Herr Trittin, angenommen, die Grünen sitzen 2013 in der Regierung. Werden Sie als Minister dann wieder auf die Straße gehen und gegen Castor-Transporte demonstrieren?
Kämen die Grünen 2013 tatsächlich an die Regierung, gäbe es wichtigere Fragen zu klären als die, wer an welcher Demo teilnimmt.
Nämlich?
Wir müssten erstens das Atomgesetz novellieren. Also die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke zurücknehmen und die Absenkung der Sicherheitsstandards aufheben. Damit würden wir sehr schnell eine Reihe der ältesten Atomkraftwerke stilllegen, weil ihre Laufzeiten gemäß dem alten Atomkonsens abgelaufen sind. Und wir würden zweitens die Bauarbeiten in Gorleben stoppen und die Suche nach einem Standort für ein atomares Endlager neu aufrollen.
Sie hätten gar keine Zeit mehr zum Demonstrieren, oder wie?
Das habe ich nicht gesagt.
Würde der Minister Trittin 2013 nun gegen den Castor-Transport demonstrieren oder nicht?
Ich weiß ja noch nicht mal, ob es dann noch Transporte aus Frankreich geben wird.
Als Bundesumweltminister haben Sie Castor-Transporte durchgewinkt. Jetzt, in der Opposition, protestieren Sie in Gorleben dagegen.
Wo liegt Ihr Problem?
So etwas nennt man Doppelmoral.
Unsinn. Ich habe keine Castor- Transporte durchgewinkt, sondern die Sicherheitskriterien für solche Transporte verschärft, die meine Amtsvorgängerin Angela Merkel vernachlässigt hatte. Heute bin ich persönlich betroffen. Ich habe als Minister den Schwarzbau des Endlagers in Gorleben gestoppt. Der jetzige Umweltminister Norbert Röttgen von der CDU hat diesen Baustopp aufgehoben. Ist das etwa kein Grund, auf die Straße zu gehen?
Als Umweltminister haben Sie die Castor-Transporte nach Gorleben selbst genehmigt.
Der Atomkonsens war ein schwieriger Kompromiss, daraus haben wir nie ein Hehl gemacht. Dafür musste ich den Kopf hinhalten. Zur Wahrheit gehört allerdings dazu, dass wir Gorleben 80 Prozent der genehmigten Atommüllmenge erspart haben. Wir haben die Plutonium produzierende Wiederaufarbeitung verboten. Wir haben innerdeutsche Atomtransporte, die auch nach Gorleben gehen sollten, verboten.
Der Jürgen Trittin des Jahres 2001 hat seine Parteimitglieder ausdrücklich aufgefordert, sich an Sitzblockaden in Gorleben nicht zu beteiligen. In einem Brief an die niedersächsischen Grünen schrieben Sie: "Nur weil jemand seinen Hintern auf die Straße setzt, finden wir das noch nicht richtig."
Ja, für solche Sitzblockaden muss es einen triftigen Grund geben.
Wenn ein Grüner Umweltminister ist, sind Sitzblockaden doof, bei einem schwarzen Umweltminister sind Sitzblockaden okay?
Quatsch. Das ist keine Frage des Parteibuchs.
Sondern?
Es geht darum, wofür oder wogegen man demonstriert. Das hängt von der konkreten Politik ab. Rot-Grün hat Gorleben damals massiv entlastet. Schwarz- Gelb verlängert die Laufzeiten der AKWs um bis zu 14 Jahre und erhöht damit die Menge hoch radioaktiven Mülls um Hunderte von Tonnen. Gleichzeitig nehmen Union und FDP die Bauarbeiten wieder auf. Die Regierung belastet Gorleben damit massiv.
Steckt darin das Geheimnis des grünen Erfolgs: Sie regieren nicht, protestieren ein bisschen, tun keinem weh und profitieren nebenbei vom Frust auf die "blöden Politiker"?
Nein, wir profitieren davon, dass wir kompetent und glaubwürdig sind. Wir haben - bei allen schwierigen Kompromissen in der rot-grünen Regierung - an unseren Zielen stur und beharrlich festgehalten. Die Menschen wissen, dass wir den Atomausstieg durchgesetzt und den Ausbau erneuerbarer Energien vorangebracht haben, dass wir RWE und den anderen Energieriesen nicht 100 Milliarden Euro Zusatzgewinne in den Rachen werfen wollen. Deshalb hat uns die Bäuerliche Notgemeinschaft eingeladen, auf ihren Treckern in Gorleben zu demonstrieren.
Apropos 100 Milliarden Euro. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie wieder regieren? Schwarz-Gelb hat den Energieunternehmen diese Gewinne durch die Laufzeitverlängerung und einen Zusatzvertrag mehr oder weniger garantiert.
Dieser Vertrag ist nichtig. Er bindet zukünftige Regierungen nicht. Die Zusatzeinnahmen für die Energiekonzerne wird es unter einer von den Grünen mitgetragenen Regierung nicht geben. Auf eines aber können sich die Unternehmen verlassen: Die Brennelementesteuer bleibt bestehen.
Laut Forsa-Umfrage für den stern-RTL-Wahltrend kosten die Gorleben-Proteste die Grünen Zustimmung im bürgerlichen Lager.
Ich habe die Begründung des stern-Hoforakels Manfred Güllner gelesen und mich köstlich amüsiert. Sie glauben nicht im Ernst, dass ich mir Sorgen mache, weil wir in einer Umfrage von 24 auf 22 Prozent abrutschen?
Warum sagen Sie nicht: Liebe Bürger, Gorleben ist der falsche Ort für ein Endlager, aber irgendwohin muss der Atommüll ja trotzdem.
Das sagen wir doch.
Von Ihnen hört man nur, dass Gorleben ungeeignet ist. Bei der Suche nach Alternativen sollen sich andere die Finger schmutzig machen.
Das ist falsch. 2003 habe ich als Umweltminister ein offenes, transparentes Verfahren für die Suche nach einem atomaren Endlager vorgeschlagen. Es basiert auf den Forderungen eines Arbeitskreises unabhängiger Wissenschaftler, der dafür Kriterien erarbeitet hat.
Aus dem Vorschlag ist allerdings kein Gesetz geworden.
Richtig, Gerhard Schröders Entscheidung, die Bundestagswahl auf 2005 vorzuziehen, hat das verhindert. Jeder, der will, könnte diesen Entwurf allerdings sofort umsetzen. Er liegt noch auf den Festplatten des Umweltministeriums. Aber seit fünf Jahren passiert nichts. Die Union blockiert, allen voran Merkel und Röttgen.
Wie soll die Suche nach einem atomaren Endlager konkret ablaufen?
In einem mehrstufigen Verfahren und nach wissenschaftlichen Kriterien. Wir gehen zunächst von einer weißen Landkarte aus. Als Erstes schließen wir die offenkundig ungeeigneten Standorte aus. Dann gucken wir, welche Gesteinsarten für die Einlagerung des Atommülls infrage kommen, ob Salz, Ton oder Granit. Schließlich vergleichen wir verschiedene Standorte, die aufgrund der Untersuchungen in die engere Wahl kommen. Bei jedem einzelnen Verfahrensschritt brauchen wir die Beteiligung der Bürger. Am Ende dann steht eine Entscheidung des Bundestages.
Welchen Standort favorisieren Sie?
Das ist völlig unerheblich.
Warum?
Es geht hier um einen ergebnisoffenen Prozess. Damit verträgt sich nicht, dass Politiker wie etwa Markus Söder von der CSU öffentlich erklären, welchen Standort sie bevorzugen und welcher gar nicht in Betracht kommt. So ist ja in den 70er Jahren die Entscheidung für Gorleben gefallen - aus politischen, nicht aus fachlichen Gründen. Es war eine menschenleere Gegend, es lag in der Nähe zur DDR, man konnte die Wirtschaftsförderung im Zonenrandgebiet nutzen. Sicherheit spielte kaum eine Rolle.
Kommt Gorleben überhaupt noch infrage?
Wenn Sie die Kriterien in meinem alten Gesetzentwurf zur Endlagersuche anlegen, insbesondere was die Transparenz des Verfahrens und die Beteiligung der Bürger betrifft, dann ist der Standort Gorleben politisch so gut wie tot.
Wenn ein anderer Standort gefunden ist, sagen wir in Bayern oder Baden- Württemberg - schlagen sich die Grünen dann wieder auf die Seite der Bürger, die gegen Atommüll vor ihrer Haustür protestieren?
Zu den Ergebnissen eines solchen Verfahrens muss man stehen.
Das heißt, kein grüner Widerstand?
Sie unterstellen uns stets eine billige Protesthaltung. Was soll das? Wenn ich etwas für notwendig erachte, setze ich es um und stehe dazu - allen Widerständen zum Trotz. Als Grüne haben wir auch die Entscheidung verteidigt, atomare Zwischenlager in Bayern und Baden-Württemberg zu errichten. Wissen Sie, wer mir damals eine Unterschriftenliste seiner Heimatgemeinde gegen das Zwischenlager in Mitterteich in Bayern überreicht hat?
Wer?
Theo Waigel von der CSU. "Das ist ja interessant", habe ich Waigel gesagt. "Gegen Atomkraftwerke haben Sie noch nie demonstriert, aber den Müll wollen Sie nicht haben."
Ein atomares Endlager in Deutschland muss und wird es geben?
Ja.
Wir sollten das strahlende Zeug also nicht etwa nach Russland schicken?
Nein, auf keinen Fall. Die nuklearen Brachen in Russland sind dafür nicht geeignet. Mal abgesehen davon: Für den eigenen Müll trägt man als Gesellschaft selbst die Verantwortung, auch moralisch.
Regieren und protestieren, dafür und dagegen sein - geht das bei den Grünen zusammen?
Schon wieder eine Unterstellung.
Die Grünen sind keine Wohlfühlpartei?
Schauen Sie sich an, was wir in der Regierung getan haben. Ich habe als Umweltminister an neun Standorten neue atomare Zwischenlager genehmigt. Das war der Preis, den ich zu zahlen hatte, um Gorleben von Atommüll zu entlasten. Renate Künast hat sich im Interesse der Verbraucher mit der gesamten Agrarlobby angelegt. Glauben Sie im Ernst, das waren alles Wohlfühlveranstaltungen?
Dann können Sie sich heute ja vor Ihre Wähler stellen und sagen: Windparks in der Nordsee, Solarstrom aus der Sahara - das bedeutet den massenhaften Bau von Stromtrassen.
So ist es, deshalb setze ich mich ja für neue Stromtrassen ein, übrigens nicht erst seit heute. 2005 habe ich ein Gesetz in den Bundesrat gebracht, das den beschleunigten Ausbau von Stromtrassen vorsah. Wissen Sie, wer dagegen gestimmt hat?
Sagen Sie's uns.
Die Schwarzen. CDU und CSU. Die hatten ein ganz primitives Motiv: Sie wollten lieber Atomstrom und hofften, auf diesem Wege den Umbau des Stromnetzes und die Energiewende verhindern zu können. Heute muss ich mir von denen anhören, die Grünen seien gegen den Ausbau von Stromtrassen. Die Leitungen könnten längst alle gelegt sein.
Vor Ort sind die Grünen davon oft nicht begeistert.
In meinem Wahlkreis Göttingen haben sich sowohl der schwarzgrüne Landkreis als auch die rotgrüne Stadtregierung im Raumordnungsverfahren für den Bau einer neuen Stromleitung ausgesprochen; sie führt von Wahle in Niedersachsen bis nach Mecklar in Hessen. Entlang dieser Trasse gibt es viele CDU-Gemeinden, die Nein gesagt haben.
Eine Wohlfühlpartei sind die Grünen Ihrer Meinung nach nicht, eine Protestpartei auch nicht. Aber in Gorleben und in Stuttgart mischen sie beim Widerstand kräftig mit.
Wir sind eine Konzeptpartei. Schon vor 15 Jahren waren die Grünen gegen Stuttgart 21 - weil ein umgebauter Kopfbahnhof die bessere Lösung ist. Heute sagen viele Bürger: Die Grünen hatten recht. Warum müssen wir uns jetzt vorhalten lassen, wir würden Proteste befeuern?
In der Wut der Bürger zeigt sich ein wachsendes Misstrauen gegen die Politik und demokratische Institutionen. Das beunruhigt Sie nicht?
Das ist mir zu kurz gegriffen. Es gibt nicht die Politik oder die Politiker. Politik findet auch jenseits der Parlamente und der klassischen Medien statt. Wir leben in einer informierten, selbstbewussten Gesellschaft. Da muss sich jede Politik nicht nur durch rechtsstaatliche Verfahren legitimieren, sondern auch durch Bürgerbeteiligung, Transparenz, Verbandsklageregeln, Einsicht in Unterlagen. Sie können die Bürger nicht mehr hintergehen. Genau dafür stehen die Grünen. Wir wollen die Demokratie und ihre Institutionen stärken, nicht sie verächtlich machen. Die Grünen sind eine Bürgerrechtspartei - keine rechtspopulistische Tea Party.