Ukraine-Krise Angriff durch die Tschernobyl-Zone – was die Belarus-Option für Putin bedeutet

Rund um die Ukraine halten russische Streitkräfte Manöver ab.
Rund um die Ukraine halten russische Streitkräfte Manöver ab.
© Erik Romanenko/ / Picture Alliance
Die ganze Welt blickt auf die Ukraine, fast unbemerkt sichert sich Putin Belarus als militärischen Aufmarschraum. So bedroht er Kiew und verschiebt das militärische Kräfteverhältnis in ganz Osteuropa zu seinen Gunsten.

Ob der Kreml-Chef ernsthaft eine Invasion der Ukraine erwägt, kann derzeit niemand sagen. Denn auch ohne Angriff hat Russland schon einen wichtigen Sieg in Belarus erreicht. Sicher ist, dass die um die Ukraine herum massierten Truppen von etwa 100.000 Mann dafür nicht ausreichen würden. Sie bilden aber eine solide Basis für einen weiteren Truppenaufbau, um auf die nötigen etwa 200.000 Mann zu kommen.

Desert-Storm im Osten

Bei einer Full-Scale-Invasion würde man einen Krieg wie beim Desert-Storm im Irak erleben. Die überlegene russische Luftwaffe und die Raketen Moskaus würden die Führung des Gegners enthaupten und gleichzeitig die Luftwaffe und die Luftverteidigung Kiews zerstören. Rob Lee vom Foreign Policy Research Institute unterhält einen der informativsten Twitteraccounts zur Ukraine-Krise. Er sagt: "Russland ist in der Lage, die ukrainischen Militäreinheiten mit Waffen wie den ballistischen Iskander-Raketen aus der Ferne zu vernichten. Wir sehen fast nie, dass moderne Waffen wie diese zum Einsatz kommen; sie geben Russland die Möglichkeit, täglich Tausende von Opfern zu verursachen." Anschließend würden die schutzlosen Bodentruppen durch Bombenangriffe dezimiert. Bevor ein Panzer rollt, wäre der Krieg schon entschieden. Für einen Einmarsch könnte der Kreml die Angriffsrouten und das Timing frei wählen, da fast die ganze Ukraine umstellt ist.

Umzingelung durch Belarus

Zentrale Bedeutung im Aufmarschplan kommt Belarus zu. Von der Öffentlichkeit im Westen fast unbemerkt ist das Land im Windschatten der Ukraine-Krise vollständig unter Russlands Einfluss geraten. Lange Jahre hat der Diktator Lukaschenko mit zum Teil unberechenbaren Entscheidungen einen Kurs zwischen der EU und Russland gefahren. Er wollte sich vom Westen nicht auf ein demokratisches System verpflichten lassen, aber auch nicht zur West-Provinz in Putins Reich herabsinken. Also erkannte er die Annexion der Krim nicht an und ließ Russlands Wünsche nach Militärstützpunkten in endlosen Verhandlungen versacken.

Der Preis des Überlebens

Doch nach dem Niederschlagen der Demokratiebewegung und den folgenden Sanktionen gegen Minsk haben sich die Koordinaten verschoben. Ohne den Rückhalt des "Großen Bruders" in Moskau wäre das Regime in Minsk vermutlich schon entthront. Lukaschenko braucht Putin, um an der Macht zu bleiben, und der hält ihn dort. Im Westen dachte viele vielleicht, dass die Tage von Lukaschenko gezählt sind und die Demokratiebewegung danach von allein an die Macht käme. Inzwischen sieht es so aus, als würde Putin oder eine Marionette des Kreml den Diktator irgendwann beerben. "Putin Umarmung fürs Überleben ist nicht umsonst. Zu den Kosten von Putins Rettungspaket gehört, dass Weißrussland zu einer Plattform für das russische Militär wird", sagt Brian Whitmore Professor, University of Texas-Arlington und Fellow am Nato-nahen Atlantic Council.

Während Russland lauthals darüber klagt, dass sich Nato und USA an die russischen Grenzen heranpirschen, ist fast unbemerkt etwas ganz anderes geschehen: Moskau militärische Einflusssphäre hat sich durch Belarus weit nach Westen verschoben. Was das bedeutet, zeigte sich schon vor Wochen, als weitreichende Luftverteidigungssysteme aus dem Fernen Osten nach Belarus gebracht wurden. So sind die russischen S-400 Batterien in der Lage, fast den kompletten Luftraum über der Ukraine zu sperren.

Ukraine: Videos zeigen russische Truppenbewegungen
Ukraine: Videos zeigen russische Truppenbewegungen
© Tiktok
Panzer und Konvois – Social-Media-Videos zeigen russische Truppenbewegungen

Ein Nachmittag bis Kiew

Gleichzeitig haben die russischen Bodentruppen eine Abkürzung in die Hauptstadt Kiew bekommen. Solange der Boden gefroren bleibt, könnten die russischen Streitkräfte durch die Pripet-Sümpfe und das Gebiet von Tschernobyl durchstoßen und die Hauptstadt vom Westen abschneiden, auch ohne sie einzunehmen. In früheren Zeiten wären sowohl die Sümpfe wie auch die bewaldete Zone um Tschernobyl unüberwindliche Hindernisse für einen schnellen Vormarsch.

Heute sähe das anders aus: Motorisierte Verbände müssen urbanes oder auch nur locker bebautes Gelände fürchten, in der menschenleere Wildnis könnte man sehr viel schwerer Widerstand durch Infanterie mit Panzerabwehrwaffen leisten. Die schwache Radioaktivität in dem Gebiet wäre für durchbrechende Panzerverbände bedeutungslos. Von der Sperrzone führt eine Autobahn direkt nach Kiew. Im Falle eines von Luftstreitkräften abgeschirmten Überraschungsangriffs könnten Panzer die 200 Kilometer bis nach Kiew an einem Nachmittag zurücklegen. Wenn man möchte, kann man so eine Operation mit dem Vormarsch der deutschen Panzer durch die Ardennen 1940 vergleichen.

Noch reichen Putins Truppen in diesem Gebiet bei Weitem nicht aus, aber was wäre, wenn weißrussische Truppen sich an der Invasion beteiligen? Über 80.000 Soldaten beider Länder sind in der Nähe am Manöver "Gemeinsame Entschlossenheit 2022" beteiligt. Gleichzeitig könnten weitere Kräfte noch weiter westlich in Weißrussland, etwa vom Truppenübungsplatz Baranowitschi aus zum Angriff antreten. Für Kiew wäre eine russische Schwerpunktbildung so weit im Westen ein Albtraum. Die meisten kampfstarken Truppen erwarten einen Angriff im Osten oder von der Krim. Bei dem Szenario eines westlichen Angriffs müssten sie quer durch das Land verlegt werden. Ohne Luftherrschaft wäre das selbstmörderisch.

Ob es zu einer Invasion kommt? Vermutlich nicht, in so einem Fall müsste Moskau weitere motorisierte Verbände nach Belarus verlegen. Aber die bloße Möglichkeit setzt die Ukraine unter Druck, Russland hat das Land quasi von drei Seiten umstellt, dazu ist das russische Militär weit überlegen. Moskau kann seine Kräfte wie ein Schachspieler um die Ukraine herumbewegen, um immer neue Bedrohungsszenarien zu kreieren und so die ohnehin unterlegene Ukraine zwingen, die eigene Streitkräfte entlang der Grenzen zu verzetteln.

Gekommen, um zu bleiben  

Wahrscheinlich und zumindest ebenso bedrohlich ist es, dass die Militärpräsenz in Weißrussland nie wieder komplett verschwinden wird. "Die Veränderung des geopolitischen Status von Belarus in den letzten 18 Monaten stellt eine der dramatischsten Verschiebungen im Sicherheitskalkül in Osteuropa seit der rechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und vielleicht seit dem Ende des Kalten Krieges dar", formuliert Brian Whitmore. Belarus könnte in der Zukunft die Rolle der DDR im Kalten Krieg übernehmen, als Aufmarschraum für eine westliche Gruppierung der russischen Streitkräfte wie damals die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland.

In Belarus stationierte Raketenwaffen würden die westeuropäischen Hauptstädte bedrohen. Die weitrechenden russischen Luftabwehrsysteme zusammen mit Kampfjets würden "Russland die Luftüberlegenheit über die Ostflanke der Nato verschaffen", so Orysia Lutsevych, Mitarbeiterin des Thinktanks Chatham House, zum "Guardian".

Die Nabelschnur der baltischen Staaten, die kleine Landzunge "Suwalki Gap" zwischen der russischen Enklave Kaliningrad und Belarus, könnte jederzeit abgeklemmt werden. Der Kreml hätte seine Truppen 500 Kilometer weiter nach Westen verlagert. Von Brest bis nach Warschau sind es nur 200 Kilometer. Ganz ohne Krieg hätte Putin so die Kräfteverhältnisse in Osteuropa massiv verschoben.

Quellen: CSISAtlantic Council

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