Tobias R., 43, aus Hanau. Verschwörungstheoretiker, Rassist, mutmaßlicher zehnfacher Mörder. Die Indizien sprechen eine klare Sprache: R. stieg am Mittwochabend in seinen schwarzen BMW, fuhr durch seine Heimatstadt und erschoss an den Shisha-Bars "Midnight" und "Arena Bar & Café" insgesamt neun Menschen.
Um kurz nach drei Uhr nachts stürmten Spezialeinheiten der Polizei sein Reihenhaus im Stadtteil Kesselbach, fanden dort die Leiche von R. und seiner 72-jährigen Mutter. Die Behörden gehen davon aus, dass der Mann seine Mutter und sich selbst erschossen hat. "Beide wiesen Schussverletzungen auf", sagte Hessens Innenminister Peter Beuth. (CDU). Die Waffe sei bei R. gefunden worden.
Wer ist der Mann, dessen Tat Hanau entsetzt?
Wer ist der Mann, dessen mutmaßliche Tat Hanau und das ganze Land entsetzt? Wieso fasste er offenbar den Entschluss, andere Menschen und sich selbst zu töten? Das herauszufinden, ist nun die Aufgabe der Ermittler. Schnell stießen sie auf Videos und Dokumente, die der 43-Jährige im Internet veröffentlichte und die als authentisch eingestuft werden. Auch der stern hat das Material verifiziert. Es gibt erste Hinweise darauf, in was für einer Gedankenwelt sich der Mann bewegte.
Diese Welt erscheint vor allem reichlich ungeordnet und von tief sitzendem Verfolgungswahn, Verschwörungstheorien sowie Hass auf alles Fremde und vermeintlich Fremde durchsetzt – ein übliches Muster in rechtsextremen Kreisen.
In einem Pamphlet, das R. auch fast wortgleich als Video hochlud, und dass dem stern vorliegt, wendet er sich "an das gesamte deutsche Volk". Auf 24 Seiten breitet er seine Theorien aus, die er schon seit dem Kindesalter entwickelt haben will. Im Zentrum: Ein angeblicher "Geheimdienst", der unter anderem Tausende Menschen in Deutschland überwache und dazu in der Lage sei Menschen mittels Gedankenmanipulation fernzusteuern, eine Art Geheimregierung.
Es gebe "etliche Ereignisse, die Weltgeschichte geschrieben haben, die auf meinen Willen zurückzuführen sind", führt er aus. Dazu sollen die Anschläge am 11. September 2001, das Engagement Jürgen Klinsmanns als DFB-Trainer, die Einrichtung eines Lehrstuhls in Bayreuth oder TV-Serien wie "Prison Break" gehören. R. hing der Theorie von einer "Schattenregierung" nach, die das Geschehen auf der Erde bestimmt. Viele dieser Äußerungen offenbaren die verstörende Weltsicht des 43-Jährigen.
Großen Raum in seiner 24-seitigen Schrift nimmt die erschreckende rassistische Ideologie von Tobias R. ein. Zwar ist er den Behörden bis zu seiner Tat nicht als Rassist aufgefallen, doch die Zeilen lassen nur den Schluss zu: Genau das war er.
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Aus dem deutschen Volk entstehe "das Beste und Schönste, was diese Welt zu bieten hat", andere "Volksgruppen, Rassen oder Kulturen" dagegen seien in "jeglicher Hinsicht destruktiv", "nicht leistungsfähig" und "äußerlich instinktiv abzulehnen" – insbesondere jene aus islamisch geprägten Weltregionen. Die "Existenz gewisser Volksgruppen an sich" sei ein "grundsätzlicher Fehler", "die komplette Ausweisung dieser Menschen aus unserem Land" könne "keine Lösung mehr sein". Diese Völker müssten "komplett vernichtet werden", selbst wenn es um mehrere Milliarden Menschen gehe. Mindestens die Hälfte der Opfer aus Hanau hat laut dem türkischen Außenministerium die türkische Staatsangehörigkeit.
Wo sich Tobias R. seine menschenverachtende Ideologie zusammensuchte, wie er sich daraus seine Theorien zusammenzimmerte und von wem er sich möglicherweise inspirieren ließ, ist noch vollkommen unklar. Das gesellschaftliche Klima dürfte ihm jedenfalls in die Karten gespielt haben.
Klar ist dagegen: Er wollte, dass die Welt auf ihn schaut. "Aus all den genannten Gründen blieb mir also nichts anderes übrig, so zu handeln, wie ich es getan habe, um die notwendige Aufmerksamkeit zu erlangen. Dieser Krieg ist als Doppelschlag zu verstehen, gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes!" Konkrete Details zu seiner bevorstehenden Tat nannte Tobias R. dabei allerdings nicht.
Tobias R. wähnte sich im "Krieg"
Unbekannt ist bis jetzt auch, ob R. sich in ärztlicher Behandlung befand – und welche Menschen in seinem Umfeld von der offensichtlichen psychischen Störung und dem rassistischen Weltbild wussten.
Auf den ersten Blick verlief das Leben des mutmaßlichen Zehnfachmörders normal. Abitur, Zivildienst, Banklehre, BWL-Studium, so stellt er sich im Internet dar. Sein Vater, 72, Betriebswirt, hat sich bei den Grünen in der Hanauer Kommunalpolitik engagiert, kandidierte 2011 für den Ortsbeirat Kesselstadt. Er wurde von der Polizei befragt.
R. soll sich für Fußball interessiert haben und war Mitglied in einem Frankfurter Schützenverein. Ein "eher ruhiger Typ", hieß es von dort. "Er hat keinerlei ausländerfeindliche Sprüche geklopft", so der Präsident des Vereins. "Mit dem konnte man sich ganz vernünftig unterhalten." Seit 2013 hatte R. eine Waffenbesitzkarte, sagte ein Sprecher des Main-Kinzig-Kreises der Nachrichtenagentur DPA. Seit 2014 besaß der Sportschütze mindestens eine Waffe.
Sie haben psychische Probleme?
Sie haben psychische Probleme? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter (0800) 1110111 und (0800) 1110222 erreichbar. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich.
Frauen spielten dagegen offenbar keine Rolle in seinem Leben. Er habe sein Leben lang keine Frau an seiner Seite gehabt – wegen der angeblichen Überwachung durch den vermeintlichen Geheimdienst und seiner hohen Ansprüche: "Ich wollte das Beste haben oder gar nichts."
Sein Pamphlet stellte R. am 20. Januar fertig, keinen Monat später setzte er sich in seinen BMW und zog in den von ihm erdachten "Krieg" – "gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes". Seinen eigenen Tod plante er dabei offenbar mit ein.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel wurde nach seiner Erstveröffentlichung um die Informationen zur Mitgliedschaft in dem Schützenverein ergänzt.