Herr von Borcke, durch den zweiten Lockdown müssen die Kinos schließen - wieder einmal. Zu den Profiteuren zählten im Frühjahr die Streamingdienste. Wird sich nach der Pandemie, wann auch immer das sein wird, der Markt nachhaltig verändert haben oder geht es weitgehend zurück auf Los?
Die Kinos waren vor der Pandemie in einer relativ guten Verfassung. 2019 verzeichneten sie hierzulande mehr als eine Milliarde Euro Umsatz. 118,6 Millionen Tickets wurden verkauft - das ist sogar ein leicht wachsender Trend im Vergleich zu den Vorjahren. Das lag insbesondere an einigen Blockbuster Filmen wie dem Disney-Hit "Die Eiskönigin 2", der 6,7 Millionen Zuschauer lockte. Deshalb ist nicht zu befürchten, dass das Kino untergeht, wie einige vermuten.
Die Situation für die Betreiber ist dramatisch, sie sprechen von bis zu 75 Prozent Umsatzverlust.
Die Corona-Pandemie wird Umwälzungen beschleunigen. Ein Kino der alten Schule anzubieten, wird in Zukunft nicht mehr reichen. Ein Besuch dort muss noch mehr zum Event werden: Die Sitze müssen bequemer, der Service besser werden. Viele Menschen haben gemerkt, dass das Leihen eines Filmes zuhause eine kostengünstige Alternative zum teuren Kinobesuch sein kann. Deshalb wird das Drumherum um den eigentlichen Film wichtiger.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Die meisten Kinos machen mit gerade einmal zehn Filmen die Hälfte des Jahresumsatzes. Sie sind abhängiger denn je von den Studios.
Die großen Hollywood-Studios versuchen ein- bis zweimal im Jahr einen Mega-Blockbuster herauszubringen, der zwar Produktionskosten von 150 bis 250 Millionen Dollar hat, diese aber um ein Vielfaches wieder einspielt und damit mögliche Verluste anderer Filme kompensiert. In der Branche nennt man das "Tentpole"-Strategie. Ein solcher Film soll wie eine Zeltstange eine stützende Funktion für die Produktionsgesellschaft haben.

ist Professor für digitale Wirtschaft und Leiter der Media School an der Hochschule Fresenius in Hamburg
Die geschlossenen Kinos wirken sich also direkt auf die Filmindustrie aus.
Durch die unsichere Lage sind die Studios gezwungen, andere Strategien zu verfolgen. Eine davon lautet, neue Abnehmer bei den Streamingdiensten zu finden. Das sind in erster Linie die großen, finanzstarken Konzerne wie Netflix, Amazon, Disney, Apple und HBO. Die Studios wissen, dass die Dienste permanent Nachschub brauchen, schließlich stocken viele Produktionen wegen Covid-19. Amazon hat sich deshalb die Exklusivrechte des zweiten "Borat"-Films für 80 Millionen Dollar gesichert.
Um die hereinzubekommen, muss man viele Neukunden gewinnen. Sind solche Summen noch vernünftig?
Das ist extrem viel Geld. Aber eine solche Summe reicht nicht für Mega-Blockbuster. Wenn der Film 200 Millionen Dollar in der Produktion gekostet hat, verschleudert man den nicht für 80 Millionen an einen Streamingdienst. Deshalb zögern einige Studios auch, wie man beim neuen "James Bond"-Film sieht. Mit kolportieren circa 250 Millionen Dollar Produktionskosten ist es der bislang teuerste 007-Einsatz.
Der Agentenstreifen wurde aufgrund der Pandemie mehrfach verschoben, das Studio verlangt Medienberichten zufolge 600 Millionen US-Dollar. Am Ende sollen sich Netflix und Apple aus den Verhandlungen ausgeklinkt haben. Ist das Studio zu gierig, hätten nicht auch 300 Millionen gereicht?
300 Millionen Dollar hätten vielleicht genügt, um die Kosten zu decken, bestenfalls wäre noch ein kleiner Gewinn hängen geblieben. Aber ein Studio denkt anders. Der Filmstart wurde nun erst einmal auf das Frühjahr 2021 verschoben. Denn in einer Welt ohne Pandemie knackt ein Bond-Film sicherlich die Milliarden-Dollar-Marke.
Das ist natürlich verlockend.
Und eine schwierige Abwägungssache für die Studios: Nimmt man lieber jetzt einen kleinen Gewinn und hat das Geld in der Kasse für neue Produktionen oder pokert man, wie lange man den Start noch herauszögern kann, um dann einen weit höheren Gewinn zu erzielen.
Warum ist ein James-Bond-Film jetzt mehr wert als nächstes Jahr?
Weil jetzt die Aufmerksamkeit am größten ist. Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie, alle Trailer und Werbemaßnahmen sind gelaufen. Alle wissen, dass es den Film geben wird - und nun will man ihn sehen. Dieser Effekt lässt sich nicht endlos strecken. Denn nächstes Jahr gibt es schon wieder etwas Neues.

Aber um noch einmal auf die großen Summen zurückzukommen: Wie rechnet sich ein Film für viele Millionen Dollar überhaupt für die Streamingkonzerne?
Die Streaminganbieter brauchen große Blockbuster, um neue Kunden zu gewinnen. Netflix etwa weiß, wie lange ein Abonnent im Schnitt bei der Stange bleibt, und kann daraus den durchschnittlichen Kundenwert errechnen. Bei Amazon sieht die Rechnung wieder anders aus. Der Konzern hat sich etwa die teuren Rechte für "Herr der Ringe" gesichert und produziert daraus eine Serie. Das Unternehmen weiß jedoch, dass ein Amazon-Prime-Kunde im Schnitt mehr shoppt, das Geld wird also hier auch über Umwege wieder verdient.
Wenn Studios einen Film an einen Streamingkonzern verkaufen, ist das jedes Mal auch eine kleine Niederlage für die klassischen Kinobetreiber.
Corona legt in allen Bereichen die Probleme mit der Digitalisierung offen - das sehen wir bei Unternehmen, Schulen und eben auch bei Kinos. Die Studios nutzen die Situation auch ein Stück weit, um die Muskeln gegenüber den Kinos spielen zu lassen. Sie sind in der bequemen Situation, sich aussuchen zu können, welche Verwertung für sie am besten ist. Die großen Medienkonzerne wie Disney oder Sony profitieren davon am meisten. Sie können den Filmstart wunderbar auf ihre anderen Medienprodukte abstimmen, also Games, Spielzeug, Themenparks. Hier wird alles integriert aus einer Hand geplant und aufeinander abgestimmt.
Das Stichwort lautet vertikale Integration. Hollywood ist vor knapp 100 Jahren groß geworden durch eine Pandemie, die Spanische Grippe. Jetzt bringt das Coronavirus Hollywood an seine Grenzen. Werden Netflix, Amazon und Apple zu den nächsten Paramounts?
In der Filmindustrie vollzieht sich die gleiche Entwicklung wie in der digitalen Wirtschaft generell, der Trend geht zu Oligopolen oder gar Quasi-Monopolen. Denn große, breit aufgestellte Konzerne profitieren von Skalen- und Netzeffekten. Produziert Amazon einen Film, gewinnt der Konzern damit zahlende Neukunden und befeuert gleichzeitig sein E-Commerce-Geschäft und das eigene Cloud-Business. Wir können eine Konzentrationsentwicklung im Mediengeschäft beobachten, wie sie in den Zwanzigern in Hollywood schon einmal eingesetzt hatte.
Noch ist das Gegenteil zu beobachten, es starten immer mehr Dienste. Disney+ buhlt um die die Kinder, Sky lockt mit Sportübertragungen, deutschsprachige Dienste mit regionalen Inhalten. Wer soll denn all das abonnieren?
Man spricht hier auch von einer Atomisierung der Zielgruppen. Horrorfreunde abonnieren dann einen spezialisierten Dienst, Sport-Fans einen anderen. Doch irgendwann ist das Medienbudget ausgereizt, finanziell und zeitlich. Wer fünf Stunden am Tag in sozialen Netzwerken verbringt, hat kaum noch Zeit für andere Produkte. Die Mediennutzung verlagert sich, vor allem bei der jüngeren Generation.
Um für jüngere Nutzer attraktiv zu sein, änderte Netflix radikal unsere Sehgewohnheiten. Statt jede Woche auf eine neue Serien-Episode zu warten, wie es jahrzehntelang Standard war, wurden alle auf einen Schlag veröffentlicht. Nun wechseln Konkurrenten wie Disney+ und Apple TV+ zurück zum wöchentlichen Zyklus. Was steckt dahinter?
Die Leute sind überfordert angesichts der Vielfalt und sehnen sich nach Reduktion und Orientierung. Netflix startet nun sogar ein lineares Fernseh-Programm.
Und erhöhte zuletzt im Ausland die Preise - wieder einmal. Denn trotz annähernd 200 Millionen zahlender Kunden hat das Unternehmen 17 Milliarden US-Dollar Schulden angehäuft. Vermutlich geht es den anderen Diensten nicht anders, kaum einer dürfte wirklich Gewinn machen.
Viele digitalen Medienkonzerne fahren die bewährte Freemium-Strategie. Das heißt, man versucht erst einmal eine Masse an Nutzern zu gewinnen. Dann versucht man mit Werbung und Einschränkungen das kostenlose Angebot unattraktiver zu machen, wie es etwa bei Spotify der Fall ist. Und schließlich versucht man die Kunden in das kostenpflichtige Premium Angebot zu bewegen und kontinuierlich die Preise zu erhöhen.
Sie sind also der Meinung, dass Ende der Fahnenstange bei den Preisen ist noch nicht erreicht?
Es wird weiterhin einen Kampf um die Top-Inhalte geben, das ist klar. Die Nachfrage wächst schneller als das Angebot: Alle wollen die besten Filme, Serien und Dokumentationen, doch nur einer kann sie haben. Und das wird sich über kurz oder lang in den Preisen niederschlagen. Wie das refinanziert wird, ist die spannende Frage. Da sind wie bereits erwähnt die Großen im Vorteil. Amazon hat eine Shopping-Plattform, Disney das Merchandise, Apple verdient sein Geld mit den Geräten. Für Netflix ist der Handlungsspielraum derzeit jedoch beschränkt.
Netflix muss also weitere Einnahmequellen erschließen.
Das stimmt. Netflix hat jedoch einen wichtigen Vorteil - den digitalen Kundenzugang in fast 200 Millionen Wohnzimmer weltweit. Das ist hochattraktiv für Filmstudios und Werbepartner. Netflix weiß sogar, was den jeweiligen Kunden interessiert, weil sie jeden Stream auswerten. Das ermöglicht dem Unternehmen enorme Wachstumsmöglichkeiten in verschiedene Bereiche. Preiserhöhungen sind nur eine Möglichkeit. Wer weiß, vielleicht geht Netflix in Richtung "Shoppable Entertainment" und man kann zukünftig Produkte direkt aus seiner Lieblingsserie oder Film ordern. Bei allen wirtschaftlichen Überlegungen würde ich mir wünschen, dass die Faszination Film und Kino als Kultur- und Gemeinschaftsort auch zukünftig erhalten bleibt.