Making-of heißt unser neues Format. Wir wollen Ihnen einen persönlichen Blick hinter die Kulissen ermöglichen, aus unserem journalistischen Alltag erzählen und von unseren Recherchen. Wir beginnen mit einer kleinen Serie, in der wir auf unsere Momente des Jahres 2023 zurückblicken.
Wenn ich dieses Jahr nochmal vor meinem inneren Auge vorbeiziehen lasse, denke ich manchmal an die Tickermeldungen. Mal ein kurzer Abriss seit dem Sommer: +++ 5. Juli: Karlsruhe stoppt Beratung des Heizungsgesetzes +++ 6. Juli: AfD erreicht mit 20 Prozent neuen Höchstwert +++ 6. August: Familienministerin Paus blockiert Steuerpläne von Finanzminister Lindner +++ 31. August: Zuspruch für Ampel auf neuem Tiefstand +++ 26. September: Grüne und FDP streiten um Migration +++ 8. Oktober: SPD-Klatsche bei der Hessen-Wahl +++ 20. Oktober: Bundeskanzler fordert "Abschiebungen im großen Stil" +++ 9. November: FDP-Mitgliederentscheid will Ampel beenden +++
Dann kam der Knall aus Karlsruhe – und damit der nächste Schock für eine Koalition, die praktisch seit ihrem Bestehen im Krisenmodus regiert. 15. November: Das Verfassungsgericht wirft die Haushaltspläne der Ampel über den Haufen. Rumms.
Ich und einige andere Journalisten saßen gerade beim Pressefrühstück von Katja Mast, als die Eilmeldung über die Nachrichtenticker schnellte. Die SPD-Fraktionsmanagerin lädt regelmäßig in den Marie-Juchacz-Saal im Bundestag, um über die aktuellen Plenarthemen zu informieren. Doch nicht nur Mast dürfte ab 10.06 Uhr, dem Moment des Knalls, mit den Gedanken woanders gewesen sein.
Welche Folgen wird das Urteil haben? Auf den Haushalt, der doch bald beschlossen werden sollte? Und für die ungleichen Koalitionspartner, die ihre Differenzen gern mit Geld lösten?
Obwohl ich erst seit Juni aus Berlin über den sogenannten Politikbetrieb berichte, habe ich schon einige Störungen im Betriebsablauf der Ampel-Koalition miterlebt. Aber dieser Mittwoch war anders. Hektischer. Dramatischer. Aufregender, jedenfalls als Journalist. Immerhin wurden die Haushaltstricks der Koalition – die die ambitionierten wie gegensätzlichen Ampel-Vorhaben finanziell ermöglicht haben – vom Verfassungsgericht grundsätzlich verworfen.
Sprechen Sie Berliner Blase?
Also versuchte ich Schritt zu halten mit den Ereignissen, die sich dauernd überholen sollten. Während SPD-Fraktionsmanagerin Mast tapfer die Plenarthemen referierte, griff ich zum Handy und verschickte ein paar SMS. Was ist da los? Viele Ampel-Politiker wussten darauf selbst keine Antwort, die Tragweite des Karlsruher Richterspruchs war zu diesem Zeitpunkt kaum abzusehen – wohl auch, weil viele nicht mit dem weitreichenden Urteil gerechnet hatten. Oder rechnen wollten.
Beim Simsen ist mir etwas aufgefallen: Je hektischer die Lage, desto kürzer die SMS-Nachrichten. Für viele Politiker sind sie das bevorzugte Mittel der Kommunikation. Es passt zu ihrem Rhythmus. Politiker bewegen sich in einem irren Tempo durch den Tag, getrieben von der Schnelligkeit der Ereignisse, Debatte und Nachrichtenlage. In anderen Worten: Für mehr als einen kurzen Text bleibt in der Regel keine Zeit. Gerade an solchen Chaos-Tagen, wo jede Minute zählt. Das Ergebnis ist eine eigene Sprache, die in der Berliner Blase gesprochen wird.
Man spricht im "HG" (Hintergrund), um diesen oder jenen Sachverhalt offener zu besprechen. Zitiert werden darf aus dieser Form des Austauschs nicht. Man fragt sich, was der "GS" (Generalsekretär) oder "PV" (Parteivorsitzende) sagen wird, sei es aus dem "WBH" (Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale) oder "KAH" (Konrad-Adenauer-Haus, das CDU-Pendant). Und wann wird wohl der "BK" (Bundeskanzler) eine "PK" (Pressekonferenz) geben? LG!
Zurück in den "BT", also Bundestag. Nach dem Pressefrühstück bei Katja Mast eilte ich ein paar Stockwerke tiefer zur Pressetribüne im Plenarsaal. Kanzler Olaf Scholz wurde zur Regierungsbefragung erwartet. Kurz vorher sollte eine Pressekonferenz im Kanzleramt stattfinden. Ich sah mir das gemeinsame Statement von Scholz, Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner um 12.45 Uhr im Livestream an. Pünktlich um 13 Uhr schlugen die Ampel-Spitzen unter der gläsernen Reichstagskuppel auf. Zwischen Kanzleramt und Bundestag liegen nur einige Hundert Meter. Dennoch ist es mir ein Rätsel, wie sie das geschafft haben.
Drunter und drüber den Linden
An diesem Tag musste alles schnell gehen. Auch Habeck und Lindner hackten fleißig in ihre Handys – Krisenkommunikation –, während Scholz vermutlich etwas widerwillig auf fast banal wirkende Fragen antwortete, nachdem seine Haushaltsführung für verfassungswidrig erklärt wurde. War schließlich eine Regierungsbefragung, jeder Abgeordnete kann zu jedem Thema Fragen stellen. Danach rauschten die allermeisten von der Regierungsbank aus dem Plenum. Auch ich wechselte rasch den Schauplatz und fuhr zurück in den vierten Stock des Bundestags.
Auf der sogenannten Fraktionsebene befinden sich die Besprechungsräume, in denen die Bundestagsfraktionen beraten (und an diesem Tag zu abendlichen Krisensitzungen einberufen wurden). Vor den Fraktionssälen befinden sich Pressewände im jeweiligen Partei-Design. Dort stellen sich die "FV" (Fraktionsvorsitzenden) vor die Mikrofone und Kameras, um ihre Sicht der Dinge – eine durchaus parteipolitisch gefärbte Deutung der Geschehnisse – an die breite Medienöffentlichkeit zu tragen.
Die Chefs von CDU (Friedrich Merz) und CSU (Alexander Dobrindt) eröffneten den Kampf um die Deutungshoheit, durchaus triumphierend. Immerhin hatte die Union in Karlsruhe gegen die Haushaltstricksereien der Ampel geklagt – und zwar erfolgreich. Kurz darauf folgte Christian Dürr von der FDP als erster Vertreter einer Ampel-Fraktion. Fragen ließ er keine zu, wie auch die Koalitionsspitzen im Kanzleramt. Was sollte er auch sagen? Noch fehlten Antworten auf viele Fragen.
An diesem Tag habe ich hektische Regierende erlebt, die praktisch keine Ahnung hatten, wie es weitergehen soll. Bin mit ihnen durch einen Tag gerauscht, an dem nichts normal war, noch weniger als sonst. Das Chaos-Protokoll lesen Sie hier. Wird es eine Ausnahme bleiben?
+++ 22. November: Ampel verschiebt Beschluss des Haushalts 2024 +++ 30. November: Die Ampel findet keinen Weg aus der Haushaltskrise +++ 3. Dezember: Robert Habeck sagt Reise zur Klimakonferenz COP 28 ab +++ 13. Dezember: Ampel-Koalition kommt nach Nachtsitzung zu Einigung +++ 18. Dezember: Der Sparplan der Ampel gerät ins Wanken +++
Das kann ja was werden nächstes Jahr.