Es war ein denkwürdiger Moment. Sigmar Gabriel, Parteichef der SPD, sitzt im vierten Stock des Willy-Brandt-Hauses und erläutert Berliner Journalisten in einem Hintergrundgespräch die schwierigen Verhandlungen mit Schwarz-Gelb über den Fiskalpakt. In Gabriels Reihen herrscht der Eindruck, Kanzlerin Angela Merkel suche gar nicht ernsthaft Kompromisse mit der Opposition. Plötzlich, es ist 12.16 Uhr, poppt auf den Smartphones eine Eilmeldung auf:
"Die schwarz-gelbe Koalition hat sich mit der Opposition auf Eckpunkte für eine Finanztransaktionssteuer geeinigt. Das sagte der haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Barthle (CDU), am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur dpa in Berlin. Damit dürfte eine Zustimmung der Opposition zur Umsetzung des Fiskalpakts für mehr Haushaltsdisziplin noch vor der Sommerpause in greifbare Nähe gerückt sein."
Innere Blockaden
Gabriel ist verblüfft und sagt, das glaube er erst, wenn diese Nachricht durch die "Spitzen" bestätigt sei. Diesen Satz gibt er ausdrücklich für die Berichterstattung frei. 45 Minuten später hat er die Bestätigung - und tritt zu einem öffentlichen TV-Statement im Foyer des Willy-Brandt-Hauses auf. Dort spricht er von einer 180-Grad-Wende der Regierung, Schwarz-Gelb habe die inneren Blockaden aufgegeben. "Das ist ein erster großer und wichtiger Schritt", kommentiert Gabriel das Verhandlungsergebnis. Ob seine Partei nun dem Fiskalpakt zustimmen werde, den Schwarz-Gelb noch vor der Sommerpause verabschieden will, lässt der SPD-Parteichef allerdings weiter offen.
Grund dazu gibt es, denn das Verhandlungsergebnis, das in vielen Schlagzeilen voreilig als "Einigung" bezeichnet wurde, ist bei näherer Betrachtung viel zu schwammig - und gespickt mit schier unlösbaren Anforderungen. Das von der Arbeitsgruppe protokollierte Ergebnis, das stern.de vorliegt, enthält folgende Eckpunkte:
- Die Arbeitsgruppe orientiert sich an dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Finanzmarkttransaktionssteuer. SPD und Grüne feierten das bereits als großen Erfolg, weil damit alle Light-Varianten - etwa die britische Stempelsteuer und das französische Modell - vom Tisch seien. So einfach ist es aber nicht. Denn in dem Papier heißt es, dass sich die Bundesregierung, falls das EU-Modell nicht EU-weit durchsetzbar sei (wovon auszugehen ist), für eine "Besteuerung" engagieren wird. Dieses Wörtchen lässt viel, viel Interpretationsspielraum.
- Sicher ist immerhin, dass es keinen Zwang geben soll, die Steuer parallel in allen EU-Staaten oder auch nur in allen Euro-Staaten einzuführen. Auf Letzteres hatte die FDP bislang immer beharrt - nun ist sie ein bisschen umgefallen. Volker Wissing, Verhandlungsführer der FDP, sieht das im Gespräch mit stern.de naturgemäß anders. Es sei den Liberalen immer nur darum gegangen, die Verlagerung von Finanzgeschäften zu vermeiden. Wenn das gelinge, sei die Zahl der Teilnehmerstaaten von untergeordneter Bedeutung.
- Strittig ist nach wie vor, ob das Kabinett, wie von der Opposition gefordert, die Einführung der Finanzmarkttransaktionssteuer formell beschließt und damit eine Art Startschuss für EU-Kommission in Brüssel abfeuert. Laut Teilnehmern der Verhandlung war nur wolkig von einer schwarz-gelben "Initiative" die Rede.
- Die Steuer soll, so das Protokoll des Ergebnisses, "möglichst alle Finanzinstrumente umfassen" und mit einer "breiten Bemessungsgrundlage bei einem niedrigen Steuersatz" realisiert werden. Die Worte "möglichst" und "breit" lassen aufhorchen: Darüber kann noch viel gestritten werden. Immerhin wird der Steuersatz konkret genannt: 0,01 bis 0,1 Prozent genannt, was den Richtlinien der EU-Kommission entspricht.
- Zwei Hintertürchen haben die Liberalen in die Vereinbarung hineinverhandelt, die eine konkrete Ausgestaltung des Gesetzes sehr, sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen. Erstens heißt es, es seien "Ausweichreaktionen" zu vermeiden, also die Kapitalflucht an andere, nicht besteuerte Börsen. Wie aber ließe sich das sicherstellen? Zweitens sollen Belastungen für "Instrumente der Altersversorgung" (sprich: Riester-Rente und Lebensversicherungen), für Kleinanleger und die Realwirtschaft vermieden werden. Diese Aufgabe allerdings grenzt an die Quadratur des Kreises, zum Beispiel deswegen, weil Mittelständler ihre Auslandsgeschäfte zum Teil mit Derivaten absichern. Wissing: "Natürlich sind das hohe Hürden, die ich da eingezogen habe."
Kein Altschuldentilgungsfonds
Das Resümee, das Lisa Paus, Verhandlungsführerin der Grünen, zieht, ist ziemlich durchwachsen. Man sei sich in Formulierungen näher gekommen, sagt Paus zu stern.de, mehr aber auch nicht. Wissing spricht von einem "Beitrag zur Versachlichung der Debatte", aber er meint das in dem Sinne, das nun klarer sei, wie kompliziert eine solche Steuer wäre, wenn die genannten Kriterien erfüllt sein solle. Wissing: "Wer glaubt, dass diese Finanzmarkttransaktionssteuer kurzfristig eingeführt werden kann, der muss mir ein paar Fragen beantworten." Zum Beispiel, wie eben die Verlagerung von Finanzgeschäften an andere Börsen vermieden werden könne.
Neben der Finanzmarkttransaktionssteuer sind in der Arbeitsgruppe noch weitere Themen strittig. "Das Gesamtpaket stimmt nicht", sagt Grünen-Verhandlerin Paus. Dazu gehört ihrer Ansicht nach auch ein europäischer Fonds für die Altschuldentilgung. Darüber aber hätten FDP und Union gar nicht verhandeln wollen. Alles, was nur entfernt nach Vergemeinschaftung von Schulden aussähe, würde Schwarz-Gelb zum Tabu erklären. Ein zweites offenes Thema ist die Forderung von SPD-Chef Gabriel, der Bund solle die finanziellen Risiken des Fiskalpakts übernehmen, da der Pakt Ländern und Kommunen möglicherweise noch größere Sparanstrengungen abfordert als die Schuldenbremse.
Die Hollande-Schleife
Auch die AG "Wirtschaftswachstum und Jugendarbeitslosigkeit" kann keinen Durchbruch melden. Hubertus Heil, Verhandlungsführer der SPD, teilte mit, dass keine "substanziellen Fortschritte" zu verzeichnen seien. Beides - die Einführung der Finanzmarkttransaktionssteuer und ein Wachstumsprogramm - hatten Grüne und SPD zu Bedingung ihrer Zustimmung zum Fiskalpakt erklärt. Deswegen wurden die beiden Arbeitsgruppen eingesetzt.
Das Arbeitsklima in den beiden Gruppen scheint ohnehin nicht sonderlich gut zu sein. "Dass wir hingehalten werden, dass es keine echte Arbeitsbereitschaft gibt, dass sich in der Substanz wenig bewegt - diesen Eindruck haben wir schon", sagt Paus zu stern.de. Ein Grund dafür ist, dass Merkel zunächst eine Einigung mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande zu suchen scheint - um damit anschließend die deutsche Opposition unter Druck zu setzen. Das würde auch den regen Pendelverkehr zwischen Berlin und Paris erklären, den Grüne und Sozialdemokraten aufgenommen haben. Sie versuchen, Hollande auf ihre Linie einzuschwören. Just an diesem Donnerstag war Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin in Paris.
Vertagung auf den Herbst?
Das Zeitfenster bis zur von Schwarz-Gelb geplanten Verabschiedung des Fiskalpakts wird unterdessen immer enger. Kommende Woche Montag trifft sich Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) mit den Geschäftsführern der Fraktionen, um das Spitzentreffen zwischen Koalition und Opposition am Mittwoch im Kanzleramt vorzubereiten. Entscheidend wird sein, ob es trotz aller Schwierigkeiten perspektivisch zu einer Kombi-Lösung kommen kann: Einführung einer Finanzmarktsteuer, um ein Wachstumsprogramm für Europa zu finanzieren. Ist das realistischerweise nicht erreichbar, könnte die Opposition nicht ohne Gesichtsverlust dem Fiskalpakt zustimmen. Sie würde dann wohl versuchen, Zeit zu gewinnen - und darauf drängen, die Verabschiedung des Fiskalpakts auf den Herbst zu vertagen.