Der 2. Juni 2019 ist kein guter Tag für Deutschland. Aber das weiß das Land an diesem Sommersonntag noch nicht. Die Republik diskutiert über den Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles oder freut sich über Jürgen Klopps Champions-League-Sieg mit dem FC Liverpool. Es ist der wärmste Tag seit Wochen; viele gehen ins Schwimmbad. In Kassel klettert das Thermometer auf 29 Grad.
Der Mord an Walter Lübcke, 65, ist noch kein Thema. Der Fall schafft es bis zum Abend nicht in die "Tagesschau". Der Kasseler Regierungspräsident ist in der Nacht zuvor auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha ermordet worden. Kopfschuss aus kurzer Distanz. Gegen 2.35 Uhr wurde sein Tod festgestellt. Es sieht nach einer Hinrichtung aus.
"Schweinesystem"
Die Bilder vom Tatort – dem wuchtigen weiß getünchten Einfamilienhaus mit den Solarmodulen auf dem Dach und der Sommerwiese dahinter – werden erst Tage später durch die Medien gehen. Kann sein, dass sie einmal einen Platz im kollektiven Gedächtnis der Nation bekommen werden. Als Bilder der Zeitgeschichte, so wie die von einer Bombe zerstörte Limousine des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen oder der zerschossene, mit offener Tür an einer Karlsruher Kreuzung stehende Mercedes des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, beide Opfer der RAF. Es war der linksterroristische Angriff auf die Demokratie – auf das "Schweinesystem", wie es in der Sprache der RAF hieß. Jahrzehnte ist das nun her.
Ist der Mord an Walter Lübcke ein Angriff auf das System, diesmal von rechts? Die nächste Attacke aufs Establishment? Dann ist die Tat von Wolfhagen-Istha, 2. Juni, kurz nach Mitternacht, ein Fanal. Es wäre das erste Mal, dass ein Repräsentant der inzwischen 70 Jahre alten Bundesrepublik durch die Hand eines Rechtsradikalen stirbt.
Im Netz wird das Attentat bereits gefeiert, der Täter als Held verherrlicht. Dort ist längst etwas eingesickert. Ein Gift, es breitet sich von der virtuellen in die reale Welt aus. Hemmschwellen sind gefallen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht von einem Verdacht auf "politischen Mord". Einige Äußerungen zum Fall Lübcke in den sozialen Netzwerken seien "zynisch, geschmacklos, abscheulich, in jeder Hinsicht widerwärtig".
In der Kasseler Justizvollzugsanstalt sitzt seit Samstag vorvergangener Woche der Rechtsextremist Stephan E., eine janusköpfige Figur. Biedermann und beinahe Brandstifter – beinahe deshalb, weil ein versuchter Rohrbombenanschlag auf ein Asylbewerberheim fehlschlug. Überdies: mehrfach verurteilter Gewalttäter, Ex-NPD-Mitglied, ein Mann mit Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen wie "Combat 18" und Kontakten hinein in die nordhessische Unterstützerszene des NSU. Einer von 12.700 gewaltorientierten Rechtsextremisten, wie es vonseiten des Verfassungsschutzes heißt – das wäre eine komplette Kleinstadt voller militanter Nazis. In den vergangenen Jahren war dieser Stephan E. eher ein ruhiger Vertreter seiner Zunft. Seine DNA fand sich am Tatort. Ein Einzeltäter? Einer, der sich den entscheidenden "Kick" aus einschlägigen Chatrooms geholt hat?
Hassmails und Drohungen
Oder doch ein langjähriger "Schläfer", der nun zum Ausführungsorgan eines rechtsextremen Netzwerks wurde? Ein Angehöriger einer Terrorzelle also, ähnlich dem jahrelang unerkannt mordenden NSU, von dessen vollständiger Zerschlagung Fachleute ohnehin nie überzeugt waren?
Beide Varianten sind eigentlich unfassbar. Aber sind sie auch unerwartet?
Nach dem Mord an Walter Lübcke wirkt es für manche wie der lange befürchtete Zangenangriff auf unsere Gesellschaft. Hassmails und Drohungen und Einschüchterungsversuche, das ganze Trommelfeuer der Hetze, wären dann nur die Vorstufe. Aus Worten sind Taten geworden.
Und die Taten bewirken, dass die Worte von Tag zu Tag bedrohlicher erscheinen.
Es gibt Menschen in Deutschland, Repräsentanten dieses Staates, wie Walter Lübcke einer war, die haben das kommen sehen.
Als Markus Nierth die Nachricht vom gewaltsamen Tod des Kasseler Regierungspräsidenten hörte, kamen in ihm die Erinnerungen wieder hoch: an all die Morddrohungen, die er selbst erhalten hat, an die Briefe mit Fäkalien, die an seine Privatadresse geschickt wurden, an die soziale Isolation im Ort, nachdem er sich als Bürgermeister des sachsenanhaltinischen Ortes Tröglitz im Jahr 2015 für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen hatte. Ganz ähnlich, wie Walter Lübcke das in seinem Regierungsbezirk auch getan hatte.
Für Nierth steht mit dem Attentat fest: "Die Botschaft der Rechten im Fall Lübcke ist: Irgendwann kriegen wir euch!"
Tod Walter Lübckes als Menetekel
Das ist die bedrückende Schlussfolgerung eines Mannes, der mit seinem Rücktritt als Bürgermeister von Tröglitz bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte. Damals zermürbt, resigniert und – desillusioniert. Der Theologe hatte sich alleingelassen gefühlt von dem, was man so gern Zivilgesellschaft nennt, nachdem die NPD seinerzeit eine Demonstration angemeldet hatte, die an seinem Privathaus vorbeiziehen sollte. Kein Aufstand der Anständigen. Nirgends.
Nierth hat damals eine Abwägung in eigener Sache vorgenommen. Er konnte nicht mehr. Der Schutz seiner Familie war ihm wichtiger als ein gesellschaftliches Engagement, durch das er seine Angehörigen in Gefahr brachte. Einen ähnlichen Schritt ging der Landrat des Main-Kinzig-Kreises, Erich Pipa. Er trat 2017 nicht zur Wiederwahl an, weil er jede zweite Woche Drohmails erhalten hatte und weil er als "Kanaken-Landrat" und als "Ratte" beschimpft worden war.
Der stern hat mit mehreren Menschen gesprochen, die in der Kommunalpolitik tätig sind, so wie bis zu seinem Tod Walter Lübcke oder bis zu seinem Rückzug Markus Nierth. Mit nur auf lokaler Ebene bekannten Politikern wie zum Beispiel der unerschrockenen Landrätin des Landkreises Regen in Bayern, Rita Röhrl. Und mit prominenten wie der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die bei einer Messerattacke lebensgefährlich verletzt wurde und die in diesen Tagen wieder unverhohlene Morddrohungen erhalten hat; eine Mail etwa, die mit "Sieg Heil" unterzeichnet war und in der es heißt, dass mit dem Mord an Lübcke die "Phase bevorstehender Säuberungen eingeleitet" worden sei.
Kampf gegen die Angst
Sie alle arbeiten dort, wo es wehtut. Wo die Wellen der Intoleranz ungebremst anbranden, selten genug bemerkt von der Öffentlichkeit. Wer mit ihnen geredet hat, bekommt einen Begriff davon, wie verroht unsere Gesellschaft mittlerweile ist. Und wie indifferent sich weite Teile dieser Gesellschaft der Verrohung gegenüber verhalten. Die Suche nach Beispielen ist dabei nicht einmal besonders schwierig. Denn es handelt sich längst nicht mehr um Einzelfälle. Bei einer Umfrage des Deutschen Städte- und Gemeindebundes unter 1000 Bürgermeistern gaben 2016 sechs Prozent der Befragten an, dass entweder sie selbst oder Mitglieder des Gemeinderates körperlich angegriffen worden seien. 20 Prozent, also jeder Fünfte, berichteten von Einschüchterungsversuchen. "Dass Stadträte oder Amtsträger mit Hassmails überzogen oder beleidigt werden, ist kein isoliertes Ereignis, sondern inzwischen ein fast flächendeckendes Phänomen in Deutschland", sagt der Präsident des Deutschen Städtetags, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD). "Sobald eine oder einer Haltung zeigt, folgt eine Flut von Beleidigungen oder wird gedroht, um einzuschüchtern. Das macht auch vor Familie und Kindern nicht halt."
Carola Veit sitzt in der Polstermöbelecke ihres stilvollen Amtszimmers im Hamburger Rathaus. Die Bürgerschaftspräsidentin blickt auf ihr Handy und liest die Mail vor, die sie vor zwei Wochen bekommen hat, schnell und ohne erkennbare Emotionen. Sie wird darin "Volksverräterin" und "Schlampe" genannt: "Ich bin ganz schön wütend. Ich komme vorbei, wenn Du nicht damit rechnest." Doch nicht nur Carola Veit persönlich wird Gewalt angedroht. Der anonyme Absender, der sich "Soldat der SS" nennt, beschreibt im Detail, wie er ihre Familie töten will. Den Mann. Den mache er "kaputt", "aufgesetzter Schuss Schläfe". Die Kinder. Was an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden soll.
"Ekelig und widerwärtig" nennt Veit die Mail. Sie hat Anzeige erstattet. Das tut sie meist in solchen Fällen. Es ist ja nicht die erste Morddrohung mit Rechtschreibfehlern und SS-Bezug, die sie erhalten hat. Anfang Juni schrieb ihr beispielsweise ein Unbekannter mit "deutschem GruSS": "Auf dich wartet ein Nürnberger Prozess mit Urteil schuldig. Tod durch nen Strang". Vergangenen Herbst hatte ein "Patriot" sie wissen lassen: "Wenn ich dich sehe, dann steche ich dir ein Messer in deine scheiß Kehle und bringe dich um". Er spielte damit wohl auf das Attentat an der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker an. Gewalt zieht Gewalt nach sich – und sei es in der Fantasie.
Untergang
Seit mehr als drei Jahren bekommt die Hamburger Sozialdemokratin schon derartige Hass- und Drohmails, nicht selten handeln sie von sexueller Gewalt. "Die Leute teilen mir mit, was sie gerne mit mir anstellen würden", berichtet Veit.
Die Bürgerschaftspräsidentin zeigt die anonymen Verfasser nicht nur an, hin und wieder veröffentlicht sie auch deren Pamphlete auf Twitter. Soll später keiner sagen können, er habe vom Ausmaß der Drohungen nichts gewusst.
Doch die Anonymität des Netzes wirkt wie eine schier unüberwindliche Schutzmauer für die Hetzer. Nur einmal konnte bislang ein Schreiber nach einer Anzeige von Veit ausfindig gemacht werden. Er kam nicht aus Hamburg, sondern aus einem anderen Bundesland. Für eine Anklage reichte es nicht. "Das Verfahren wurde eingestellt."
Carola Veit arbeitet dennoch weiter wie immer. "Mein Mann sieht das so wie ich. Wir sind uns einig, dass uns das keine Angst macht."
Ein paar Hundert Kilometer weiter südöstlich, im niederbayerischen Landkreis Regen, sieht das die SPD-Landrätin Rita Röhrl, 65, ganz genauso. Sie sagt: "Angst wäre der erste Schritt in den Untergang." Und: "In dem Moment, wo ich aus Angst meine Äußerungen zurücknehme, hab ich verloren."
Die Sozialdemokratin prüft sich von Zeit zu Zeit selbst: "Habe ich eine Schere im Kopf und Angst, meine Meinung zu sagen?" Sie findet: "Da muss man wahnsinnig aufpassen. Denn wenn das so wäre, dann können wir uns von der Demokratie verabschieden."
Ein Risiko bleibt immer
Röhrl hat in ihrem Landkreis eine sehr aktive rechtsextreme Gruppierung namens "Dritter Weg". Gibt es von deren Seite Aufmärsche, organisiert sie Gegendemonstrationen. "Da bin ich dann der Feind Nummer eins." Sie wird von den Rechten wegen ihrer liberalen Haltung in der Flüchtlingsfrage attackiert. "Die rufen: "Schwimm doch übers Mittelmeer zurück!" Röhrl sieht es als ihre demokratische Pflicht an, sich den Rechten entgegenzustellen – ein notwendiges Engagement. Sie gibt aber zu: Die Aufmärsche bereiten ihr Unbehagen.
Und sie ist vorsichtiger geworden. Die SPD-Politikerin besitzt einen Waffenschein. Wenn sie nicht mit ihrem Fahrer unterwegs ist, sondern, was immer mal vorkommt, allein, hat sie eine Gaspistole im Handschuhfach. Rita Röhrl glaubt, dass das im Zweifel ausreicht, Angreifer zu vertreiben, sodass sie selber eine Chance hat, zu fliehen. Aber sie weiß auch, dass gegen eine heimtückische Tat wie im Fall Lübcke keine Gaspistole hilft.
Der Dienst an der Gesellschaft – er verlangt in diesen Zeiten ein gehöriges Quantum an Unerschrockenheit. An Widerstandsfähigkeit. Und so ist Henriette Reker, die Kölner Oberbürgermeisterin, die im Oktober 2015 nach einer Messerattacke ein paar Tage im künstlichen Koma lag, entschlossen, weiterzumachen. Sie ist nicht beunruhigt, aber, wie sie sagt, angespannt und wachsam. "Ich denke, es wäre ein vollkommen falsches Zeichen, sich jetzt zurückzuziehen", sagt sie. "Ich bin weiter erreichbar für meine Bürger, ich suche weiter den Kontakt."
Nur – kann man tatsächlich von allen Kommunalpolitikern des Landes erwarten, nun mit der Gewissheit weiterzumachen, dass es – wie es das Attentat auf Reker und der Mord an Lübcke zeigen – nicht immer nur bei Drohungen und Einschüchterungsversuchen bleibt? Die Kölner Oberbürgermeisterin sagt: "Das ist die persönliche Entscheidung des Einzelnen." Ihr sei schon klar, "dass man nicht jeden mit der Polizei schützen kann".
Und so ist die Diskussion über den verbesserten Personenschutz für Kommunalpolitiker, die in diesen Tagen reflexhaft geführt wird, zwar überfällig. Sie zeigt aber auch, vor welcher Herkulesaufgabe dieser Staat steht, will er seine Repräsentanten bis in die unteren Ebenen angemessen schützen.
Wer schweigt, hilft den Tätern
Denn: Wann fängt Gefährdung an? Wann ist sie ernst zu nehmen? Diese Abwägung ist nicht immer ganz einfach. Und: Wie soll effektiver Schutz aussehen? Reicht regelmäßiger Kontakt zu Polizei und Staatsschutz? Nun, nach dem Mord an Walter Lübcke stellt sich die Frage, ob die Sicherheitsbehörden bislang zu nonchalant mit dieser neuen Form von Bedrohung umgegangen sind. Wie der Berliner "Tagesspiegel" aus Sicherheitskreisen erfahren haben will, sind auf Datenträgern von Rechtsextremisten etwa 10.000 Namen gesammelt, die als "politische Gegner" eingeordnet werden. Menschen mit Haltung. Auch Lübckes Name stand auf der Liste.
Der Staat, so viel wird klar, kann nicht allein für den Fortbestand der Zivilgesellschaft sorgen. Sie muss sich auch selbst darum kümmern. Und so könnte der Mord an Walter Lübcke in Wolfshagen-Istha, 2.Juni, kurz nach Mitternacht, in zweifacher Hinsicht ein Fanal sein.

Mit seiner Erfahrung aus der Kampagne vor gut drei Jahren meldet sich deshalb der Tröglitzer Theologe Nierth heute noch einmal zu Wort. Seine Botschaft: "Es ist Zeit, dass wir aufhören, als bürgerliche Mehrheit zu schweigen. Denn wenn die Rechten siegen, werden wir alle wieder bitter dafür zahlen. Ich bin damals nicht als Bürgermeister allein wegen des Drucks der Rechten zurückgetreten, sondern weil wir als Familie von den sozialen Autoritäten des Ortes, der Mehrheit der Einwohner alleingelassen wurden."
Die von den Rechten beschimpfte Landrätin Rita Röhrl sagt: "Unser Schutz ist auch die Gesellschaft. Sie ist genauso aufgerufen, unsere Freiheit zu verteidigen, wie jeder einzelne Kommunalpolitiker."
Hoffnung
Und die von den Rechtsextremen bedrohte Carola Veit hat einen Wunsch: "Auch wenn das eine sehr kleine Minderheit ist, finde ich es trotzdem wichtig, dass es nicht eine schweigende Mehrheit gibt, die das hinnimmt. Unsere Gesellschaft darf dazu nicht schweigen."
Sie alle eint die Hoffnung, nicht allein stehen zu müssen.
Damit der Hass am Ende nicht siegt.