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Skandalbehörde Warum der Verfassungsschutz abgeschafft werden muss

Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln
Das Bundesamt für Verfassungschutz in Köln wurde im November 1950 gegründet und fungiert als Geheimdienst im Inneren
© Oliver Berg / DPA
Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock fordert die Aufspaltung des Verfassungsschutzes. Unserer Autorin ist das zu wenig. Die meint: Die Behörde gehört abgeschafft. Weil sie seit 70 Jahren nur Skandale produziert und zu einem Staat im Staate geworden ist.

Das musste ja so kommen. Nach dem Mord an Walter Lübcke will Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) jetzt neue Technik, mehr Personal und Befugnisse für seine Verfassungsschutzleute. Damit der Inlandsgeheimdienst Terroristen besser aufspüren und Anschläge möglichst verhindern kann. Es ist die neueste Episode in der Endlosserie mit dem Titel: "Das Versagen des Verfassungsschutzes". Es ist das ironische Standard-Finale jeder Episode. Kurz vor der dem Abspann und der Titelmelodie werden die Versager vom Amt mit einem Geschenk belohnt: neue Kollegen, neues Spielzeug, neue Regeln. Bis zum nächsten Mal.

Vor beinahe 70 Jahren, am 7. November 1950, wurde das Bundesamt für Verfassungsschutz gegründet, zum "Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder." Zeit Bilanz zu ziehen: Hat sich der Geheimdienst des Inneren bewährt? Ob, und wie häufig die Verfassungsschützer die Menschen vor Anschlägen bewahrt haben, bleibt ein Geheimnis des Geheimdienstes. Die Sicherheitsbehörden hätten durch die Arbeit ihrer Behörde viele Anschlagsplanungen verhindern können. Das behaupten Verfassungspräsidenten gerne.

Um bei Nachfragen nicht völlig ohne Arbeitsnachweis dazustehen, nennen die geheimen Schützer häufig einen Fall aus dem Jahr 2007. Damals wurden die Terroristen der so genannten "Sauerland-Gruppe" festgenommen, bevor sie Sprengstoffattentate auf US-Einrichtungen begehen konnten. Ein "spektakulärer Fahndungserfolg", der vermutlich Menschenleben gerettet hat. Doch ausgerechnet der Vorzeigefall ist gar kein Ergebnis der Arbeit deutscher Verfassungsschützer. Den Tipp hatte das Amt nämlich von den Kollegen des CIA bekommen. Dem amerikanischen Abhörgeheimdienst NSA war zuvor der rege Mailverkehr zwischen Deutschland und Pakistan aufgefallen.

Mutmaßlichen Lübcke-Mörder aus dem Blickfeld verloren

Stephan E., den mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke, kannte der Verfassungsschutz. Immerhin. Sein Name steht in den geheimen Akten für den NSU-Untersuchungsausschuss. Entdeckt hat den Namen die Fraktion der Linken im hessischen Landtag. Der gewaltbereite Neonazi schien den Politikern, die die Akten aufmerksam gelesen hatten, verdächtig. Um mehr über Stephan E. zu erfahren, luden sie 2015 die Fachleute ein: den Verfassungsschutz. Die zuständige Sachbearbeiterin wusste allerdings nichts zu sagen. "Ich war enttäuscht, wie wenig sie wusste. Da war gar nichts", erinnert sich der hessische Landtagsabgeordnete Hermann Schaus. Die professionellen Beobachter hatten den gefährlichen Rechtsterroristen, so muss man es wohl sagen, aus dem Blick verloren. Der hatte geheiratet, zwei Kinder bekommen und war scheinbar nicht mehr in der rechten Szene aktiv. Die typischen Merkmale eines Schläfers. Keine drei Jahre, nachdem den Linken sein Name verdächtig vorgekommen war, erschoss Stephan E. mutmaßlich Walter Lübcke. Ein erstes Geständnis hat er inzwischen zurückgezogen.

Natürlich sind auch Verfassungsschützer keine Hellseher. Trotzdem stellt sich die Frage, warum die Linksfraktion ganz offenbar den richtigen Riecher hatte, der Verfassungsschutz aber nicht.

Ähnlich war es beim NSU. Es gibt ein Papier aus dem Jahr 2004. Darin analysierte der Verfassungsschutz die "Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten". Auch der "Rohrbombenfund in Jena" wurde erwähnt. Dort horteten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Sprengstoff und Nazidevotionalien in einer Garage. Während Staatsschützer die Garage durchsuchten, flohen die drei Freunde, tauchten ab in den rechten Untergrund. Sieben Jahre zogen die Rechtsterroristen durchs Land, ermordeten zehn Menschen. Als der Verfassungsschutz die Analyse 2004 vorlegte, hatten sie schon fünf Migranten umgebracht. Die Polizei vermutete den Serienkiller im Drogenmilieu. Der Verfassungsschutz war ahnungslos. Oder gab sich ahnungslos. Für beide Theorien gibt es Hinweise. In dem Papier des Verfassungsschutzes heißt es lapidar, das Verfahren gegen die drei Untergetauchten sei zwischenzeitlich eingestellt worden.

Verfassungsschutz trug zur Aufklärung der NSU-Affäre exakt nichts bei

Dabei waren die Verfassungsschützer nahe dran gewesen. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe waren beim "Thüringer Heimatschutz" (THS) aktiv. Von etwa 150 Aktivisten des THS waren 43 V-Leute des Verfassungsschutzes - also fast ein Drittel. Der Inlandsgeheimdienst hatte den THS weitgehend unterwandert. Die V-Leute halfen mit, die Strukturen der militanten rechten Szene aufzubauen und zu festigen. Für das rechtlich fragwürdige und politisch hochgefährliche Vorgehen gab es nur eine Begründung: Schlimmeres zu verhindern. Doch das Schlimmste, zehn rassistische Morde, wurde nicht verhindert. Die Beamten bekamen keinen Tipp von ihrer V-Leute-Truppe, wo sich das Trio aufhielt. Der gesamte Verfassungsschutz trug zur Aufklärung der Verbrechen exakt nichts bei. Außer Aktenschreddern.

Chef des THS war Tino Brandt. Selbst der Führer war ein Spitzel des Verfassungsschutzes. Rund 200.000 Euro soll allein Brandt als V-Mann "Otto" über die Jahre für seine verfassungsfeindlichen Dienste eingestrichen haben. Das Geld, so sagt Brandt, habe er in den Aufbau der rechten Szene gesteckt. Nach seiner Darstellung hat der Inlandsgeheimdienst eine Neonazi-Szene finanziert, aus der Rechtsterroristen hervorgingen. "Staatliche Terrorhelfer", nannte der Anwalt Mehmet Daimagüler den Verfassungsschutz deshalb in der "Frankfurter Rundschau". Nachdem sich der NSU 2011 selbst enttarnt hatte, wurde der Verfassungsschutz für sein Versagen auf die traditionelle Weise belohnt: Technik, Personal, Befugnisse.

V-Mann Frenz: Mit Spitzelgeld die NPD in Nordrhein-Westfalen aufgebaut

Nicht nur der NSU, auch die NPD profitierte von der Großzügigkeit des Verfassungsschutzes, wenn man Wolfgang Frenz glauben darf. Er ist der V-Mann, an dem 2003 das NPD-Verbot gescheitert ist. Frenz sollte als Kronzeuge im NPD-Verbotsverfahren auftreten. Bis aufflog, dass er für den Verfassungsschutz gespitzelt hatte. Das Verbotsverfahren war geplatzt. 36 Jahre lang hatte Frenz für den Inlandsgeheimdienst gespitzelt. Bis zu 500 Euro monatlich habe er vom Verfassungsschutz kassiert, sagte er 2011 in einem stern-Gespräch. Mit dem Geld habe er die NPD in Nordrhein-Westfalen aufgebaut. "Wenn sie so wollen, hat der Verfassungsschutz die Grundfinanzierung der NPD in NRW geleistet", sagte Frenz. Er habe den Verfassungsschützern nie irgendwelche Geheimnisse verraten, sondern nur "viel Papier" geliefert, spottete Frenz. Manuskripte für die NPD-Landeszeitschrift "Deutsche Zukunft". "Ich wusste ja: In drei Wochen werden sie ohnehin veröffentlicht." Auch Stephan E. war NPD-Mitglied. Bis die Partei ihn rausschmiss. Er hatte seine Mitgliedsbeiträge nicht gezahlt.

Dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts die NPD 2003 nicht verbieten konnten, war eine empfindliche Niederlage im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Der Grund war damals Wolfgang Frenz, der V-Mann. Mit seinem Spitzelgeld hat der Verfassungsschutz zuerst die NPD aufgebaut und dann ihr Verbot verhindert.

Mit großem Engagement Politiker der Linken ausgespäht

Um fair zu sein: Der Geheimdienst war zu jener Zeit nicht untätig. Die Beamten beobachten mit großem Engagement Politiker der Linken. 27 Bundestagsabgeordnete und 11 Landtagsabgeordnete wurden über Jahre ausgespäht, darunter die Vizepräsidentin des Bundestages, Petra Pau, die die Verfassungsschützer seit 1995 im Visier hatten. Fast 400.000 Euro ließ sich der Verfassungsschutz die Bespitzelung der Linken pro Jahr kosten. Sieben Mitarbeiter waren dafür abgestellt. Bekannt wurde das im Jahr 2012. Ein Jahr nachdem sich der NSU enttarnt hatte.

Rolf Gössner gehörte auch zu begehrten Objekten des Verfassungsschutzes. Der Inlandsgeheimdienst beobachtete ihn 38 Jahre lang. Von 1970, als er noch Jurastudent in Freiburg war, bis 2008. Die Dauerbespitzelung sei rechtswidrig, urteilte das Verwaltungsgericht Köln im Jahr 2011. Das Oberlandesgericht sah das 2018 genauso. Die Richter hatten übrigens keinen Beleg dafür gefunden, dass Gössner ein Staatsfeind gewesen wäre. Inzwischen ist er übrigens stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof in Bremen.

Der Fisch stinkt ja bekanntlich vom Kopfe her. Ex-Präsident Georg Maaßen, der Liebling der AFD, steuerte die Behörde sechs Jahre lang auf einen strammen Rechtskurs, spielte die Hetzjagden in Chemnitz herunter, unterstellte der SPD linksradikale Tendenzen und musste schließlich im November 2018 gehen.

In Deutschland gibt es eine Trennung zwischen der Polizei und den Geheimdiensten. Sie steht im Grundgesetz. Die Polizei darf nicht im Geheimen operieren. Die Verfassungsschützer hingegen haben weitergehende Befugnisse, sie sollen anders ermitteln dürfen als die Polizei. In der Grauzone. Das Arbeiten im Grenzbereich macht aus der Geschichte des Verfassungsschutzes eine Geschichte voller Skandale. Stichwort: Celler Loch. Im Juli 1978 explodierte eine Bombe an der Gefängnismauer der JVA Celle. Die Behörden schoben den RAF-Terroristen den Anschlag in die Schuhe. Acht Jahre später enthüllte die "Hannoversche Allgemeine Zeitung", wer wirklich hinter dem Sprengstoffanschlag steckte: Der Verfassungsschutz. Der Name der Aktion: "Feuerzauber".

Der Mord an Ulrich Schmücker und inwieweit der Verfassungsschutz darin verstrickt war, wird vermutlich nie geklärt. Der Student wurde im Juli 1974 im Berliner Grunewald erschossen. Er spitzelte für den Verfassungsschutz die linke Szene aus. Die Mordwaffe tauchte im Mai 1989 im Tresor des Berliner Verfassungsschutzes in der Clayallee wieder auf. 15 Jahre lang versuchte das Landgericht Berlin das Verbrechen aufzuklären. Die Richter scheiterten. Weil Beweise manipuliert worden waren. Von Verfassungsschützern und Staatsanwälten.

Verfassungsschutz hat sich als unkontrollierbar erwiesen

Warum muss man diese ollen Kamellen noch mal hervorkramen? Weil sie zeigen, wozu der Verfassungsschutz in der Lage ist. Wie Beamte vorgehen, die nicht von Polizeigesetzen und Polizeiapparaten kontrolliert werden.

Trotz der zahlreichen Skandale sind die Aufgaben, die dem Verfassungsschutz übertragen wurden, von großer Bedeutung für die innere Sicherheit. Sie müssen dringend und mit großer Entschlossenheit erledigt werden. Nur von wem? In unserem Rechtsstaat existiert eine Institution, die dafür perfekt geeignet ist: die Polizei. Die Staatsschutzabteilungen der Polizei sind heute schon die entscheidende Kraft im Kampf gegen den Terrorismus. Würden die Kräfte dort konzentriert, hätte das zwei entscheidende Vorteile: Erstens: Verfassungsschützer und Polizisten gehörten zu selben Mannschaft. Der Egoismus der Behörden wäre beendet und auch das permanente Arbeiten gegeneinander. Zweitens: Die Polizei muss sich an Recht und Gesetz halten. Dennoch sind die Gesetzeshüter nicht naiv. Natürlich setzen sie auch V-Leute ein und ermitteln im Verborgenen. Doch ihr Vorgehen lässt sich besser steuern und kontrollieren. Der Verfassungsschutz hingegen hat sich in seiner fast 70 jährigen Geschichte als unkontrollierbar erwiesen, egal, welche Partei gerade regierte. Eine gut gemeinte Idee wurde pervertiert und hat sich zu einem Staat im Staate entwickelt.

Der Verfassungsschutz gehört abgeschafft.  

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