Bundesparteitag Die Harmonie in der SPD ist fast schon beklemmend

Co-Parteichef Lars Klingbeil (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz
Co-Parteichef Lars Klingbeil (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz (beide SPD)
© Kay Nietfeld / DPA
Nicht noch mehr Krise und Konflikt: Zum Auftakt ihres Parteitages rückt die SPD demonstrativ zusammen. Warum das für die Ampel auch ein Alarmzeichen sein kann.

Olaf Scholz macht keinen allzu angespannten Eindruck. Der Kanzler lächelt, klatscht, nickt zustimmend. Er sitzt in der ersten Reihe, direkt vor der Parteitagsbühne. Ihm dürfte nicht missfallen, was er da hört und sieht: Saskia Esken und Lars Klingbeil, die beiden SPD-Vorsitzenden, verbieten sich jede Kritik an ihm. Nicht einmal der neue Juso-Chef Philipp Türmer, der wahrlich kein Fan von ihm ist, langt wirklich zu.

Krise, welche Krise?

Freitag, Auftakt des SPD-Bundesparteitags. Es herrscht eine seltsame Atmosphäre im Berliner City Cube, demonstrative Trotzigkeit statt konsterniertes Trübsal blasen. Die Genossen hätten allen Grund dazu. Auf den Tag genau vor zwei Jahren wurde Scholz als Kanzler vereidigt, die SPD wieder zur Kanzlerpartei. Seitdem: Krieg und Krisen, Dauerzoff in der Ampel, miese Umfragewerte für die SPD, ihr Kanzler im freien Fall bei der Wählerzufriedenheit. 

Das ist die kritische Lage, in der sich die SPD zur dreitägigen Selbstvergewisserung treffen. Sie will klären, was sie will. Als erstes wird klar, was sie nicht will: Sich auseinandertreiben lassen. Auch wenn manche Vision noch recht allgemein formuliert wird, der Gegner ist klar: Friedrich Merz. Der Oppositionsführer ist in den Redebeiträgen allgegenwärtig.

Die Genossen demonstrieren Geschlossenheit, die Strapazen lassen sie zusammenrücken. Abgrenzung suchen sie zur Opposition, nicht zum eigenen Spitzenpersonal. Selbstreflexion? Eher weniger. Die Differenzen zwischen Partei und Regierung: werden ausgeblendet, verdrängt, aufgeschoben. 

"Ich hoffe, es geht bis zum Schluss"

Das ausgeprägte Harmoniebedürfnis spiegelt sich in den Reden der Parteivorsitzenden wider. Saskia Esken lobt den Kanzler in ihrer Rede mehrmals für seine Arbeit, zählt auf, was die SPD in der Ampel-Koalition alles erreicht habe. Es ist eine zahme und blutleere Rede, begleitet von schleppendem und pflichtschuldigem Applaus. Manchmal wissen die 600 Delegierten nicht, wann und ob sie überhaupt klatschen sollen. Zum Ende ihrer Rede versagt ihr noch die Stimme. Esken hat einen Frosch im Hals, räuspert sich. "Ich hoffe, es geht bis zum Schluss", sagt Esken. Eine Metapher auf die Ampel? Hust, hust. 

Lars Klingbeil hat keine große Mühe, die Genossen zu begeistern. Er stößt lautstark in die Leerstelle, die der stille Kanzler in der Haushaltskrise hinterlassen hat. Klingbeil spricht über die Beschäftigten, die Familien, die es nun sicher durch das Desaster – an dem Scholz keinen unwesentlichen Anteil hat – zu bringen gilt. Auch er verzichtet auf Kritik am Kanzler, äußert sie allenfalls subtil: An einer Stelle dankt er Scholz für die Zusammenarbeit, aber eher im Vorbeigehen. 

Ihm geht es um anderes. Nicht darum, ob jemand Auto fahre, Bratwurst esse oder mit dem Flieger einmal im Jahr nach Malle fliege. "Lasst uns darauf konzentrieren, was wirklich wichtig ist", fordert Klingbeil. Er meint: bezahlbare Mieten, gute Löhne, beste Bildung. Alles Herzensthemen der SPD. Am Ende seiner Rede stehen die Genossen. Martin Schulz, einst selbst SPD-Chef, streckt begeistert die Daumen. 

Am Ende wird die Doppelspitze mit guten Ergebnissen bestätigt, auch das ein Signal des Zusammenhalts. Klingbeil erhält 85,6 Prozent (2021: 86,3 Prozent), Esken 82,6 Prozent (76,7 Prozent). 

Die SPD hakt sich unter – was bleibt ihr anderes übrig?

Die größten inhaltlichen Kontroversen werden abgeräumt, der Leitantrag der Parteispitze wird beschlossen: Steuererhöhungen für Superreiche, eine "einmalige Krisenabgabe" für Vermögende. Einzig die nun verbriefte Haltung zur Schuldenbremse könnte in der SPD noch für Konflikte sorgen. 

Kurz vor der Abstimmung wurde ein Kompromiss mit den Jusos gefunden, die zunächst die Abschaffung der Regel im Grundgesetz gefordert hatten. Geeinigt hat man sich nun darauf, grob verkürzt, "starre Begrenzungen der Kreditaufnahme" abzulehnen. Die Jusos lesen daraus ein Ende der Schuldenbremse. "Good Bye, Schuldenbremse!", sagt Juso-Chef Türmer zum Ergebnis. Die breite Mehrheit der Genossen versteht darunter hingegen eine Reform der Regelung – wie es die Parteispitze ursprünglich vorgesehen hat. 

Doch ausgetragen wird der Dissens über die Deutungshoheit nicht, jedenfalls noch nicht. Dafür ist sowieso bis zur nächsten Bundestagswahl Zeit. Viele der Vorschläge sind vor allem mit dem liberalen Koalitionspartner, der Steuererhöhungen und laschere Schuldenregeln bislang ablehnt, schlicht nicht zu machen. 

Die Harmonie hat etwas Beklemmendes. Alle im Saal wissen, dass die Bundesregierung am seidenen Faden hängt. Niemand spricht es aus. Es dürfte auch die wachsende Sorge vor dem Bruch der Koalition sein, die dafür sorgt, dass die Sozialdemokraten sich unterhaken. In der größten Krise will man den Gegnern nicht noch den Gefallen tun, als gespaltene Partei zu erscheinen.

Auch der restlichen Parteiführung wird deshalb der Rücken gestärkt, niemand abgestraft. Generalsekretär Kevin Kühnert, der oberste Parteistratege, erhielt 92,55 Prozent der Stimmen (2021: 77,8 Prozent). Die Partei macht es sich zum Auftakt des Parteitags nicht unnötig schwer, dem Kanzler leicht. Er wird am Samstagmorgen vor den Delegierten sprechen. Gemessen am heutigen Harmoniebedürfnis der Genossen, muss sich Scholz keine Sorge machen, dass sich scharfe Kritik an ihm entladen könnte.

Sein Auftritt hat dennoch große Bedeutung. Am Samstag ist es am Kanzler zu zeigen, ob diese Regierung noch eine Zukunft hat.