Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.
(aus "1984" von George Orwell)
Eigentlich ist Rainer Brüderle derzeit Bundeswirtschaftsminister. Mit seinem Auftritt beim Bundesverband der Deutschen Industrie empfahl sich Brüderle jetzt für ein ganz anderes Amt. Für einen lichten Moment war er in der vergangenen Woche aus der Rolle des Politikers herausgeschlüpft und hatte das gesagt, was ohnehin die große Mehrheit der Bürger denkt: dass nämlich das Moratorium für die Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke nur ein wahltaktisches Manöver ist.
Damit hat sich der fröhliche Pfälzer für das Amt des Wahrheitsministers empfohlen. Der Begriff stammt aus George Orwells Roman "1984". Dort ist dieser Begriff negativ besetzt, das Wahrheitsministerium ist hier mit der permanenten Manipulation von Wahrheit beschäftigt. Genau das unterstellen auch viele Bürger den deutschen Politikern. Insofern hätte ein Minister, der schonungslos die Wahrheit ausspricht, heute fast schon ein Alleinstellungsmerkmal.
"Legitimes Theater"
Vor neun Jahren gab es einen ähnlichen Fall, wo ein Politikermund Wahrheit kundtat: Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) gab während einer Kulturveranstaltung zu, dass die Entrüstung der Unionsvertreter im Bundesrat über das Abstimmungsverhalten der SPD nur gespielt war: "Die Empörung hatten wir verabredet", sagte Müller damals. "Das war Theater, aber legitimes Theater."
Solche Offenherzigkeit freut den Wähler, denn sie gewährt einen Blick hinter die Kulissen des gut geölten Politikbetriebs. Und so müssen die wahren Worte den sie äußernden Politikern nicht unbedingt schaden. Auch Kurt Beck hat es gut überstanden, als er 2006 einem Arbeitslosen riet: "Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job." Heikler wurde es für ihn allerdings, als er 2008 einem kleinen Kreis von Journalisten in Hamburg zuflüsterte, dass die SPD sehr wohl auch mit der Linken koalieren könne. Das enorme negative Echo hatte der Genossenchef damals ganz offensichtlich weder erwartet noch bedacht. Immerhin: Der Vollbartträger wird am Sonntag voraussichtlich erneut als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident bestätigt.
Bush hielt Wort
Selbst dem US-Präsidenten George W. Bush konnte man es nicht wirklich übel nehmen, als er im Juni 2001 - während die Kameras versehentlich noch liefen - über seinen ersten Wahlsieg sagte: "Es ist unglaublich, dass ich gewonnen habe. Ich bin angetreten gegen Frieden, gegen Wohlstand und gegen die Verfassung." Immerhin hat er dann ja auch Wort gehalten!

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Weniger gut kamen hingegen die Ausrutscher eines anderen US-Präsidenten an: Bei einer Mikrofonprobe witzelte Ronald Reagan 1984: "Meine lieben Landsleute, ich freue mich Ihnen mitzuteilen, dass ich heute ein Gesetz unterzeichnet habe, dass Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit dem Bombardement in fünf Minuten." Das fanden weder die Sowjets noch Amerikas westliche Verbündete sonderlich komisch. Immerhin ging Reagan später als der Präsident in die Geschichte ein, der den Kalten Krieg gewannt - und bekam somit nachträglich Absolution.
Direkt abgestraft für seine Geschwätzigkeit wurde dagegen der Britische Premierminister Gordon Brown. Er beleidigte eine Wählerin, die er kurz vorher getroffen hatte, mit den Worten: "Das war eine Katastrophe. (...) Sie ist eine verlogene Frau, die sagt, sie sei schon immer Labour-Wählerin gewesen. Lächerlich." Blöd nur, dass er noch sein Fernsehmikrofon angesteckt hatte - so erfuhr bald das ganze Land, wie er über seine Wähler denkt. Wenige Wochen später war Brown nicht mehr Premier.
An diesem Beispiel sieht man: Es ist nicht immer von Vorteil, wenn Politiker die Wahrheit sprechen. Gerade in der deutschen Geschichte hat es ein Politiker zu großer Beliebtheit gebracht, der damit offen kokettierte, es mit der Wahrheit nicht ganz genau zu nehmen. Bundeskanzler Konrad Adenauer war bekannt für seinen Ausspruch: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern". An seinem Wirtschaftsminister hatte er vor allem dieses auszusetzen: "Der Herr Erhard glaubt ja sogar, was er sagt." Gut möglich, dass Adenauer für die Wahrheitsliebe des aktuellen Wirtschafsministers ähnlich wenig übrig gehabt hätte.