Es dürfte ein seltener Moment der Ruhe gewesen sein, ein notwendiger Rückzug vor einem aufregenden Wahltag – der für die Bundesrepublik ein Aufbruch auf bislang unbekanntes politisches Terrain bedeuten dürfte. Den Samstagabend verbrachten die Kanzlerkandidat:innen offenbar im Kreise ihrer Familien, fernab von einem einmaligen Wahlkampf ums mächtigste Amt im Staat.
Denn ein historischer Machtwechsel ist Deutschland gewiss, wenn an diesem Sonntag rund 60,4 Millionen Bundesbürger:innen an die Urnen strömen (verfolgen Sie den Wahlsonntag im stern-Liveblog). Nicht nur, weil Angela Merkel nach 16 Jahren als Bundeskanzlerin nicht erneut antritt. Auch die politischen Mehrheitsverhältnisse haben sich seit 2005 verschoben, die künftige Regierung dürfte ein Dreier- statt Zweierbündnis sein – mit allen derzeit möglich erscheinenden Konstellationen würde Deutschland seit langer Zeit einen politischen Richtungswechsel einschlagen. Entsprechend zäh und zeitraubend könnten auch die Verhandlungen der künftigen Koalitionäre werden.
Ankreuzen, falten, einwerfen: schöne und skurrile Bilder aus den Wahllokalen

Ein Comeback mit Knalleffekt
Es war ein besonderer Wahlkampf, der im langen Schatten der Corona-Pandemie stattfand. Merkel hat sich als Titelverteidigerin nicht erneut zur Wahl gestellt, bisher ein Novum in der Bundesrepublik, erstmals machten drei Bewerber:innen ihren Machtanspruch geltend – die alle irgendwann davon ausgehen konnten, das Rennen zu machen: Anfangs Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), zwischendurch Armin Laschet (CDU, für die Union) und zuletzt Olaf Scholz (SPD).
Alle drei erlebten Höhen und Tiefen, nicht zuletzt in den Umfragen: Baerbock setzte dem einstigen Höhenflug der Grünen durch Patzer und Plagiatsvorwürfe ein jähes Ende, Laschet lachte sich seinen Vorsprung im Hochwassergebiet weg und Scholz profitierte vor allem von den Fehlern der anderen – monatelang schien die SPD im Umfragekeller einzementiert. Nun scheint aus dem anfänglichen Triell ein Duell geworden zu sein, das Scholz und Laschet untereinander austragen – und bei dem der SPD-Kandidat die Nase leicht vorn hat.
Auch bei geringfügigen Abweichungen von den aktuellen Umfragen würden die Sozialdemokraten damit ein Comeback mit Knalleffekt erleben, das bis vor Kurzem noch undenkbar erschien. Bei der Bundestagswahl 2017 fuhr die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein (20,5 Prozent), seitdem verharrte die Partei im Umfragekeller. Noch im März dieses Jahres lag sie bei überschaubaren 15 Prozent, nun könnte sie als stärkste Kraft ins Ziel einlaufen.
Ein Sieg würde Scholz zum mächtigsten Mann seiner Partei machen – obwohl sie ihn als Vorsitzenden nicht wollte – und 16 Jahre nach Gerhard Schröder, dessen Generalsekretär er war, den Weg ins Kanzleramt ebnen. Darüber hinaus könnte die SPD sogar das Triple holen – auch in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin wird an diesem Sonntag gewählt, in beiden Ländern liegen die Sozialdemokraten in Front.
Zwar konnte die Union zuletzt wieder zur SPD aufschließen, es zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab, doch müssen CDU/CSU mit massiven Verlusten rechnen: Machten beim letzten Urnengang noch 32,9 Prozent der Wähler:innen ihr Kreuz bei der Union, und bescherten ihr damit ebenfalls das schlechtestes Ergebnis seit 1949, könnten es dieses Mal fast zehn Prozent weniger sein.

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Für die Schwesterparteien im Allgemeinen und ihren Spitzenkandidaten im Besonderen deuten sich damit turbulente Zeiten an. Unlängst werden verschiedene Szenarien kolportiert (hier und hier), die – je nach Schwere des möglichen Debakels – eintreffen könnten. Interne Machtkämpfe um den künftigen Kurs und das Spitzenpersonal sind scheinbar programmiert. Und schon jetzt wird rege darüber diskutiert, ob die Union in Erwägung ziehen sollte, auch im Falle einer Niederlage eine Regierungsbildung anzustreben.
Wirklich belastbar scheint aktuell nur zu sein, dass die Grünen im Vergleich zur letzten Bundestagswahl deutlich zulegen dürften – sich nach ihrem anfänglichen Höhenflug aber trotzdem als Verlierer der eigenen Erwartungen fühlen müssen. Dass Baerbock an diesem Sonntag zur ersten grünen Kanzlerin gewählt wird, gilt mittlerweile als ausgeschlossen. Immerhin dürfte der Partei eine Schlüsselrolle bei der Bildung einer künftigen Koalition zukommen, sie wäre damit erstmals seit 2005 wieder in einer Bundesregierung vertreten.
Eine Bundestagswahl mit ungewissem Ausgang
Fünf Dreierbündnisse sind aktuellen Umfragen zufolge möglich – jedes davon wäre eine Premiere auf Bundesebene: eine Ampel-Koalition (SPD, FDP, Grüne), eine Jamaika-Koalition (Union, Grüne, FDP), eine Deutschland-Koalition (Union, SPD, FDP), R2G (SPD, Linke, Grüne) und eine Kenia-Koalition (Union, SPD, Grüne). Ein politischer Richtungswechsel ist also gesetzt. Fragt sich nur, wohin es geht.
Die Umfragen deuten auf ein enges Rennen hin, ein klarer Favorit ist demnach nicht absehbar. Auch der besonders hohe Briefwähler-Anteil könnte dazu führen, dass bei der ersten Wahlprognose um 18 Uhr noch nicht klar ist, wer wirklich vorne liegt – und welche Bündnisse eine realistische Machtoption haben.

Die Koalitionsverhandlungen könnten entsprechend langwierig – klare Regeln, bis wann eine Regierung gebildet sein muss, gibt es nicht –, mindestens aber komplex werden. Erstmals seit den 50er-Jahren werden wahrscheinlich drei Partner zusammenfinden müssen. Anders als damals dürfte es keine mit Abstand stärkste Kraft geben, sondern drei ähnlich starke Parteien. Das dürfte die Verhandlungen nicht leichter machen. Wenngleich alle möglichen Bündnisse genug Anknüpfungspunkte für eine stabile Regierung hätten, wie eine Gruppe von Professoren der Universitäten Dortmund und Heidelberg in einem Gastbeitrag für den "Spiegel" analysierten.
Zwar gebe es demnach durchaus Konfliktstoff, vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, doch auch wenn es im Wahlkampf anders töne: "Auf vielen Politikfeldern herrscht zwischen SPD, Union, Grünen und FDP kein fundamentaler Dissens." Die Parteien würden zumindest grundsätzliche Ziele teilen. "Programmatische Differenzen jedenfalls stellen nach unseren Untersuchungen keine unüberwindlichen Hürden für die Regierbarkeit des Landes dar", schreiben die Autoren.
Und so wird es vermutlich auf programmatische Überlegungen und Befindlichkeiten ankommen. Würde die erfolgsverwöhnte Union, die sich als Kanzlerwahlverein versteht, auch als Juniorpartner in eine Koalition eintreten? Oder SPD und Grüne sich doch noch auf ein Bündnis mit der Linken einlassen, die dem eigenen Wertekanon in einigen Politikbereichen – etwa der Außenpolitik – diametral entgegensteht?
Sollte die SPD vor der Union landen, wäre eine Ampel-Koalition (SPD, Grüne, FDP) der Analyse zufolge das Bündnis mit der "größten Passgenauigkeit". Würde die Union das Rennen machen, oder "nur knapp" hinter den Sozialdemokraten liegen, wäre die Jamaika-Koalition (Union, Grüne, FDP) "die Option, in der einiges zusammenpassen würde."
Es ist zu erwarten, dass alle Parteien – mit Ausnahme der AfD – miteinander reden werden, um mögliche Koalitionen zu sondieren. Die Wähler:innen müssen daher womöglich einen langen Atem beweisen, bis eine Regierung gebildet ist. Dass es zu Neuwahlen aufgrund ergebnisloser Verhandlungen kommen könnte, halten Experten aber für ausgeschlossen. "Das wird nicht passieren", sagte der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte zur "Süddeutschen Zeitung". Es gebe genug Konstellationen, die eine stabile Mehrheit ermöglichen würden.
Nur so viel ist jetzt schon sicher: Deutschland steht vor einem bisher beispiellosen Machtwechsel.