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Eskalation im Nahen Osten Proteste gegen Israel: Antisemitismus hat in Deutschland heute unterschiedliche Facetten

Ein Person hält bei einer Kundgebung ein Plakat mit der Aufschrift "Gegen Antisemitismus" in die Höhe
Eine Person hält bei einer Antisemitismus-Kundgebung ein Plakat mit der Aufschrift "Gegen Antisemitismus" in die Höhe
© Christophe Gateau / DPA
Wie schon beim Gaza-Krieg 2014 kommt es bei der aktuellen Eskalation im Nahen Osten zu Kundgebungen und Protesten in Deutschland. Wer sind die Leute, die da demonstrieren? Hamas-Anhänger sind jedenfalls nur eine kleine Minderheit.

Wer vor einer Synagoge israelische Flaggen verbrennt, begeht eine Straftat und handelt antisemitisch. Die neuerliche Eskalation des Nahostkonflikts hat auch in Deutschland Folgen. Für das kommende Wochenende werden mehrere Kundgebungen erwartet. Die Aufrufe zu diesen Demonstrationen stammen nach Angaben aus Sicherheitskreisen teilweise von Gruppierungen mit islamistischem Hintergrund, auch von linken und linksextremistischen Gruppen. Schwerpunkte sind Nordrhein-Westfalen und Berlin.

"Gegen Kundgebungen an sich ist nichts einzuwenden", sagt der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. Die Organisatoren sollten die Teilnehmer aber aufrufen, keine Straftaten zu begehen, dazu zähle neben dem Verbrennen der Flagge auch das Rufen judenfeindlicher Parolen. Wenn so etwas passiere, sollte die Polizei, wo immer dies in Anbetracht der Lage möglich sei, einschreiten. 

Antisemitismus in Deutschland ist heute vielschichtig

Während des Gaza-Krieges 2014 haben sich an Kundgebungen in Deutschland in der Spitze bis zu 15.000 Menschen beteiligt. Allerdings gab es damals keine Corona-Pandemie. Und die Zahl der Zuwanderer aus der Nahost-Region war geringer als heute, wo viele Geflüchtete aus Syrien in Deutschland leben. Mehr als 2100 Palästinenser und mehr als 70 Israelis waren während des 50-tägigen Krieges damals nach Angaben beider Seiten getötet worden.

Der Antisemitismus in Deutschland ist heute vielschichtig. Da ist der mit Rassismus getränkte klassische europäische Antisemitismus mit Verschwörungsmythen, Lügen, böswilligen Zuschreibungen und Stereotypen. Dieses Phänomen, das im 20. Jahrhundert unter den Nationalsozialisten in einer extremen Form zur Staatsideologie erklärt wurde und im Holocaust mündete, findet sich heute noch bei Neonazis. Außerdem sind durch Überlieferung und Übersetzung Teile dieser Verschwörungserzählungen im vergangenen Jahrhundert auch in der arabischen Welt, wo die Gründung des jüdischen Staates Israel 1948 mehrheitlich als Katastrophe ("Al-Nakba") erlebt wurde, auf fruchtbaren Boden gefallen. 

AfD nutzt Israel-Unterstützung für Islamkritik

Daneben gibt es in Deutschland das, was der Politologe Hajo Funke in seinem aktuellen Buch "Black Lives Matter in Deutschland" als "Erinnerungsabwehr" beschreibt: der Wunsch, einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus an den Juden zu ziehen. In diesem Zusammenhang waren in den vergangenen Jahren auch Politiker der AfD in die Kritik geraten – darunter der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, der die Zeit der Nazi-Herrschaft als "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte bezeichnete. Später räumte er zwar ein, der Begriff "Vogelschiss" könne falsch gedeutet werden und sei daher "politisch unklug". Der Abgeordnete Marc Jongen forderte jedoch erst vor wenigen Wochen, man müsse "weg von der Fixierung auf negative Aspekte" der deutschen Vergangenheit.

Anti-israelische oder antisemitische Äußerungen von Zuwanderern aus Nahost werden von der Bundesregierung scharf verurteilt. Auch von der AfD, die grundsätzlich hinter der Politik der israelischen Regierung unter dem rechtskonservativen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu steht und die dafür eintritt, die Zahlungen an das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge einzustellen. "All das ist Folge einer katastrophalen Einwanderungspolitik, die nicht erst seit 2015 Konflikte in unser Land importiert, die nicht unsere sind", kommentiert Parteichef Jörg Meuthen am Freitag die antisemitischen Schlachtrufe bei der nicht-angemeldeten Kundgebung in Gelsenkirchen.

Felix Klein weist allerdings darauf hin, "dass die israelische Botschaft jegliche Kontakte zur AfD ablehnt". Er sagt, Unterstützung für Israel müsse auch "glaubwürdig" sein "und das Völkerrecht ist dabei auch zu beachten". Der FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser kritisiert: "Kämpfer gegen Antisemitismus sind diese Leute immer nur dann, wenn man ihn als Legitimation zur pauschalen Diffamierung von Muslimen nutzen kann. Parallel werden antisemitistische Umtriebe in der AfD einfach geduldet."

Großteil antisemitischer Straftaten als rechtsmotiviert eingestuft

Die Zahl der antisemitischen Straftaten war 2020 laut Polizeistatistik um 15,7 Prozent auf 2351 Straftaten angestiegen. Davon wurden 94,6 Prozent als rechtsmotiviert eingestuft.

Bei Kundgebungen, die in Zusammenhang mit der aktuellen Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt stehen, sind Neonazis und andere Rechtsextremisten aber nach Beobachtungen der Sicherheitsbehörden nicht präsent. Das überrascht kaum, schließlich hegen diese Gruppierungen weder für Israel noch für die Palästinenser Sympathien.

Vielmehr finden sich unter den Organisatoren und Besuchern dieser Kundgebungen, bei denen es teilweise zu Sachbeschädigung und antisemitischen Sprechchören kam, Anhänger der islamistischen Hamas-Bewegung, die den Gazastreifen kontrolliert. Unter dem Namen "Hamas" taucht die Bewegung in Deutschland zwar nicht auf. Der Verfassungsschutz sieht in dem Verein Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland jedoch einen Hamas-nahen Verein. Auf die Straße gingen nach Einschätzung der Behörden aber auch Palästinenser, die nicht-religiös geprägten Gruppierungen angehören, sowie Linke und durch die Berichterstattung über den Konflikt "emotionalisierte junge Menschen" arabischer Herkunft. 

"Brauchen 360-Grad-Blick bei Bekämpfung von Antisemitismus"

Nicht immer ist es einfach, die Grenze zu ziehen zwischen Kritik am Handeln staatlicher Akteure in Israel und antisemitischen Einstellungen. "Eine harsche Kritik an Israel muss nicht immer mit Antisemitismus einhergehen, tut dies aber häufig doch", heißt es im Bericht eines Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus von 2017. Von "Israelbezogenem Antisemitismus" müsse man immer dann sprechen, wenn solche Kritik "mit antisemitischen Stereotypen aufgeladen ist, Vergleiche zum Nationalsozialismus herstellt, in denen sich die für den Antisemitismus so typische Umkehr von Tätern und Opfern spiegelt und das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird".

Strasser sagt: "Wir brauchen einen 360-Grad-Blick bei der Bekämpfung von Antisemitismus in Deutschland – egal ob er rechtsextrem, linksextrem und religiös motiviert ist oder ob er als sogenannte 'Israelkritik' daher kommt." Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sagt in einem Grußwort beim FDP-Parteitag: "Selbst wenn jemand die israelische Regierungspolitik kritisch sieht oder für gänzlich falsch hält, rechtfertigt das in keiner Weise einen Dauer-Raketenbeschuss auf die israelische Zivilbevölkerung."

rw / Anne-Beatrice Clasmann DPA

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