Mannheim, noch 51 Tage bis zur EU-Osterweiterung: Im Kongresscenter Rosengarten windet sich eine Menschenschlange durch das Foyer bis zur Empfangstheke. Die Wartenden - deutsche Manager, die zum Beratungstag "Go Global" angereist sind - werden mürrisch. Es ist 9.20 Uhr, der erste Workshop "Osteuropa" läuft bereits. "Wenn ich nicht heut noch erfahre, wie ich nach Tschechien komme, kann ich meinen Laden dichtmachen", fürchtet ein schwäbischer Werkzeugbauer. Sein Nachbar lacht gequält.
Die Tagung ist ausgebucht. Der Veranstalter, die örtliche Industrie- und Handelskammer, musste die gebundene Teilnehmerliste um zehn lose DIN-A4-Seiten ergänzen. Vertreter namhafter und unbekannter Firmen füllen das Auditorium: Der Nudelfabrikant Birkel interessiert sich für Polen, Ungarn und Spanien, die Karlsberg Brauerei für China, Bulgarien, Israel und Rumänien, der kleine Maschinenbauer Steinsberg Formnormalien für Russland, Tschechien und die Slowakei.
Auch André Bresch ist gekommen. Er entwickelt in Heidelberg Software. Noch. Denn die Existenz seiner Firma ist akut gefährdet, seit viele Konkurrenten ihre Produkte in Niedriglohnländern fertigen lassen und sie billig auf den Markt werfen. In Mannheim will er herausfinden, ob er am besten selbst im Osten produziert. Sein Fachwissen allein, sagt er, wird Bresch Data Systems nicht retten.
Deutschland bewegt sich - gen Osten. Zu viel Lohn, Steuern und Staat: Die Bosse sagen Adieu. Und sie nehmen komplette Stahlwerke, Textilfabriken und Produktionsstraßen mit. Bei Siemens wird in diesen Tagen über die Verlagerung von bis zu 10.000 Jobs ins Billig-Ausland entschieden. In den postkommunistischen Staaten und in Asien finden die Manager vor, wonach sie in Deutschland vergebens suchen: ausgebildetes Personal, niedrige Löhne, hungrige Märkte und jede Menge unternehmerische Freiheit. "Uns geht nicht die Arbeit aus, sie läuft uns weg", sagt Alexander Spermann, Arbeitsmarktexperte am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim.
Dieser Lauf avanciert zum Volkssport. Denn jetzt packen nicht mehr nur Konzerne, sondern auch kleine und mittelständische Unternehmen die Umzugskartons. Die einst bodenständigen Firmen, die fast 70 Prozent der Arbeits- und 80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen, nehmen Abschied von der Heimat. Die Globalisierung drückt und lockt zugleich, die EU-Osterweiterung eröffnet Chancen. Glaubt man Verbandsumfragen, ist jeder zweite Maschinenbauer und jede dritte Firma der Metall- und Elektroindustrie auf dem Sprung.
"Es ist unglaublich, was da abgeht", sagt Christian Rödl, Mitgeschäftsführer der Nürnberger Firma Rödl & Partner. "Wir erleben gerade die Deindustrialisierung Deutschlands." Die Franken zählen mit weltweit 67 Dependancen zu den führenden Beratungsgesellschaften für kleine und mittelständische Unternehmen. Allein für China-Interessenten haben sie eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, um den Ansturm zu bewältigen. "Viele Betriebe", sagt Rödl, "stehen vor der Alternative: auslagern oder Pleite gehen."
Wie sich diese Entwicklung auf den deutschen Arbeitsmarkt auswirkt, hat Dalia Marin, Professorin am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität München, erforscht. Ihre Ergebnisse, die dem stern exklusiv vorliegen, stellen Stammtischweisheiten auf den Kopf.
Erstens:
Bisher war alles nicht so schlimm. In den 14 Jahren seit dem Zusammenbruch des Ostblocks verloren 90.000 Arbeitnehmer in Deutschland ihre Jobs, weil die Arbeit jenseits der Grenze billiger angeboten wurde - nicht viele angesichts 4,6 Millionen Arbeitsloser.
Zweitens: Von den 460.000 Arbeitsplätzen, die deutsche Firmen in Osteuropa geschaffen haben, sind die wenigsten einfache Handlanger-Jobs. Es werden vielmehr anspruchsvolle, Know-how-trächtige Aufgaben transferiert. Die Folge fasst Wirtschaftswissenschaftlerin Marin in einem Satz zusammen, der den Abstieg der Bundesrepublik Deutschland so beschreibt: "Wenn die hochqualifizierte Wertschöpfung im Ausland stattfindet, verliert Deutschland langfristig seine Wachstumschancen und damit die Aussicht auf neue Beschäftigung." Die Ökonomin hat auch herausgefunden, weshalb nun auch die anspruchsvolle Arbeit rübermacht: Ein osteuropäischer Mitarbeiter bekommt im Durchschnitt nur 23 Prozent des deutschen Lohns, erzielt aber auch nur 23 Prozent der Produktivität. Wird er allerdings mit deutschem Fachwissen gefüttert, steigt seine Produktivität bis auf 65 Prozent - bei gleich niedrigem Lohnniveau. Und schon wird das Ost-Engagement höchst profitabel.
Emsdetten, im März 2004.
Im Industriegebiet der münsterländischen Stadt verpacken Mitarbeiter der Firma Agtos Werkzeugteile für den Transport nach Polen. Im dortigen Tochterbetrieb fabrizieren 50 Kollegen Anlagen für die Oberflächenbestrahlung von Metallen, die in Emsdetten konstruiert werden. Polnische Schlosser, Mechatroniker, Zeichner - alle bestens ausgebildet, zudem geschult und voll bei der Sache. "Die Produktivität ist in Polen genauso hoch wie in Deutschland", sagt Agtos-Geschäftsführer Antonius Heitmann. Deutsche Maßarbeit, angefertigt im 800 Kilometer entfernten Konin - ein Befund, den Forscherin Marin auch in vielen anderen Firmen beobachtet hat.
Als die sechs Agtos-Gründer, alle um die 40, die Firma vor drei Jahren gründeten, war ihnen klar: Ohne den Osten haben wir keine Chance - weder beim Preis noch beim Personal. Marketingchef Ulf Kapitza beschreibt seine Erfahrung bei der Suche nach Personal so: "Es ist in unserer Gesellschaft offenbar verpönt, einen Blaumann zu tragen." Manche der 25 deutschen Mitarbeiter und viele Bewerber seien nur aufs Geld scharf. "Wo", fragt Kapitza, "sind Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit geblieben, die einmal für Made in Germany standen?" In Polen hat er diese "deutschen Tugenden" gefunden.
Deutschland verflacht - darin sieht Forscherin Marin die wahre Wurzel der Beschäftigungsmisere: "Es mangelt nicht nur an Qualität der Bildung, sondern auch an Quantität." Ob bei der Schulbildung, dem Hochschulniveau oder der Patententwicklung: Überall ist der Reform- und Aufholbedarf riesengroß. Meinhard Miegel, Chef des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn (IWG), fordert deshalb: "Wir müssen runter vom hohen Ross! Die Zeiten, in denen wir Spitze waren, sind vorüber. Hunderte von Millionen Erwerbstätige sind heute weltweit mindestens so gut wie wir - das aber zum halben Preis". Den Niedergang bekommt nicht nur die deutsche IT-Industrie zu spüren. Vielmehr verlieren sämtliche Wissensarbeiter die bisher selbstverständliche Aussicht, ihren Beruf im Inland ausüben zu können - ob Ingenieure, Konstrukteure oder Zeichner, Marketingexperten oder Buchhalter, Ärzte oder Architekten, Forscher oder Entwickler. Das US-Institut Forrester Research schätzt, dass bis 2015 mindestens 1,1 Millionen solch attraktiver Jobs in Deutschland verschwinden werden. Mit beängstigenden Folgen. So drohen mit dem Stellenabbau 25 Millionen Quadratmeter Bürofläche zu verwaisen - Tausende Immobilienmakler, Handwerksfirmen, Möbelhersteller und Putzkolonnen verlören ihre Geschäftsgrundlage. Die gesamte Volkswirtschaft würde in eine Abwärtsspirale trudeln, mit noch mehr Arbeitslosen und noch weniger Hoffnung auf Besserung.
Nach Berechnungen des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung haben deutsche Industrieunternehmen seit 1995 zwei Drittel ihres Produktionszuwachses in der Fremde erzielt.
Beispiel Telekom: Das Unternehmen hatte vor neun Jahren 213.500 Mitarbeiter, allesamt in Deutschland. Heute sind es 256.000 - und fast jeder Dritte schafft im Ausland.
Beispiel Daimler-Chrysler: Hier stieg der Anteil der im Ausland Beschäftigten seit 1995 von 23 auf 49 Prozent. So bleibt ein immer geringerer Teil der Löhne, Gewinne und Steuern, die für deutsche Produkte und Dienstleistungen anfallen, im Inland. Die Deutschland AG mutiert zur magersüchtigen Holding.
Beispiel Medion: Der umsatzstärkste deutsche Hersteller für Unterhaltungs- und Computertechnik betreibt nicht eine einzige eigene inländische Produktionsstätte.
"Wir erleben einen radikalen Strukturumbruch", sagt Professor Thomas Bauer, Vorstand des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI). "Die Formel Wirtschaftswachstum gleich Beschäftigungswachstum funktioniert nicht mehr." Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Ableger der Bundesagentur für Arbeit, geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft bis 2015 im Jahresdurchschnitt um nicht einmal zwei Prozent wächst.
Neue Jobs: Fehlanzeige - weil das Wachstum fast vollständig von Produktivitätssteigerungen aufgezehrt wird. Für Ostdeutschland sehen die Forscher beim IAB "keinen Silberstreif am Horizont".
Nach Ansicht von Hans Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts in München, blieben selbst bei einem Superboom etwa vier Millionen Deutsche ohne Arbeit: "Die Arbeitslosigkeit folgt im Westen einem linear ansteigenden Trend, dessen Ende überhaupt nicht in Sicht ist. Wenn man den Osten hinzunimmt, ist der Trend sogar progressiv nach oben gerichtet." Für Ifo-Chef Sinn ist Deutschland längst "der kranke Mann Europas".
Heilbronn, im Februar 2004.
Im alten Arbeitsamt nimmt Gerhard Schröder ein Bad in der Menge. Der Bundeskanzler hat die Behörde im Rahmen der Agenda 2010 zur ersten Modellagentur aufbrezeln lassen und feiert sie als Meilenstein des Hartzschen Reformprozesses. Arbeitslose heißen nun Kunden. Eine schicke Empfangstheke, Blumenschmuck, eine Telefon-Hotline, mehr Vermittler - auch so sollen bis 2005 alle 180 deutschen Arbeitsagenturen Optimismus verbreiten.
"Das Kundenzentrum überzeugt", befindet Schröder knapp. Hartzer Käse - als hätte Deutschland ein Vermittlungsproblem. Hier über vier Millionen Deutsche, die Arbeit suchen, dort 1,5 Millionen offene Stellen, sämtliche Kleinanzeigen eingerechnet.
Das Jobdesaster kommt keineswegs überraschend
und ist kein deutsches Problem; in den USA etwa füllt die Furcht vor "jobless growth" (Wachstum ohne neue Jobs) derzeit die Schlagzeilen. Schon zu Zeiten des Wirtschaftswunders war klar, dass immer weniger Hände und Köpfe gebraucht werden, je mehr Maschinen zum Einsatz kommen. Seit 1950 ist das Arbeitsvolumen, also die Summe aller geleisteten Arbeitsstunden, in Westdeutschland um ein Drittel zurückgegangen - obwohl sich das Bruttoinlandsprodukt mehr als verfünffacht hat.
Anfangs ließ sich der Schwund durch Arbeitszeitverkürzung, mehr Urlaub und verstärkte Teilzeitarbeit kaschieren. Doch seit den 70er Jahren, als Roboter die Betriebe eroberten und zugleich Kapital, Arbeit und Wissen ihre Wanderschaft um den Globus begannen, schaukelte sich die Sockelarbeitslosigkeit Million um Million auf.
Zudem wurden die Deutschen knickerig. Maler, Gärtner, Putzfrauen und andere Dienstleister wollte niemand mehr bezahlen. Do it yourself wurde zur Tugend, Geiz wurde geil. Heute werden 40 Prozent der inländischen Wertschöpfung durch Eigen- und Schwarzarbeit erbracht, also ohne einen einzigen sozialpflichtigen Job zu schaffen.
Dass der Bürocomputer und die Vernetzung der Welt den Jobschwund in den Industrienationen noch einmal beschleunigen würden, war ebenfalls absehbar. Im September 1995 trafen sich 500 führende Politiker und Wirtschaftsmagnaten zu Ehren des Sowjet-Beerdigers Michail Gorbatschow im exquisiten Fairmont-Hotel von San Francisco, um über die Zukunft der Ökonomie im digitalen Zeitalter zu diskutieren. Die Visionen des elitären Kreises fokussierten in zwei Begriffen: "20:80" und "Tittytainment". 20 Prozent der arbeitsfähigen Menschen werden künftig ausreichen, um die gesamte Weltwirtschaft zu betreiben. Der Rest müssen ausreichend ernährt an staatlicher Brust ("Tittys"), mit betäubender Unterhaltung ("Entertainment") bei Laune gehalten werden.
Varazdin, im April 2004.
In der kroatischen Industriestadt 80 Kilometer nördlich von Zagreb ziehen Bauarbeiter eine neue Fabrikhalle hoch. Bauherr ist die Firma BHS Corrugated aus dem bayerischen Städtchen Weihenhammer. Ein Kleinod deutschen Unternehmertums: 280 Jahre Tradition, mittelständisch, Weltmarktführer für Wellpappemaschinen. 200 Kroaten sollen bald hier arbeiten. Und zwar nicht nur billige Malocher, sondern auch gut ausgebildete Ingenieure, die neue Maschinen konstruieren. Varaždin, ein Unternehmerparadies - Geschäftsführer Christian Engel ist begeistert: "Die kroatische Regierung hat unser 50.000 Quadratmeter großes Gelände zur Freihandelszone erklärt."
Unorthodox, schnell und unbürokratisch - mit einer rigorosen Standortpolitik saugen östliche Politiker westliche Unternehmen förmlich ab. Der slowakische Finanzminister Ivan Miklos, Absolvent der London School of Economics and Political Science, hat sämtliche Steuern auf 19 Prozent gesenkt. Das ergibt im Durchschnitt 20 Prozentpunkte weniger Unternehmenssteuern als in Deutschland. Dem hat sein deutscher Amtskollege, der gelernte Studienrat Hans Eichel, nichts entgegenzusetzen. Die Slowakei zählt inzwischen zu den beliebtesten Zielen deutscher Mittelständler.
Verlockend für die Firmenbosse ist auch die hohe Zahl an Hochschulabsolventen von Prag bis Peking. Als sich in den 90er Jahren die Ostmärkte öffneten und die digitale Revolution die Welt eroberte, witterten der Nahe und Ferne Osten ihre Chancen. In Deutschland dagegen verlangsamte sich der Aufbau von Bildungskapital. "Die Anzahl neuer Hochschulabsolventen ging in den 90er Jahren um zwei Drittel zurück", sagt Forscherin Marin - trotz steigender Nachfrage. Auch die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) schrumpfen seit den 80er Jahren kontinuierlich.
Nach Angaben des World Economic Forum gibt es in Deutschland zu wenig Wissenschaftler und Ingenieure, gemessen am Bedarf. Die Bundesrepublik liegt nur noch auf Platz 20 der Weltrangliste; an der Spitze stehen Israel, Indien und die Slowakei. Gemessen an der Qualität der naturwissenschaftlichen und mathematischen Ausbildung, rangiert das Land der Dichter und Denker sogar auf Platz 47 - noch hinter Costa Rica. Kein Wunder, dass Siemens, der Vordenker der deutschen Industrie, bald ein Drittel seiner Softwareentwicklung nach Russland, Indien oder China auslagern will.
Frankfurt Flughafen, im März 2004.
Für Stefan Utzinger, 39, ist Deutschlands größte Verkehrsdrehscheibe ein zweites Zuhause. In den Hotel-Lounges des Airports wickelt der Chef der kleinen Firma Mounting Markets einen Großteil seiner Geschäfte ab. Bits und Bytes sind sein Leben. Schon als Gymnasiast schrieb er auf seinem Sinclair-Rechner ein Programm, um das komplizierte Punktesystem der Oberstufe zu verwalten.
1992 gründete der Wirtschaftsinformatiker die Frankfurter Softwareschmiede Conceptware. Er hatte gelesen, dass in Indien hervorragende Programmierer auf Aufträge warteten. Das wollte er gewinnbringend nutzen. Also wandte er sich an den indischen Software-Verband Nascom und bekam zahlreiche Adressen von indischen Spezialisten. "Wertschöpfung", sagt Utzinger, "wird doch künftig nicht mehr durch die nationale Entwicklung, Produktion und den Vertrieb von Produkten erbracht, sondern durch die intelligente Verknüpfung der besten Ressourcen in der ganzen Welt."
Das sehen Osteuropäer oder Chinesen ähnlich. Während Kanzler Schröder noch Aufrufe zur Jobverlagerung als "unpatriotischen Akt" geißelt, rücken Manager der Niedriglohnländer in Deutschland ein. Die Marke Grundig wurde von dem türkisch-britischen Konsortium Beko/Alba gekauft, die Türkheimer Schneider Rundfunkwerke vom chinesischen Elektronikkonzern TCL. In beiden Fällen kamen die Retter nicht, um zu produzieren, sondern um die Ressourcen der Traditionshäuser abzuschöpfen.
Auch indische Manager sind auf Shopping-Tour, allen voran börsennotierte Dienstleister wie Wipro oder Tata Consultancy. Schritt für Schritt kaufen sie in Deutschland kleine Softwarehäuser auf. Die Inder machen nicht bei IT-Betrieben Halt. So rettete der Schmiedekonzern Bharat Forge Ltd. jüngst den Automobilzulieferer Carl Dan. Peddinghaus aus dem sauerländischen Ennepetal vor der Insolvenz.
Einer von Utzingers Kunden ist Alexander Egorow, Chef der St. Petersburger Softwarefirma Reksoft und Vorsitzender des Verbandes der russischen Software-Ingenieure. Der smarte Kapitalist tingelt durch die Bundesrepublik, um für Russland zu werben. Dort sollen deutsche Firmen eine neue Heimat finden, wenn auch in den EU-Beitrittsländern die Löhne zu hoch sind für den globalen Preiskampf.
So schwappt eine Globalisierungswelle nach der anderen über Deutschland hinweg
. Sie reißt Arbeitsplätze mit, die sich nicht halten lassen, spült Wettbewerber an, die sich früher, als Volkswirtschaften noch geschlossener agierten, aussperren ließen. Und die Bürger? Die Staatsmänner? Die Gewerkschafter? Sie träumen von besseren Zeiten, anstatt zu handeln. Heiner Ganssmann, Soziologe an der Freien Universität Berlin, sagt: "Seit den 80er Jahren sind die Politiker bewegungsunfähig, weil sie in einer Entscheidungsfalle stecken: entweder neoliberalen Ratschlägen folgen oder die nächste Wahl gewinnen."
Deutschland: No Future? Oder kommen wir raus aus dem Jobdilemma? IWG-Chef Meinhard Miegel glaubt den Königsweg zu kennen: runter mit den Löhnen und dann mit Dampf zurück zu alter Klasse, um wieder Vorsprung zu gewinnen. Eine Generation lang, schätzt er, wird dieser Prozess dauern. Mindestens. Professorin Marin fordert deshalb, die Grenzen zu öffnen, um das hohe Potenzial ausländischer Fachkräfte für die Selbstheilung umgehend zu nutzen. Den Widerstand der unionsregierten Länder gegen das Einwanderungsgesetz hält sie für anachronistisch. "Seit Jahren läuft die Diskussion in Deutschland völlig falsch", sagt Marin. "Erst jetzt beginnt man langsam, die Bedeutung von Bildung zu begreifen."
Coburg, im März 2003. Michael Stoschek, Chef des Autozulieferers Brose und passionierter Rallyefahrer, ist ein harter Kerl. Jeden Tag hält der 57-Jährige seinen Mitarbeitern vor Augen, wie gnadenlos der Weltmarkt funktioniert. Aber vor allem: wie man von diesem Zustand profitiert. Von sich selbst und der Belegschaft verlangt er alles. Er ist nicht zu beneiden. Jedes Jahr drücken die Autohersteller den Preis seiner Produkte um drei Prozent.
An diesem sonnigen Vorfrühlingstag sitzt er im Showroom seines Familienbetriebs, dem Weltmarktführer für Fensterheber, Türsysteme und Sitzverstellungen, und schwärmt vom Management des Fußballrekordmeisters Bayern München. "Der Verein ist deshalb so stark, weil intern ein absolut harter Wettbewerb besteht." So mag es Stoschek, denn so funktioniert auch sein Betrieb. Der Erfolg zählt, sonst nichts. Sämtliche 30 Standorte, verteilt in aller Welt, stehen in ständigem Wettbewerb gegeneinander.
Überstunden werden nicht bezahlt, sondern Leistung. Niemand hat einen festen Schreibtisch oder Arbeitsplatz, sondern nur einen mobilen Rollcontainer. Den schiebt er, je nach Projektphase, jeden Morgen an einen anderen Arbeitsplatz. Ein Computerprogramm entscheidet, wo der Mitarbeiter am effizientesten eingesetzt werden kann. Das Mobiliar ist nirgendwo höher als 1,20 Meter, damit sich niemand dahinter verstecken kann. Vor zwei Jahren hat Stoschek sogar eine Fußball-WM unter den Standorten veranstaltet, um den Sinn fürs Globale zu schärfen.
Diskussionen über Lohnstückkosten langweilen ihn. "Wir werden unsere Wettbewerber nicht allein durch niedrigere Kosten schlagen, sondern müssen mit Spitzentechnik und -qualität unsere Führungsposition behaupten", sagt er. Um Osteuropa kommt er trotz allem nicht herum. Auch Brose ist dort. Weil VW und Porsche dort sind. Brose produziert in Bratislava Türsysteme für den VW Touareg und den Porsche Cayenne. 2200 Stück am Tag, just in time. Sicherlich hätte auch Coburg den Auftrag übernehmen können. Aber die Nähe zum Kunden, die zuverlässigen Slowaken und Löhne von 38 Prozent des deutschen Niveaus bei 90 Prozent der deutschen Produktivität waren unschlagbar. "Der Standort hat nur Vorteile", behauptet Broses Werksleiter Jan Francke, 34. Wie gut die Kollegen dort sind, das soll künftig nicht nur die Produktion spüren. Im tschechischen Ostrava lässt Geschäftsführer Stoschek gerade ein neues Werk hochziehen - erstmals mit eigener Entwicklungsabteilung.
Das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Für Broses Mitarbeiter ist die Dauer-Power offenbar inspirierend. "Seit die Überstundenbezahlung abgeschafft worden ist, stieg die Anwesenheit um 42 Minuten, und die Fluktuation sank von 5,9 auf 1,8 Prozent", sagt Stoschek. Vor kurzem haben die Mitarbeiter Brose in einer Umfrage des Wirtschaftsmagazins "Capital" zu einem der besten deutschen Arbeitgeber gekürt.
Bei Brose wird nicht gejammert, sondern gehandelt. Auch so könnte Deutschland sein. In den letzten 50 Jahren hat die Firma nicht eine betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen. Nach vielen Schlankheitskuren konnte Stoschek in den vergangenen Monaten sogar 230 neue Arbeitsplätze schaffen - alle in Deutschland.