Angelika Beer Chronik einer angekündigten Krise

Auf ihre Chefin angesprochen, reagieren grüne Abgeordnete merkwürdig. Sogar Goethe wird bemüht, um ihre Biografie zu fassen: Sie habe einen tragischen Drall ins Faustische. Angelika Beer kümmert das nicht; sie will sich nach Brüssel absetzen.

An menschlichen Dramen auf Grünen-Parteitagen hat es in der nahen Vergangenheit nicht gemangelt. So hatten sich die Delegierten im vergangenen Jahr zwei Mal aus formalen Gründen geweigert, ihren damaligen Parteivorsitzenden Claudia Roth und Fritz Kuhn den Weg für die Wiederwahl zu ebnen. Weil ein Plan B nicht vorlag, schieden Roth und Kuhn unter Tränen. Nun bahnt sich ein Krisenszenario für Parteichefin Angelika Beer an, die ins Europaparlament will: Die Basis könnte ihr den gewünschten Platz drei auf der Kandidatenliste verweigern und sie "nach hinten durchreichen".

Auf Drängeln der Grünen-Parteispitze reagiert die Basis grundsätzlich empfindlich. So hatten sich die Delegierten 2002 in Bremen und Hannover stur gestellt, als ihnen nahe gelegt wurde, die Satzung zu ändern, um dem frisch in den Bundestag gewählten Führungsduo Roth und Kuhn die erneute Kandidatur für das höchste Parteiamt zu ermöglichen. Und so hält sich der Vorstand nun bedeckt, wenn es um die Verteilung der Listenplätze für die Europawahl im Juni 2004 geht. Grünen-Chef Reinhard Bütikofer betonte Anfang der Woche: "Die Parteispitze wird keine Listenempfehlung abgeben." Für Beer würde die Führung keine Plätze frei räumen.

Bewerbung um Platz drei

Beer bewirbt sich ohnehin nur um Platz drei, weil es - wie sie in ihrer Bewerbung schreibt - mit ihrem Arbeitspensum als Bundesvorsitzende kaum zu vereinbaren wäre, gleichzeitig einen europaweiten Wahlkampf als Spitzenkandidatin zu führen. Außer Konkurrenz kandidieren daher auf Platz eins die niedersächsische Fraktionschefin Rebecca Harms und auf Platz zwei der bislang für die französischen Grünen im Europaparlament sitzende Daniel Cohn-Bendit.

Ab Platz drei gibt es dann Gedränge. Für diesen Rang bewirbt sich auch die baden-württembergische Europaabgeordnete Heide Rühle. Würde Beer im ersten Wahlgang unterliegen, könnte sie theoretisch auf den Plätzen fünf, sieben, neun und elf nochmals antreten, auf die unter anderem auch die Europaparlamentarierinnen Elisabeth Schroedter und Hiltrud Breyer sowie die Bundestagsabgeordnete Ulrike Höfken drängen. Laut Satzung sind alle ungeraden Rangnummern Frauen vorbehalten. Die Grünen nehmen an, dass bei einem Wahlergebnis um die zehn Prozent die Listenplätze bis zur Nummer zwölf einen sicheren Einzug ins Europaparlament garantieren.

Zuversicht ohne Notfallplan

Doch die Frage stellt sich, wie viele Niederlagen eine Parteichefin verkraftet, ohne beschädigt aus den Listenwahlen hervorzugehen. Ihr Kollege Bütikofer zeigte sich "überzeugt, dass Beer einen vorderen Listenplatz erobern wird". Beer selbst gibt sich ebenfalls zuversichtlich. Einen Notfallplan für den Krisenfall hat sie offenbar nicht, denn sie glaubt an den Rückhalt in der Basis.

Schließlich hat sie im vergangenen Dezember aus dem Stand heraus die Mehrheit der Delegierten hinter sich bringen können, als sie sich nach dem Aus für Roth und Kuhn spontan um den Parteivorsitz bewarb. Damals hatte die Verteidigungsexpertin gar keine Funktion mehr inne, nachdem sie im September 2002 nicht wieder für den Bundestag aufgestellt worden war. Inzwischen gilt sie aber als schwache Vorsitzende neben dem schwergewichtigen Bütikofer. Der formuliert die Position der Partei immer dann, wenn es um die umfassenden Sozialreformen geht, die die Koalition auf den Weg bringt. Und er ist auch der Ansprechpartner für den Koalitionspartner in diesen Fragen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Lame duck" im Amt der Parteivorsitzenden

Es wird gemutmaßt, dass Beer sich nicht zuletzt deshalb um einen Sitz im Europaparlament bemüht, weil ihr das Amt der Parteivorsitzenden über den Kopf wächst. Für die verbleibende Amtszeit bis Herbst 2004 hat sich Beer allerdings selbst ein Bein gestellt. Auch wenn sie sich selbst für die Doppelbelastung im nächsten Jahr gewappnet sieht: Seit sie ihre Ambitionen in Richtung Straßburg verkündet hat, gilt sie erst recht als "lame duck".

DPA
Claudia Kemmer