Die Gelegenheiten, von Olaf Scholz zu erfahren, warum von ihm so wenig zu hören ist und er die vielfältigen Rufe nach Führung ignoriert, sind rar gesät. Äußert sich der Bundeskanzler dann doch einmal, denken nicht wenige: Hätte er doch weiter geschwiegen. In einer Krisensituation wie der jetzigen, sagte Scholz unlängst im Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), glaubten ja viele zu wissen, was Führung sei, "(...) manchen von diesen Jungs und Mädels muss ich mal sagen: Weil ich nicht tue, was ihr wollt, deshalb führe ich."
Man muss kein Twitter-Troll sein, um bei solchen Worten an die Decke zu gehen. Schon die Wortwahl wirkt respektlos und arrogant. Was auch immer der Kanzler unter Führung versteht und welche Fäden er im Hintergrund auch immer knüpfen mag, seine Art zu führen wird offenkundig nicht verstanden. Von der Opposition sowieso nicht. Auch von vielen Wähler:innen nicht und von großen Teilen seiner Koalition nicht. Von der EU nicht und erst recht nicht von der ukrainischen Regierung. Die wünscht sich bekanntlich entschlosseneren Beistand der größten EU-Volkswirtschaft bei der Verteidigung des Landes gegen die russische Aggression. Aber: Deutschland steht als "Bremser" da, sagt längst nicht nur der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, der CSU-Mann Manfred Weber.
Olaf Scholz: zaudern, zögern, schweigen
Zaudern, zögern und vor allem schweigen – es ist diese Mischung, die den Kanzler derzeit in Misskredit bringt. Er selbst weist das von sich. Doch schon Scholz' Vorgängerin Angela Merkel wurde häufig vorgeworfen, dass sie sich in Situationen zurücknahm, in der sich Regierungs- und Staatschefs der Bevölkerung zeigen und Führungsstärke demonstrieren sollten. Der SPD-Mann, jahrelang als Vize-Kanzler an Merkels Seite, scheint diese Praxis noch perfektionieren zu wollen. Der ukrainische Präsident Selenskyj spricht ihn in einer Videobotschaft im Bundestag direkt an. Scholz schweigt. Der Bundespräsident ist in Kiew unerwünscht – trotz der Kriegswirren ein diplomatischer Affront. Scholz gibt sich "irritiert" und schweigt ansonsten. Ob Waffenlieferungen, Ausschluss Russlands aus dem Swift-System oder der Stopp für die Nord-Stream-2-Pipeline – stets wirkte es, als ob sich Scholz (und mit ihm die Bundesregierung) erst zu einer Entscheidung durchringen konnte, als der Druck von außen so groß wurde, dass es gar nicht mehr anders ging. Auch die Debatte um Waffenlieferungen drehte sich über Ostern weitgehend im Kreis – trotz der Freigabe einer weiteren guten Milliarde Euro Hilfe für die Ukraine.
Ein gewichtiger Teil der Koalition will in dieser Form offensichtlich nicht weitermachen. "Es braucht deutlich mehr Führung", kritisierte Grünen-Politiker Anton Hofreiter unumwunden nach einer Reise mit FDP- und SPD-Kollegen nach Kiew und griff Scholz bei "RTL Direkt" sogar direkt an: "Das Problem ist im Kanzleramt." Sätze, die normalerweise eine Koalitionskrise perfekt machen. Doch Scholz schweigt auch dazu. Stattdessen zeigte sein Vize Robert Habeck (Grüne) jene Führungsqualität, die sich viele vom Kanzler wünschen. Er fing seinen Parteikollegen insofern ein, indem er mit einigem Recht Zusammenhalt einforderte – und sich damit auch vor Scholz stellte: "In Zeiten wie diesen ist es extrem wichtig, dass Deutschland sich nicht auseinanderdividieren lässt." In der Sache der Waffenlieferungen an die Ukraine aber liegen die beiden Grünen nicht so weit auseinander. Und ihre Parteifreundin, Außenministerin Annalena Baerbock, ist in ihrer Forderung, der Ukraine schwere Waffen zur Verfügung zu stellen, sogar glaskar.
Diese Frauen und Männer regieren Deutschland

Koalition: Habeck und Baerbock die starken Figuren
Baerbock und Habeck sind im Moment die starken Figuren im Kabinett – und dementsprechend in den einschlägigen Rankings die beiden "beliebtesten Politiker". Vor Scholz. Die Außenministerin musste sich unter schwierigsten Umständen zunächst in ihr neues Amt einfinden, bewegt sich aber immer sicherer auf dem internationalen Parkett – und hält das Ansehen des Landes hoch. Ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Kubela jedenfalls lobte die Ministerin unlängst, von ihm werde man nichts Schlechtes über sie hören, sei man mit anderen deutschen Regierungsmitgliedern auch noch so unzufrieden.
Habeck besticht derweil mit öffentlichen Erläuterungen, die dem Kanzler gut zu Gesicht stünden. Zum Beispiel, dass der Gang nach Katar durchaus "bitter" gewesen sei, aber nötig, um sich von russischen Gaslieferungen frei zu machen. Dass die deutsche Delegation aber – anders als ein Agentur-Foto suggeriere, das einen tiefen Diener Habecks vor dem Emir zeigt – durchaus selbstbewusst aufgetreten sei, auch Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte gestellt habe. Dass ein sofortiges Gasembargo die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft so hart treffen würde, dass es kaum durchgehalten werden könne. Und dass gar die Ukraine darunter leiden könnte, unter anderem weil das Land mit Beginn des Krieges an das europäische Stromnetz angeschlossen worden sei und ausbleibendes Gas diese Versorgung mit Strom unterbrechen könnte.

"Großes Bedürfnis, ernst genommen zu werden"
"Ich denke, dass darin sicherlich (...) ein Grund für Habecks Erfolg und seine Beliebtheit liegt: dass er seine eigene Zerrissenheit nicht überspielt, sondern demonstrativ ausstellt", urteilte der Soziologe Julian Müller in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Anders als beim Wirtschafts- und Klimaminister sehe es bei Baerbock aus. Sie inszeniere sich durchaus als Machtpolitikerin, so Müller. "Die Kriegssituation erlaubt Baerbock vielleicht sogar ein entschlossenes, bisweilen sogar undiplomatisches Auftreten, das unter anderen Bedingungen nicht möglich wäre (...). Auch darin dürfte ein Grund für ihren Zuspruch liegen."
Die klare Haltung der beiden komme nicht nur bei der eigenen Klientel gut an. "Es gibt über das grüne Milieu hinaus ein großes Bedürfnis, ernst genommen zu werden", so Müller weiter. Womöglich habe sich bei vielen Politiker:innen zu sehr festgesetzt, dass man den Wähler:innen unangenehme Wahrheiten lieber nicht zumuten solle. "In diesen Wochen zeigt sich aber, dass das Ansprechen von sehr konkreten Risiken keineswegs schlecht aufgenommen wird."
Zaudern nicht nur in Kriegsfragen
Eine Erkenntnis, der Olaf Scholz offenkundig (noch) nicht folgen mag. Er verhalte sich wie ein Hinterbänkler, wurde dem Kanzler schon vor dem Beginn des Krieges einmal bescheinigt. Dabei geht es nicht darum, dass Scholz sich antreiben und Deutschland blindlings zur einer Kriegsbeteiligung treiben sollte. Das allzu laute Schweigen des Kanzlers gibt vielmehr den vielfältigen Debatten, Spekulationen und Vorwürfen erst den Raum, den sie nun einnehmen. Und die neben dem Kanzler selbst auch die Koalition nicht gut aussehen lassen.
Man denke nur an die Weigerung, eine Regierungsvorlage zur Impfpflicht vorzulegen, deren Einführung prompt scheiterte. Bei der Lockerung der Corona-Maßnahmen ließ Scholz seinen Parteifreund und Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Ringen mit Koalitionspartner FDP unlängst sichtbar im Regen stehen. Und die zögerliche Haltung zu Nord Stream 2 ("kein politisches Projekt"), zu Waffenlieferungen und (zunächst) zu einer klaren Abgrenzung gegenüber Russland hielt die Erinnerung an die russlandfreundliche Politik der Sozialdemokraten wach, die sich im Nachhinein als Irrweg herausgestellt hat. Womöglich hatte Scholz dadurch sogar seinen Anteil daran, dass der ukrainische Präsident Selenskyj Bundespräsident Steinmeier, einen Sozialdemokraten und Co-Architekten des Minsker Abkommens zur Krim- und Donbass-Annexion, zur unerwünschten Person erklärte. Seinen Anteil am schlechteren Standing unter den EU-Partnern hat er auf jeden Fall. "Wir verlieren gerade massiv Ansehen bei all' unseren Nachbarn", so Anton Hofreiter, der auch Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag ist.
"Wer Führung bestellt ..."
"Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch." Dieser Satz aus dem Wahlkampf klebt an Olaf Scholz wie eine Klette. Zu einer guten Führung gehört in diesen Zeiten auch eine gute Kommunikation – mit politischen Partnern und Gegnern ebenso wie mit der Bevölkerung. Dass er dazu in der Lage und Willens ist, daran wachsen die Zweifel. Scholz tut das, was er bisher stets getan hat: Er schweigt dazu.
Verwendete Quellen: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ); ZDF ("Markus Lanz"); RTL direkt; RBB24; Nachrichtenagenturen DPA und AFP