nicht vorzeitig raus. Damit würde er eingestehen, dass es ein Fehler war, sie zu berufen."
Derweil ist der Unmut über Lauterbach und Lambrecht von Tag zu Tag größer: FDP-Vize Wolfgang Kubicki stellte infrage, ob der Gesundheitsminister "die ganze Legislaturperiode" im Amt bleiben könne, während die Verteidigungsministerin wiederholt Hohn und Spott auf sich zieht, zuletzt mit einer misslungenen Silvesterbotschaft.
Und so dürfte auch 2023 mindestens ein arbeitsreiches Jahr für die Ampel-Koalition werden. Der Kanzler gab sich in seiner Neujahrsansprache optimistisch: "Bleiben wir dem Weg treu, den wir im vergangenen Jahr eingeschlagen haben", forderte er. "Gehen wir ihn mutig weiter."
Quellen: Redaktionsnetzwerk Deutschland, "Tagesschau", ZDF, "Bild am Sonntag", n-tv, "Der Spiegel", "Süddeutsche Zeitung", "Handelsblatt", "Tagesspiegel", mit Material der Nachrichtenagentur AFP