Die CSU-Vorstandssitzung dauert schon fast acht Stunden, als Horst Seehofer die Bombe platzen lässt. Eigentlich rechnet jeder damit, dass der Bundesinnenminister Kanzlerin Angela Merkel (CDU) herausfordert, dass er ernst macht und im Alleingang Zurückweisungen bestimmter Flüchtlinge an den Grenzen anordnet. Doch dann kündigt Seehofer völlig überraschend an, seine beiden Ämter aufgeben zu wollen - Parteivorsitz und Ministeramt in Berlin.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt reagiert am schnellsten, erhebt sofort vehement Einspruch. "Das ist eine Entscheidung, die ich so nicht akzeptieren kann", sagt er nach Teilnehmerangaben - und bekommt lang anhaltenden Applaus. Letztlich habe die Uneinsichtigkeit der Kanzlerin die CSU in die jetzige Situation gebracht, schimpft Dobrindt noch.

Folge: Die Sitzung wird unterbrochen, die engste Parteispitze zieht sich mit Seehofer zu Beratungen zurück. Mit dabei unter anderem Dobrindt, Seehofers Vizes, Ministerpräsident Markus Söder, aber auch der Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber. Der engste Zirkel wolle Seehofer zum Weitermachen überreden, sickert sehr schnell nach draußen.
Tatsächlich hatte Seehofer in seiner Zusammenfassung der fast achtstündigen Beratungen drei Optionen aufgezeigt: Entweder die CSU beuge sich dem Kurs von Merkel in der Asylpolitik. Oder er ordne als Innenminister die Zurückweisung bestimmter Migranten an der deutschen Grenze an - mit allen damit verbundenen Gefahren für den Fortbestand der Koalition. Das aber will Seehofer offenbar nicht, er will nicht der sein, der für das mögliche Aus von Fraktionsgemeinschaft, Koalition und Bundesregierung verantwortlich gemacht wird. Deshalb präsentiert er seine dritte Option: Er trete als Parteichef und Minister zurück - und das habe er auch vor zu tun. Er werde am kommenden Mittwoch 69 Jahre alt, und er habe viel erreicht.
CSU-Spitze hielt Seehofer schon mal von Rücktritt ab
Dobrindt & Co. setzen aber offenbar darauf, dass Seehofers Entscheidung vielleicht noch nicht ganz endgültig ist. Dass er vielleicht doch noch weitermacht. Wie lange die Beratungen im kleinen Kreis dauern würden, war bis kurz nach Mitternacht völlig unklar.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Seehofer von der engsten Parteispitze von einem sofortigen Rücktritt abgehalten würde: Nach dem Bundestagswahl-Fiasko war er schon bereit, seine Ämter als Parteichef und bayerischer Ministerpräsident zur Verfügung zu stellen. Die engste Parteispitze hielt ihn aber davon ab. Am Ende gab Seehofer nur das Ministerpräsidenten-Amt an Markus Söder ab, blieb Parteichef und wurde im März 2018 neuer Bundesinnenminister.
Doch diesmal ist es möglicherweise ernster. Das war schon am Mittag erkennbar, als Seehofer in der Parteizentrale ankam. Kein Wort sagt er da, nichts, keinen Ton. Nicht einmal ein "Grüß Gott" kommt ihm über die Lippen. Das gab es so noch nie. Wortlos geht er mit versteinerter Miene an den Kameras und Mikrofonen vorbei, hinein in den Aufzug, fährt nach oben in die Chefetage der Parteizentrale.
Es sind die entscheidenden Stunden im erbitterten Asylstreit von CDU und CSU. Da ist die große Frage noch: Wird es am Ende eine wenigstens gesichtswahrende Lösung für beide Seiten geben? Oder läuft es - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - doch auf den Bruch der Koalition, der Unions-Fraktionsgemeinschaft und der Bundesregierung hinaus?
Schon kurz nach Beginn der CSU-Sitzung wird deutlich: Es gibt keine Zeichen einer Entspannung, keine Kompromisssignale. Im Gegenteil: Seehofer macht unmissverständlich deutlich, was er von Angela Merkels Brüsseler Verhandlungsergebnissen hält: nichts. In einem etwas mehr als einstündigen Vortrag zerpflückt er alle wichtigen Kerninhalte der EU-Einigung, mit denen die Kanzlerin nach eigenen Worten selbst immerhin "einigermaßen" zufrieden ist. Bei Seehofer ist von Zufriedenheit nichts zu erkennen. Die Gipfelergebnisse seien kein "wirkungsgleiches Surrogat" (kein gleichwertiger Ersatz) zu Zurückweisungen an der Grenze. Sein Treffen mit Merkel am Vorabend? Ein "wirkungsloses Gespräch", berichtet er.
Gleiches gelte für den Vorschlag Merkels, Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, in den geplanten Ankerzentren unterzubringen. Deutschland würde damit die Zuständigkeit vom eigentlich zuständigen EU-Land übernehmen. "Es geht hier auch um die Glaubwürdigkeit eines Vorsitzenden", sagt der CSU-Chef nach Angaben von Teilnehmern. Und dann, nach fast acht Stunden Debatte mit mehr als 50 Wortmeldungen, kündigt er eben an, welche Konsequenz er zu ziehen willens ist.
CDU-Spitze blickt ungläubig nach München
In der CDU-Spitze erleben sie das Hin und Her bei der kleinen Schwester fast mit ungläubigem Staunen. Selbst wenn es bei Seehofer einen Rückzug vom Rückzug geben sollte, könne dies für Merkel Steine statt Brot bedeuten, heißt es. Zumindest dann, wenn Seehofer mit einem noch für möglich gehaltenen Entschluss weiterzumachen, die Entscheidung verbinde, von diesem Montag an Migranten an der deutschen Grenze zurückweisen zu lassen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden. Im CDU-Vorstand gab es für diesen Fall die Einschätzung, dass Merkel den Innenminister dann entlassen werde.
Ansonsten sind Merkel und die Mitglieder der CDU-Spitze mehr oder weniger zum Abwarten verurteilt - Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer verliest unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Seehofers Rückzugsangebot einen länglichen Beschluss, in dem sich der CDU-Vorstand nochmals hinter den europäischen Kurs der Vorsitzenden stellt - bei einer Enthaltung. "Erstmal abwarten, was jetzt wirklich aus München kommt", ist in der CDU-Zentrale die allgemeine Stimmung.
Sollte Seehofer bei seinem Rücktritt bleiben, könnte vom Asylstreit zwischen Kanzlerin und Bundesinnenminister ein Bild von Samstagabend in Erinnerung bleiben: Da war Seehofer überraschend nach Berlin gefahren, traf sich mit Merkel im Kanzleramt. Und dann dieses Bild: Merkel läuft mit einem Weinglas in der Hand einige Meter vor Seehofer über einen Balkon ihrer Regierungszentrale, auch er ein Glas in der Hand. Die Mienen versteinert. Harmonie und Eintracht sehen anders aus. Schon bei diesen Fotos befürchteten nicht wenige für Sonntagabend das Schlimmste - und zwar in der CDU wie in der CSU.
Was aber, wenn Seehofer doch weitermacht? Sein Vorgehen am Sonntagabend zeigt jedenfalls: Er hat nichts zu verlieren. Er will sich nicht verbiegen, stellt seine eigene Zukunft hintan, wenn es um die Interessen der CSU im Machtkampf mit Merkel geht. Für die CSU steht viel auf dem Spiel: Am 14. Oktober ist Landtagswahl. Und das "Endspiel um die Glaubwürdigkeit", wie mehrere CSU-Spitzenpolitiker den Kern des Streits beschrieben, wollen weder Seehofer noch die CSU verlieren.