Mitten im Wahlkampf ist Bayerns Vizeregierungschef und Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger wegen eines antisemitischen Flugblatts aus seiner Schulzeit unter Druck geraten. Aiwanger versicherte am Samstagabend, er habe das Papier "nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend". Es sei lediglich in seinem Rucksack gefunden worden. Wenig später erklärte Aiwangers Bruder, das Schriftstück verfasst zu haben. Der Fall löste bundesweit Empörung aus, nun bestellte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder Aiwanger zu einem Sonder-Koalitionsausschuss ein.
So kommentieren deutsche Medien den Fall Aiwanger:
"Weser Kurier": "Vermutlich wird sich nie aufklären lassen, was vor 35 Jahren bei Aiwangers zu Hause und am Gymnasium geschah. Aber mitten im Wahlkampf spielen die Details keine sonderlich große Rolle. Hubert Aiwanger hat seine jüngere und ältere Vergangenheit eingeholt und die seines Bruders noch dazu."
Hubert Aiwanger fische "immer wieder mal in braunen Gewässern"
"Südwest Presse": "Der Inhalt des Flugblattes oder der Flugblätter, die man vor dreieinhalb Jahrzehnten bei Hubert Aiwanger gefunden hat, ist an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten. Vergasungen in Auschwitz als Preis für von Aiwanger oder den Aiwangers festgestellten 'Vaterlandsverrat' – da wäre das Wort 'Scham' seitens eines stellvertretenden Ministerpräsidenten wohl mehr als angebracht. ... Menschen ändern sich nur selten grundlegend, aber ihre politischen Ansichten ändern sie durchaus. Aus Nazis wurden nach 1945 Demokraten, aus Linksradikalen und Kommunisten später auch.... Bei Aiwanger ist es allerdings so, dass er immer wieder mal in braunen Gewässern fischt. Andererseits ist Aiwanger in den vergangenen 35 Jahren weder als Antisemit noch als rechter Menschenverächter auffällig geworden. Das Flugblatt allein ist kein Rücktrittsgrund."
"Leipziger Volkszeitung": "Die Ereignisse um das antisemitische Flugblatt, das der bayerische Freie-Wähler-Spitzenpolitiker Hubert Aiwanger nach eigener Aussage als Schüler eben nicht verfasst hat, zeigt: Der bayerische Landtagswahlkampf droht schmutzig zu werden. Und gefährlich. Man wünscht sich in der überhitzten Situation eine Art Anstandskodex der demokratischen Parteien: dass es um eine Landtagswahl geht, dass die Bewerber um die besten Konzepte für den Freistaat ringen. Und dass Hetze und Lügen draußen bleiben."
"Der neue Tag": "Für Markus Söder wird das Problem Aiwanger immer größer, hat er sich doch an seinen Stellvertreter als Ministerpräsident festgekettet. Eine Fortsetzung der Koalition nach der Landtagswahl am 8. Oktober scheint ausgemachte Sache. Für die Anhänger des Lautsprechers aus Niederbayern sind die Schlagzeilen ohnehin eher eine Hetzjagd der verachteten 'Lügenpresse', eine 'Schmutzkampagne'. Von ihnen hat Aiwanger kaum Gegenwind zu erwarten. Eher im Gegenteil: Die Opferrolle könnte dem 'Hubsi' sogar ein paar Stimmen mehr bringen. Allerdings ist Markus Söder ein knallharter Machtmensch. Er wird dem Wirbel um Aiwanger nicht lange zuschauen. Und sowieso egal, wie es ausgeht: Im Schulranzen eines Elftklässlers lag ein Papier, dessen Inhalt so abscheulich ist, dass es weh tut. Das tiefe Wunden aufreißt. Ob es 35 Jahre her ist, oder gestern."
"Stuttgarter Zeitung": Wenn Aiwanger sagt, er sei damals wie heute keiner, der jemanden verpfeife, rückt er die Geschichte – bei aller betonten Abscheu – eben doch in die Nähe eines Dumme-Jungen-Streichs. Das macht es schwer erträglich, ihn sich als Amtsträger bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Dritten Reichs vorzustellen. Falls Aiwanger nachgewiesen werden sollte, dass er das Flugblatt verteilt hat oder in der Sache an irgendeiner Stelle die Unwahrheit gesagt hat, führt kein Weg an einem Rücktritt vorbei.
"Mitteldeutsche Zeitung": "Die Ereignisse um das antisemitische Flugblatt, das der bayerische Freie-Wähler-Spitzenpolitiker Hubert Aiwanger nach eigener Aussage als Schüler eben nicht verfasst hat, zeigt: Der Landtagswahlkampf droht schmutzig zu werden. Aiwanger steht in der Versuchung, sich als verfolgte Unschuld zu gerieren und noch härter als bisher schon zuzulangen, auch gegenüber 'den Medien'. Damit wäre er im AfD-Sound und könnte laut den Umfragen punkten. Im Freistaat ist schon jetzt eine Verrohung festzustellen. Eine Grünen-Großveranstaltung wurde nahezu gesprengt durch das Brüllen angereister Gegner. Und man erkennt genau, wie CSU-Regierungschef Markus Söder austariert, ob eine eher sachliche Kritik an der Ampel bei den Wählern ankommt oder aber ein aggressives Draufhauen."
"Es ist eklig. Es ist widerlich. Es ist menschenverachtend."
"Frankenpost": "Sechs Wochen vor der Landtagswahl in Bayern gibt es im bislang äußerst behäbig dahinplätschernden Wahlkampf nun doch ein Thema, vielleicht sogar das Thema. Es ist eklig. Es ist widerlich. Es ist menschenverachtend. Es ist antisemitisch. Und es gehört zweifelsfrei geklärt. So schnell wie möglich. Überdies bleibt alles auch ein Problem, ja eine schwere Belastung für Ministerpräsident Markus Söder. Warum? Weil er sich mit seiner CSU schon früh festlegte, die Koalition mit den Freien Wählern von Hubert Aiwanger, die seit 2018 besteht, nach der Wahl fortsetzen zu wollen. Alle Umfragen hatten bislang keinen Zweifel daran gelassen, dass dies möglich sein wird. Doch nun könnte sich die Positionierung gegen andere Partner als negativ erweisen."
"Nürnberger Nachrichten": "Zu erwarten ist jedenfalls eines: Aiwanger, dessen rechtskonservativ-nationales Umfeld nun deutlich sichtbarer wurde, kann sich nun eigentlich keine neuen Ausfälle von der Art des 'Demokratie-Zurückholens' mehr leisten. Er muss alles peinlichst vermeiden, was ihn in die rechte Ecke stellt, die ihm in seiner Jugend zumindest nicht fremd war."
"Nürnberger Zeitung": "Was die Affäre für die bayerische Landtagswahl bedeutet, ist noch unabsehbar. Bleibt es beim Sachstand vom Sonntag, könnte die misslungene mediale Attacke Aiwangers Position als „Kultfigur“ (so der Freie-Wähler-Politiker Fabian Mehring) noch steigern – mit der Folge eines kleinen Aufschlags auf das Wahlergebnis seiner Partei. Nur, wenn doch noch Unangenehmes ans Licht kommt und Aiwanger etwa der Lüge überführt werden sollte, wäre er nicht zu halten. Die Geschichte der politischen Affären lehrt, dass die Betroffenen ihre Lage erst durch falsches Verhalten im Nachhinein ausweglos machen. Dann würden im Freistaat die Karten völlig neu gemischt. Regierungschef Söder müsste womöglich von der festen Absicht, die 'Bayern-Koalition' mit den Freien Wählern fortzuführen, Abstand nehmen. Das kann ihm gar nicht recht sein."
"Münchener Merkur": Pünktlich zum Beginn der Briefwahl erlebt der lange träge dahin dümpelnde Bayern-Wahlkampf jetzt doch noch seinen Knalleffekt. Besser gesagt: eine Explosion, von der noch nicht absehbar ist, ob sie die Söder-Aiwanger-Koalition im Freistaat mit in die Luft sprengt. Die Vorwürfe sind so gravierend, dass die Freien Wähler es sich zu leicht machen, wenn sie das Bekanntwerden des Skandals als 'Schmutzkampagne' abtun und sich als Opfer gerieren. Selbst wenn es stimmen sollte, dass Hubert Aiwangers Bruder die Hetzschrift schrieb, war der Freie-Wähler-Chef an dessen Verbreitung beteiligt. Gewiss, er war damals noch Schüler. Doch von einem fast Volljährigen wäre doch eine Reife zu erwarten gewesen, die ihn davon abhält, mit Hitlerbärtchen an der Schule herumzustolzieren und widerwärtigste Ermordungsparolen zu verbreiten. Die Frage bleibt im Raum: Ist diesem Aiwanger zu trauen? Hat er sein menschenverachtendes Weltbild von früher wirklich überwunden?